Als Tess und Lundberg das Cold-Case-Büro betraten, saß Marie an Rafaelas Schreibtisch, sie hatte die Füße hochgelegt.
»I’m back for good«, sagte sie. »Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für Makkonen. Was glaubt ihr, wie er ohne mich zurechtkommen wird?«
»Es wird bestimmt anstrengend, aber willkommen zurück«, sagte Tess und lächelte.
Sie stellte ihre Sporttasche ab, ging zum Whiteboard und schrieb die Zahl neunzehn an die Tafel.
»Das ist die Anzahl der Tage, die wir zur Verfügung haben.«
Marie lachte höhnisch, und Tess hob die Hand, wie um sich gegen Protest zu schützen.
»Ich weiß, es klingt wahnsinnig. Aber das ist alles, was wir bekommen haben.«
Sie drehte sich zu Lundberg um.
»Wollen wir anfangen?«
Lundberg nickte und trat ans Whiteboard, auf dem er in groben Zügen die bisherigen Ermittlungen im Fall Max Lund skizziert hatte.
»Erzähl uns chronologisch, wie Max’ letzte Stunden aussahen. Ganz grob.«
Lundberg schnäuzte sich und zeigte auf den Stadtplan von Ystad.
»Nachdem sie den Pub The Goat verlassen hatten,
trennten sich Max und seine Freunde hier auf dem Markt in Ystad, und Max beschloss, mit dem Rad nach Hause zu fahren. Die anderen drei aus seiner WG
– Joe Svensson, Håkan Westholm und Anna Woytic – hatten vor, noch zu einer privaten Party weiterzuziehen beziehungsweise den Nachtbus nach Malmö zu nehmen. Hier gehen die Geschichten ein bisschen auseinander. Max ging sein Fahrrad holen, während die anderen auf dem Markt blieben. Laut ihren Aussagen haben sie ihn dort zum letzten Mal gesehen. Es gab eine Theorie, die aber nie bestätigt wurde, dass Max trotz des Regens an einem Imbiss an der Hamngatan hielt und sich einen Hamburger kaufte, was laut Obduktion das Letzte war, was er gegessen hatte. Der Mann, der an dem Abend in dem Imbiss arbeitete, hatte ihn auf Fotos nicht wiedererkannt, es seien ›zu viele nachtaktive Jugendliche um die Zeit unterwegs gewesen‹, und er habe keine Überwachungskameras.«
Lundberg räusperte sich und fuhr fort.
»Der Tod trat relativ kurz nach dem Abschied von seinen Freunden auf dem Marktplatz ein. Außer einer gewissen Carina Eskilsson, die in einem Haus an der Landstraße Väg 9 wohnt und am Fenster stand, als er vorbeiradelte, hat ihn an jenem Abend niemand mehr gesehen.«
»Und Carina, warum war sie wach?«, fragte Tess.
»Sie konnte nicht einschlafen und stand gegen halb zwei auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Als sie auf die Straße hinausblickte, sah sie jemanden, von dem sie später glaubte, es sei Max gewesen, er wurde von hinten von einem Paar Scheinwerfer angeleuchtet. Als das Auto vorbeifuhr, meinte sie einen grauen Van zu erkennen, ganz sicher war sie sich aber nicht. Sie meinte, Max habe gehetzt ausgesehen, habe sich mehrfach umgedreht und sei sehr schnell gefahren. Aber sie sei müde gewesen, und erst, als sie von
dem Mord erfahren habe, habe sie eine Verbindung zu ihren nächtlichen Beobachtungen hergestellt.«
Tess nickte.
»Aufgrund dieser Aussage ist man zu dem Schluss gekommen, dass er tatsächlich so weit draußen auf der Landstraße unterwegs war. Das Haus der Wohngemeinschaft liegt nämlich ein ganzes Stück hinter dem Abzweig, den er eigentlich hätte nehmen müssen, um zu seiner WG
zu kommen.«
Tess stellte sich vor, wie panisch Max gewesen sein musste. Durch den Regen gejagt zu werden. Die Frage war, was anschließend passiert war. Und wer ihm so Böses gewollt hatte.
