Der Nachmittagsverkehr auf der Landstraße Väg 9 bei Ystad rauschte hinter ihrem Rücken vorbei. Tess starrte auf den nadelbedeckten Waldboden und fragte sich, wie es möglich gewesen war, dass die Polizei die Leiche zunächst gar nicht gesehen hatte, obwohl sie doch offen in dem hier recht lichten Kiefernwald gelegen hatte, vor allem da sie mit einem Hubschrauber die Küstenlinie abgeflogen waren. Und wer tötete einen Mann mit mehr Messerstichen als nötig neben einer relativ vielbefahrenen Straße?
Tags zuvor hatte sie den Ordner durchgearbeitet, in dem alle mit dem Fall zusammenhängenden Ereignisse aufgelistet waren. Dabei war ihr plötzlich eingefallen, dass Max ja auch woanders getötet und dann an dieser Stelle abgelegt worden sein könnte. Doch wo war das gewesen, und wozu war er hierhergebracht worden? Warum hätte der Täter ein solches Risiko eingehen sollen? Da Max sein Handy in jener Nacht zu Hause gelassen hatte, gab es leider auch keine Mobilfunkdaten, die sie hätten auswerten können.
Tess ließ den Blick die Straße entlangwandern. Mit dem Handy fotografierte sie das lichte Waldstück. An dem Tag nachdem die Eltern Max vermisst gemeldet hatten, war einer Frau, die mit dem Fahrrad von der Arbeit kam, etwas orange Leuchtendes unter den Bäumen zwischen Straße und Meer aufgefallen. Sie hielt an, entdeckte die Leiche und alarmierte umgehend die Polizei
.
Der Wind fuhr Tess durch die Haare und rauschte in den Kiefern. Sie holte ihr grünes Notizbuch heraus. Lundberg stand mit dem Rücken zu ihr und schaute zur Straße.
»Wo genau lag das Fahrrad?«, fragte sie.
Lundberg deutete mit dem Finger in die Richtung.
»Ein paar Hundert Meter weiter, dort im Graben, also auf der anderen Straßenseite.«
»Und der Schal?«
»Ungefähr auf derselben Höhe wie das Fahrrad, aber auf dieser Straßenseite.«
Tess malte zwei Kreuzchen in ihr Buch und betrachtete die Straßenskizze, die sie gezeichnet hatte.
»Seltsam. Könnte es sein, dass er Richtung Ystad zurückgejagt wurde?«
Lundberg antwortete nicht. Er stellte sich neben sie. Zog die Nase hoch und wischte sie mit dem Handrücken ab.
Schweigend blickten sie auf die Landstraße, die parallel zum Meer verlief, bevor sie einen Bogen nach Norden beschrieb. Väg 9. Von Trelleborg bis Brösarp schlängelte sie sich durch die Dörfer entlang der Küste, bevor sie in Väg 19 mündete und weiter in nördlicher Richtung bis Småland führte. Es war wirklich merkwürdig, dass Max an jenem Abend nicht in die Richtung abgebogen war, in der das Haus mit der Wohngemeinschaft lag. Stattdessen war er mehrere Kilometer weiter geradeaus auf der Landstraße gefahren.
»Was glaubst du, warum er hier langfuhr? Es war ein riesiger Umweg.«
»Er wurde verfolgt«, sagte Lundberg und nahm seine Brille ab. »Zumindest sah es laut Carina Eskilsson so aus. Vielleicht wollte er keinen Hinweis darauf geben, wo er wohnte. Also, wenn wir von der Annahme ausgehen, dass er von einem Unbekannten verfolgt wurde, jemandem, den er noch nie gesehen hatte. Außerdem gibt es an der Straße, die
direkt zur WG
führt, keine Beleuchtung, hier dagegen schon, zumindest auf den ersten hundert Metern. Vielleicht ist er deshalb weitergefahren.«
»Aber es muss furchtbar geregnet haben, da nimmt man doch nach Möglichkeit den kürzesten Weg.«
Lundberg hob fragend die Schultern.
