Tess wollte gerade Isabels Nummer wählen, als diese sie erneut anrief.
»Jetzt hat er auch noch eine Bürgschaft für ihren Kredit übernommen«, rief sie aufgeregt.
»Wer?«, fragte Tess, die keine Ahnung hatte, wovon ihre Schwester redete.
»Papa. Eva hat eine neue größere Wohnung für sich und ihre drei Kinder gekauft, und er bürgt für sie. Vorhin hat er angerufen und es mir erzählt.«
Oh nein, dachte Tess. Vor ein paar Monaten hatte ihr Vater auf einer Party bei einem Arbeitskollegen eine neue Frau kennengelernt. Weil Tess nach der Trennung von ihrer Mutter die Aufgabe übernommen hatte, ihren Vater moralisch über Wasser zu halten, war sie zunächst erleichtert über diese Nachricht. In den letzten Wochen war ihr und ihrer Schwester jedoch angst und bange geworden. Je mehr Einzelheiten ans Licht kamen, desto mehr verschärfte sich ihr Eindruck, dass ihr Vater ausgenutzt wurde. Eva war zwanzig Jahre jünger als er, also beinahe in ihrem eigenen Alter, und hatte drei Kinder.
»Okay«, sagte Tess. »Wir haben natürlich kein Recht, uns darin einzumischen, was er mit seinem Geld macht.«
»Nein, aber du musst zugeben, dass es ein bisschen beängstigend ist. Er hat mir zig Nachrichten geschickt, dass wir sie unbedingt kennenlernen müssten. «
Tess musste an all die unbeantworteten Nachrichten auf ihrem eigenen Handy denken.
»Ich halte es nicht aus, mit ihr an einem Tisch zu sitzen«, sagte Isabel und legte auf.
Tess ging in ihr Büro zurück. Vielleicht machten sie und ihre Schwester sich ja unnötig Sorgen, vielleicht war gar nichts verkehrt an der neuen Freundin ihres Vaters. Jedenfalls mussten sie sich wohl endlich einen Ruck geben und sie mal kennenlernen.
»Okay, wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Tess und setzte sich an ihren Platz.
Lundberg stand bereits vor der Karte von Schonen und fuhr mit dem Finger die Küste entlang, folgte der Landstraße Väg 9.
»Das relativ vage Täterprofil, von dem wir ausgingen, lief darauf hinaus, dass der Mörder gute Ortskenntnisse gehabt haben musste und eventuell schon einmal straffällig geworden war. Deshalb überprüften wir alle vorbestraften Männer innerhalb eines Umkreises von mehreren Kilometern um den Tatort. Es waren erschreckend viele. Zwei waren wegen Pädophilie verurteilt worden, einer wegen Vergewaltigung, und einer hatte seinen besten Freund erstochen.«
»Manchmal ist es gar nicht so schlecht, wenn man nicht weiß, wer so um einen herum lebt«, sagte Marie.
Tess legte ihren Stift weg und sah Lundberg an.
»Und dann haben wir da noch deinen ungebetenen Freund.«
Lundberg schüttelte sich unbehaglich.
»Einen sehr ungebetenen Freund.«
Auf das Whiteboard hatte er »der große Unbekannte« geschrieben. Ein Mann hatte zweimal bei ihm angerufen und den Mord an Max gestanden. Man nahm an, dass er vom Hauptbahnhof Malmö aus angerufen hatte, weil im Hintergrund Lautsprecherdurchsagen zu Abfahrten nach Göteborg und Kalmar zu hören gewesen waren. Als die Polizei jedoch hinfuhr, fand sie in der Telefonzelle keinerlei Spuren.
»Was wissen wir über ihn?«
»Nicht viel.«
Lundberg wedelte mit drei zusammengehefteten A4-Seiten.
»Man versuchte, auch von ihm ein Profil zu erstellen. Demzufolge stammte er höchstwahrscheinlich aus Nordschonen. Zwischen fünfunddreißig und fünfzig, eher gut gebaut. Geringe Ausbildung, aber handwerklich geschickt. Alleinlebend, wenig soziale Kontakte, vor allem mit dem anderen Geschlecht war es eher kompliziert. Fuhr mit dem Auto ziellos durch die Gegend und wechselte häufig die Adresse. Möglicherweise heftige Stimmungswechsel. Schnell beleidigt, aber auch reumütig. Tja, das war es in groben Zügen.«
»Dann laden wir ihn doch am besten mal vor«, sagte Marie.
Tess lächelte. Sie sah den dänischen Profiler Carsten Morris vor sich. Den könnten sie gut gebrauchen, um ein wirklich brauchbares Täterprofil zu erstellen.
Sie musterte das Foto von Max’ grün-weiß geringeltem Pullover. Er war nach wie vor gut in Schuss, war trocken aufbewahrt worden und deshalb gut erhalten. Welche äußerlichen Spuren konnte man an dem blutigen Kleidungsstück finden? Die letzten Untersuchungen waren vor vierzehn Jahren vorgenommen worden. Der technische Fortschritt ermöglichte zumindest in der Theorie unendlich viele weitere Untersuchungen. Derzeit hatte Brännström ihn auf seinem Tisch, und das Einzige, was sie tun konnten, war, auf seine Antwort zu warten.
Neben dem Foto des Pullovers hing eins von Stenshuvud. Das führte Lundberg weiter zu der Überschrift »Dringend auszuräumende Fragen«. Die erste war die nach dem weißen Lehm, der an Max’ Hose gefunden worden war.