Ganz links hingen die Fotos der potenziellen Täter. Rechts eine Reihe Fragezeichen, die sie ausräumen mussten. Ganz oben ein Foto von Max.
Lundberg zeigte mit dem Finger darauf.
»Max Lund. Aufgewachsen in behüteten Verhältnissen in Malmö bei seinen Eltern und mit einer großen Schwester. Die Mutter war damals Krankengymnastin, der Vater Lehrer. Im Gymnasium Borgarskolan hatte Max so gute Noten, dass sein Vater hoffte, er würde vielleicht doch eine akademische Laufbahn einschlagen, statt auf die Musik zu setzen. Vor allem aber war Max ein vielversprechender Pianist, ›alles schien ihm zuzufallen, seine Finger flogen unbekümmert über die Tasten‹, wie einer seiner Lehrer nach seinem Tod laut einem Zeitungsartikel berichtete. Neben der Musik schien er keine größeren Hobbys zu haben.«
Lundberg berichtete außerdem, dass Max nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sei, dass man ihn überall als fröhlichen, sympathischen Typ mit einem großen Gerechtigkeitssinn gesehen habe. Es habe nur einen einzigen Charakterzug gegeben, den einige als etwas anstrengend empfunden hätten. Er konnte sich schrecklich über Dinge aufregen, die für ihn moralisch nicht in Ordnung waren
.
Tess wandte sich an Lundberg und Marie.
»Wer tötet so einen Jungen? Und welches Motiv sollte es da geben? Was bringt jemanden dazu, zu morden? Welche Gefühle sind so stark, dass man bereit ist, diese Grenze zu überschreiten?«
»Liebe«, sagte Marie. »Vielleicht wollte er eine Beziehung öffentlich machen.«
»Es gab keine Freundin, oder meinetwegen auch keinen Freund«, sagte Lundberg. »Da waren wir uns ziemlich sicher.«
»Geld, Schulden oder andere Betrügereien?«, fragte Marie.
»Tja«, sagte Lundberg. »Natürlich kann es sein, dass wir in dieser Richtung etwas übersehen haben. Aber ich möchte beinahe meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er keinen Dreck am Stecken hatte.«
»Macht. Hat er die Position irgendeines Menschen gefährdet? Fühlte jemand sich durch ihn bedroht?«
Lundberg setzte seine Brille auf und zeigte auf die Tafel.
»Wenn, dann vielleicht Björn Almström. Falls ein Klavierstück als Mordmotiv genügt, aber das ist wohl eher unwahrscheinlich. Aber ich komme gleich noch mal auf Björn zu sprechen, er war ein bisschen speziell.«
»Weitere Motive? Rache? Könnte er jemandem geschadet haben, der jemand anderem nahestand?«
»Nein, das hätten wir herausgefunden, da bin ich mir ganz sicher.«
»Okay«, sagte Tess. »Also scheinen weder Sex, Geld noch Macht eine Rolle gespielt zu haben, die drei Beweggründe, die einem Mord normalerweise zugrunde liegen. Erklär uns doch mal, welche Gedanken ihr euch damals zu den Verdächtigen gemacht habt.«
Lundberg schnäuzte sich, vielleicht wegen der Extraschicht Pollen, die sich in den letzten Tagen wie ein Deckel
über Schonen gelegt hatte. Tess vermutete jedoch, dass sein Mangel an Energie und sein niedergeschlagener Blick noch andere Gründe hatten.
Lundberg hängte ein Foto des Hauses der Wohngemeinschaft in Saltsjöbaden außerhalb von Ystad auf, in dem Max gewohnt hatte. Ganz oben hatte er den Namen Joe hingeschrieben, gegen den sich in früheren Ermittlungen der Hauptverdacht gerichtet hatte. Laut las er vor.