»Hilfe? Vielleicht hat er auf ein entgegenkommendes Fahrzeug gehofft, das anhalten würde. Um die Uhrzeit war hier ja nichts los. Oder er hatte noch irgendetwas zu erledigen, von dem niemand sonst etwas wusste.«
Ein paar Hundert Meter weiter in der Richtung, aus der sie gekommen waren, wohnte Carina Eskilsson. Sie war die einzige echte Zeugin von Max’ Fahrt auf der Landstraße Väg 9 vor fünfzehn Jahren. In der Vernehmung hatte sie berichtet, wie sie am Küchenfenster stand und eine Person auf einem Damenfahrrad aus östlicher Richtung, von Ystad her, näher kommen sah. Dicht hinter dem Fahrrad fuhr ein graues, Van-ähnliches Fahrzeug. Tess hatte Marie beauftragt, sie zu einer neuerlichen Vernehmung vorzuladen. Vielleicht war ihr im Nachhinein noch etwas eingefallen, das ihnen jetzt weiterhelfen konnte.
Ein paar Regentropfen landeten auf Tess’ Wangen, als sie zum Himmel aufblickte. Sie musste daran denken, was Max’ Mutter in einem Interview gesagt hatte. »Der Himmel weint, wenn solch junge Menschen so früh gehen müssen.«
Sie senkte den Kopf und schloss die Augen und versuchte sich hier, am Ort des Geschehens, in Max’ letzte Nacht hineinzudenken, ein Gefühl dafür zu bekommen, was passiert war, was er in den letzten Minuten seines Lebens empfunden hatte. Sie öffnete die Augen und schaute auf die Stelle, wo er gelegen hatte.
»Was glaubst du, Lundberg? Warum so viele Messerstiche, und warum einer ins Auge?
«
Lundberg blickte auf, dann drehte er sich wieder zu den Autos um, die an ihnen vorbeifuhren.
»Ich habe immer gedacht, es muss jemand gewesen sein, der ihm etwas Böses wollte. Man geht nicht ohne Grund so brutal auf einen anderen los. Es muss etwas Persönliches gewesen sein.«
»Es sei denn, man ist ein Psychopath oder ein Lustmörder.«
Lundberg schnaubte.
»Genau, und die trifft man ja nicht gerade täglich.«
»Ich frage mich auch, warum er erst anderthalb Tage später gefunden wurde und nicht schon beim ersten Sucheinsatz.«
»Ja, das ist wirklich seltsam. Auch wenn die Polizei ihn nicht gefunden hatte, weil sie davon ausging, dass er einen anderen Weg genommen hatte, so hätte ihn doch jemand anders hier entdecken müssen.«
»Und wer saß deiner Meinung nach in dem grauen Van?«
Lundberg drehte sich zu ihr um.
»Ich habe keine Ahnung.«
Tess gab ihm ein Zeichen fortzufahren.
»Und selbst wenn wir annehmen, dass die Leiche nach dem Mord in dem Van wegtransportiert wurde. Warum hätte der Mörder sich die Mühe machen sollen, wieder zurückzukommen und sie hier abzulegen? Mit dem Risiko, dabei entdeckt zu werden?«
Lundberg fixierte den Horizont.
»Vielleicht wollte der Täter um jeden Preis vermeiden, dass die Leiche in einer Gegend gefunden wird, in der er selbst sich bewegt. Und dann hat er es sich doch anders überlegt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich finde ja, es wirkt inszeniert«, sagte Tess. »Der Täter hatte jedenfalls anscheinend nichts dagegen, dass der Körper
hier so gefunden wurde, in dieser Pose des Ausgeliefertseins, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Er muss ihn so platziert haben. Wie um der Welt zu sagen: Seht euch an, wozu ihr mich getrieben habt.«
Tess hielt kurz inne, dann fuhr sie fort:
»Wäre er nackt gewesen, hätte ich auf ein sexuelles Motiv getippt. Er ähnelt anderen Leichen, die ebenfalls mit engelsgleich ausgestreckten Armen gefunden wurden. Doch die waren meistens nackt.«
Eine Weile standen sie schweigend da.
Der Ort, an dem die Leiche gefunden worden war, hatte auf Tess jedes Mal einen besonderen Effekt. Nirgendwo anders war sie dem, was passiert war, näher als dort. Sie spürte die Angst, den Schmerz, die Grausamkeit und bekam manchmal auch eine Ahnung davon, was möglicherweise geschehen war. Auch spürte sie dann immer eine besondere Nähe zu den Opfern, eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl. Und an diesem Ort hier versprach sie, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um herauszufinden, was passiert war.