»Fünfzehn Jahre später taucht genau derselbe Lehm auf dem Boden eines kleinen Motorboots in Österlen auf. Eines Bootes, in dem allem Anschein nach die ermordete Künstlerin Mischa Lindberg transportiert wurde. Welche Rolle spielt der Lehm bei dem Ganzen?«
Weder Tess noch Marie sagten etwas. In Anbetracht der Besessenheit Brännströms, was diesen Lehm anging, war es schier unglaublich, dass er in all den Jahren nirgendwo mehr aufgetaucht war.
Die nächste Frage lautete »Väg 9«. Eine Landstraße, die von Trelleborg an der schonischen Südküste an ganz Österlen entlangführte.
»Hier stießen wir auf mehrere seltsame Umstände und auch Einzelheiten, die nie richtig geklärt werden konnten«, sagte Lundberg. »Erstens: Warum fuhr Max ausgerechnet diese Straße entlang? Es war ein riesiger Umweg zu seiner WG , mehrere Kilometer länger als die übliche Strecke. Zweitens: Warum lag sein Fahrrad ein ganzes Stück entfernt vom Fundort der Leiche auf der anderen Straßenseite? Wollte der Mörder das Fahrrad mitnehmen und wurde irgendwie überrascht? Am Lenker fanden sich keine brauchbaren Spuren. Auffällig war die abgesprungene Kette. Das kam laut Max’ Mitbewohnern häufiger vor, es war ein altes Fahrrad, das schon bessere Tage gesehen hatte. Aber hat das irgendeine Bedeutung für unseren Fall?«
Darüber hinaus, berichtete Lundberg, sei Max’ langer schwarzer Schal mehrere Meter entfernt von der Leiche im Straßengraben gefunden worden.
Tess trank einen Schluck Wasser.
»Wenn man sich das so ansieht, spricht viel dafür, dass Max’ Leiche vom Tatort entfernt und dann wieder zurückgebracht wurde. Aber wer würde ein solches Risiko eingehen?«
Lundberg drehte sich wieder zur Tafel um. »Handschuhe«, hatte er notiert. Max’ schwarze Lederhandschuhe waren verschwunden, dabei hatten sowohl die Familie als auch die Freunde betont, dass er als Pianist große Sorge um seine Finger gehabt und deshalb die Handschuhe ständig getragen hatte.
Blieben zwei weitere Fragezeichen.
Der Streit im The Goat. Worum war es da gegangen? In mehreren Befragungen war von Heimlichtuereien die Rede gewesen.
In den früheren Ermittlungen war es nicht gelungen, dem wirklich auf den Grund zu gehen. Wie aber jeder Ermittler wusste, fand sich die Antwort oft in den letzten Tagen und Stunden des Opfers. Lag das entscheidende Detail vielleicht genau hier?
»Kann man den genauen Ablauf der Ereignisse im Pub rekonstruieren?«, fragte Marie.
Tess hatte selbst schon darüber nachgedacht, es aber wegen der langen Zeit, die vergangen war, wieder verworfen.
»Vielleicht«, sagte Lundberg. »Wenn wir einen oder mehrere der Personen, die dabei waren, noch einmal dazu befragen könnten. Leider hat sich herausgestellt, dass sie nicht leicht aufzufinden sind. Und besonders gesprächsbereit wirkten sie schon früher nicht.«
Tess schrieb sich »Rekonstruktion Pub« in ihr grünes Buch. Vielleicht wäre es doch nicht verkehrt, es noch einmal zu versuchen.
Den letzten und entscheidenden Punkt fasste Lundberg so zusammen: die Anzahl der Stiche. Max war mit einem Messer unbekannten Typs erstochen worden, vielleicht mit einem Butterfly. Ganze vierundzwanzig Stiche waren es gewesen. Achtzehn in den Rücken, fünf in Brust und Bauch und einer ins Auge.
»Warum diese übertriebene Gewalt? Was sagt uns das über den Täter? Und über sein Motiv?«
»Und warum nicht beide Augen?«, fragte Marie.
»Ja, gute Frage«, erwiderte Lundberg. »Vielleicht wurde er überrascht? Oder es hat eine symbolische Bedeutung, die wir nicht kennen.«
Wieder musste Tess an Carsten Morris denken. Sie war sich sicher, dass der neurotische Däne eine ziemlich genaue Theorie dazu hätte.
»Ich glaube, wir müssen unseren Freund Morris einschalten«, sagte sie.
Marie erstarrte. Vor einem guten Jahr, als sie an dem Fall der vermissten Annika Johansson gearbeitet hatten, hatten Marie und der berühmte Profiler Carsten Morris eine Art Affäre gehabt. Davon war Tess überzeugt, obwohl Marie sich ausnahmsweise weigerte, darüber zu reden.
»Wäre das nicht riskant? Ich meine …«
Marie tippte sich an die Stirn.
Tess zuckte die Achseln.
»Er war beim letzten Mal nicht ganz fit, dennoch hat er uns im Fall des Valby-Mannes sehr weitergeholfen. Wie auch immer … zunächst möchte ich jedenfalls die Stelle sehen, an der Max gefunden wurde.«
Lundbergs Blick schien wie am Whiteboard festgeklebt.
»Heute Nachmittag fahren wir nach Ystad«, sagte Tess und nickte ihm zu.