»Joe Svensson, heute achtunddreißig Jahre alt. Gemeldet in Gladsax, unmittelbar außerhalb von Simrishamn. Joe wohnte im ersten Stock, besuchte ebenfalls den Musikzweig in Skurup, aber mit dem Schwerpunkt Gitarre. Hatte kein Alibi, dafür Erinnerungslücken, konsumierte regelmäßig Cannabis und geriet deswegen auch in einen Konflikt mit Max, der strikter Drogengegner war. War allem Anschein nach in einen Streit verwickelt, der kurz vor Feierabend im Pub The Goat ausbrach. Dieser Streit wurde in mehreren Vernehmungen erwähnt. Joe wollte sein Gitarrenstudium abbrechen und für ein Semester in die USA
gehen. Inzwischen hat er sein Leben im Griff, ist verheirateter Familienvater mit zwei Kindern. Er hat verschiedene Jobs und scheint mit der Musik ganz aufgehört zu haben, zumindest beruflich.«
Tess betrachtete das Foto. Joe Svensson war ein hagerer Typ mit dunklen, eng zusammenstehenden Augen und dunklem, lockigem Haar.
»Könnte ein aus dem Ruder gelaufener Trip zu einem Gewaltausbruch führen, wie Max ihm ausgesetzt war? Was wäre sonst ein mögliches Motiv? Streit um Drogen?«
Lundberg wirkte nicht sehr überzeugt.
»Er wurde nie ganz vom Verdacht freigesprochen, vor allem, weil er kein glaubwürdiges Alibi für die Mordnacht liefern konnte.
«
Tess schrieb Joes Namen in ihr grünes Buch.
Lundberg ging weiter zu dem Foto gleich daneben, einem blonden Typ, der insgesamt eher nichtssagend wirkte.
»Håkan Westholm, heute neununddreißig. Gemeldet in Hammenhög, ebenfalls eine Frau und zwei Kinder. Arbeitet stundenweise als Musiklehrer in der örtlichen Mittelschule und hilft nebenbei im Dorfladen aus. Lebte im Erdgeschoss der WG
und besuchte ebenfalls den Musikzweig, Schwerpunkt Gitarre und Bass. Hatte eine Beziehung mit Anna, ebenfalls WG
-Mitbewohnerin. Keine offenen Auseinandersetzungen mit Max, hatte jedoch ebenfalls kein Alibi, behauptete nur, direkt nach dem Pub nach Hause gefahren zu sein, was niemand bestätigen konnte. Seine Rolle im Pub ist ebenfalls unklar.«
»Für Max’ Schwester, Annelie, ist er der Hauptverdächtige«, mischte Tess sich ein. »Ich habe mich gestern mit ihr unterhalten.«
Lundberg drehte sich zu ihr um.
»Wie begründet sie das?«
»Håkan Westholm soll nach dem Mord Max’ Familie aufgesucht und sich ›merkwürdig benommen‹ haben. Außerdem soll er ihnen einen Brief geschrieben haben. Das hat mir allerdings nur die Schwester gesagt, vermutlich hat die Polizei damals gar nichts davon erfahren. Oder weißt du etwas darüber?«
Lundberg schüttelte den Kopf.
»Nein, daran hätte ich mich erinnert. Der Brief könnte aber natürlich auch erst hereingekommen sein, nachdem ich nicht mehr an den Ermittlungen beteiligt war.«
»Sie behauptet auch, Max habe sich in der letzten Zeit vor seinem Tod bedroht gefühlt, zumindest hat er das wohl so bei ihr anklingen lassen, und sie folgerte daraus, dass Håkan Westholm etwas damit zu tun hatte.
«
»Merkwürdig«, sagte Lundberg. »Ich fand nicht, dass er auffälliger gewesen wäre als die anderen.«
Er deutete auf das Foto einer Frau mit dunklen, langen Haaren, das neben den Fotos von Joe und Håkan hing. Anna Woytic. Sie war inzwischen einundvierzig und eine verheiratete Gärde.
»Nur weil sie eine Frau ist, können wir sie nicht gänzlich ausschließen«, sagte Tess. »Max’ Verletzungen deuten allerdings eher auf einen männlichen Täter hin, angesichts der Kraft, mit der ihm die Stiche zugefügt wurden. Einem Rechtshänder übrigens, Anna war Linkshänderin. Wie sieht ihr Leben heute aus?«
Lundberg schaute in seine Unterlagen.
