2004
Max schloss die Tür zum Konzertsaal der Schule ab, in dem er an diesem Abend hatte üben dürfen. Es war ein völlig anderes Gefühl, an dem Ort zu spielen, an dem sie in der kommenden Woche vorspielen würden. Die Akustik war hier eine ganz andere. Er zog an seinen Fingern, die vom vielen Spielen leicht schmerzten. Doch er mochte das Gefühl. Und alles war unter Kontrolle. Am Mittwoch würde er sein großes Vorbild interpretieren, Glenn Gould, den kanadischen Pianisten. Wenn er es schaffte, sich nur ein Zehntel von dessen Können zu erarbeiten, wäre das schon großartig. Die Energie und die Leidenschaft hatte er bereits, doch das Spielerische und die Leichtigkeit, mit der Goulds Finger über die Tasten flogen, hatte er noch lange nicht erreicht. Max war immer noch jedes Mal sprachlos, wenn er sich Aufzeichnungen von seinen Konzerten ansah.
Eines immerhin hatte er gemeinsam mit seinem Idol, und das waren die Handschuhe. Auch Max ging ohne sie nirgendwohin. Sein Albtraum war, sich die Finger zu verkühlen, und wie immer steckte er die Hände in die Manteltaschen, um sich zu vergewissern, dass er sie dabeihatte.
Das Vorspiel des Musikzweigs war kein Wettbewerb, die Musiker konnten dort zeigen, wo sie standen, wer sie waren, und wo sie sich in Zukunft sahen. Und das also war er, das war sein Platz: Eine halbe Stunde allein auf einer Bühne, an einem schwarzen Yamaha-Flügel. Jetzt war er an der Reihe, es
allen zu zeigen, mit seiner Version der Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach.
Die meisten aus seinem Kurs hatten lieber Jazzstücke entwickelt, die sie in kleineren Ensembles vorführen wollten. Max bewegte sich gern zwischen verschiedenen Musikstilen und spielte auch mal Jazz oder Rock, seine Herzensangelegenheit jedoch war die klassische Musik. Schon als ganz kleines Kind hatte er sich in das Klavier verliebt, und seine Eltern hatten ihn stets unterstützt.
Max hob seine Tasche vom Boden auf. Sollte er den Lehrern von seinem Konflikt mit Björn erzählen oder es lieber auf sich beruhen lassen? Er konnte ja nichts dafür, dass Björn sich ebenfalls die Goldbergvariationen ausgesucht hatte. Jeder traf seine eigene Wahl. Björns Blick aber hatte sich verfinstert, als er von Max’ Auswahl erfuhr.
Manchmal tat Björn ihm beinahe leid. Er sah so einsam aus, wie er allein über das Schulgelände trottete. Und man merkte richtig, wie er litt, wenn er doch einmal mit anderen in einem Ensemble spielen musste. Er sollte einfach aufhören, dachte Max. Jemand müsste es ihm sagen. Er passte einfach nicht hierher.
Er selbst genoss jeden Tag der Musikerausbildung. Die Möglichkeit, so viel zu üben und so viele andere fähige Musiker zu treffen, bot sich nirgendwo sonst im Land.
Max warf sich die Tasche über die Schulter und ging zum Ausgang. Aus dem Übungsraum nebenan war ein Saxofon zu hören, jemand übte Tonleitern. Manchmal wünschte er sich, er hätte sich für einen Wohnheimplatz auf dem Schulgelände entschieden, um auch abends noch üben zu können.
Max trat auf den Hof und schloss sein Fahrrad auf, das an dem hellgelben Backsteingebäude lehnte. Die Kette schien richtig zu sitzen. Also stieg er auf sein altes, rotes Damenrad der Marke Monark und fuhr über den Schulhof
.
Am Schultor stieg er ab, um es zu öffnen. Gleichzeitig kam von draußen jemand herein.
Björn Almström starrte ihn an.
»Lass mich mal durch«, sagte Max und versuchte sich an ihm vorbeizudrängen.
Björn rührte sich nicht vom Fleck, er blockierte die ganze Einfahrt.
»Wir können am Mittwoch nicht beide dasselbe Stück spielen«, sagte er. »Ich will nicht wie ein Affe dastehen, der dir alles nachmacht.«
Max schaute ihm in die Augen, sein Blick war so finster wie beim letzten Mal.
»Dann lass es doch«, sagte er und versuchte noch einmal, an ihm vorbei durch das Tor zu kommen.
»Es wäre nur fair, wenn du dir ebenfalls ein anderes Stück für das Vorspiel aussuchst.«
Max lachte auf und schüttelte den Kopf.
»Machst du Witze?«
Doch Björn schien es ernst zu meinen. Er trat einen Schritt nach rechts, sodass Max vorbeikam.
Völlig bekloppt, der Typ, dachte Max, stieg auf sein Fahrrad und fuhr über die Kyrkogatan zum Bahnhof.
Noch nie hatte er einen so dickköpfigen und sperrigen Menschen getroffen wie Björn. Kein Wunder, dass er auf der ganzen Schule keinen einzigen Freund hatte. Als ob er extra für ihn wenige Tage vor dem Vorspiel ein anderes Stück aussuchen würde, nachdem er so viel geübt hatte. Vielleicht sollte er doch noch mal mit den Lehrern reden.
Es war noch mild draußen, aber man spürte bereits die Kühle des nahenden Herbstes, das Laub der Bäume färbte sich gerade gelb. Der Regionalzug nach Ystad würde erst in zehn Minuten kommen. Max trug sein Fahrrad auf den Bahnsteig, setzte sich auf eine Bank und wartete
.
Nach einer Weile hörte er das Geräusch des sich nähernden Zuges. Er fuhr ein, und Max stand auf.
Nachdem sich die Türen geschlossen hatten, sah er zum Fenster hinaus. Auf dem Bahnsteig stand Björn und starrte ihm hinterher.