»Anna ist in Malmö gemeldet, mit ihrem Mann und einer gemeinsamen Tochter. Sie ist die Einzige der vier, die später tatsächlich eine Musikerkarriere eingeschlagen hat, und ist heute Solistin an der Oper in Malmö.«
Tess unterstrich den Namen in ihrem Buch.
»Anna hatte ebenfalls kein Alibi«, fuhr Lundberg fort. »Sie war die Erste, die in der Nacht wieder im Haus der WG
eintraf. Das Seltsamste in ihrem Fall ist, dass sie Håkan und Joe zunächst ein Alibi gab. Später stellte sich dann heraus, dass sie sie gar nicht nach Hause hatte kommen hören.«
Tess notierte in ihrem Buch: »Warum bei Alibi gelogen?«
Sie lehnte sich zurück und musterte die Namen an der Tafel. Die Beziehungen in der WG
hatten sich in deren letztem Jahr offenbar verändert. Max’ Schwester hatte erzählt, dass ihr Bruder sich nicht mehr wohlgefühlt und sich darüber hinaus von jemandem dort bedroht gefühlt hätte. Und Annelie selbst schien zu glauben, dass es sich bei diesem Jemand um Håkan handelte.
»Björn Almström«, sagte Tess und sah Lundberg auffordernd an
.
»Ja, das war ein merkwürdiger Typ, eckte überall an. Er schien Schwierigkeiten zu haben, Anschluss zu finden. Was ihn für uns interessant machte, war sein Temperament, das er nicht recht unter Kontrolle zu haben schien. In der Woche vor dem Mord warf er vor Wut eine Pflanze aus dem oberen Stockwerk eines der Schulgebäude, direkt auf den Schulhof. Darüber wurde tagelang heftig diskutiert.«
Lundberg berichtete weiter, dass Björn bei den Befragungen mit Worten wie »Eigenbrötler, Psycho, fieser Typ, Egozentriker oder reif für die Klapse« beschrieben worden sei. Einige hätten auch von einer Rivalität zwischen ihm und Max berichtet, immerhin waren beide Pianisten. Anna hatte jedoch auch darauf hingewiesen, dass Björn Max bewunderte und gerne sein Freund geworden wäre.
Björn sei an dem Abend ebenfalls in dem Pub gewesen, aber erst relativ spät dort aufgetaucht, und es habe alle überrascht, dass er überhaupt gekommen sei. Normalerweise habe er nie an Partys teilgenommen. Und laut einem Zeugen habe er an der Bar gestanden, als der Streit ausgebrochen sei.
»Was macht Björn Almström heute?«, fragte Tess.
»Ich habe ihn noch nicht ausfindig gemacht und lediglich einen Hinweis, dass er seit einigen Jahren in England lebt.«
Unter Björn Almström stand der Name Sven Bertilsson. Berüchtigter Streithahn, Dealer und in Ystad wegen Vergewaltigung verurteilt, sein Spitzname war Schweine-Svenne. Die Ermittlungen zu ihm waren knapp gefasst, es fehle ein schlüssiges Motiv, erklärte Lundberg. Doch auf jeden Fall sei er jähzornig gewesen.
Lundberg schob sich die Brille in die Stirn.
»In die Enge getrieben, wäre er wohl durchaus zu einer solchen Tat fähig gewesen. Unter anderem ist er bei einem Wutanfall mit einem Bajonett auf ehemalige Saufkumpane losgegangen. Allerdings ist schwer zu konstruieren, warum er
sich in einer verregneten Nacht auf der Landstraße herumgetrieben haben und Max mit vierundzwanzig Messerstichen getötet haben sollte. Es wurde spekuliert, sie könnten sich wegen Max’ rotem Monark-Fahrrad gestritten haben, dass das Fahrrad deshalb auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Aber … nun ja. Ich habe nie wirklich daran geglaubt.«
Tess sah ihr Handy auf dem Tisch blinken. »Isabel« stand auf dem Display. In der letzten halben Stunde hatte sie anscheinend viermal versucht, sie zu erreichen.
Sie unterbrachen die Sitzung für eine kurze Pause, und sie ging hinaus, um ihre Schwester anzurufen.