Tess und Lundberg stiegen ins Auto und fuhren Richtung Ystad zurück. Nach ein paar Hundert Metern kamen sie an der Abfahrt Richtung Meer vorbei, wo das Haus lag, in dem sich Max’ Wohngemeinschaft befunden hatte.
Tess erkannte das große gelbweiße Haus, das sie auf den Fotos gesehen hatte, sofort wieder. Ein klassischer Altbau mit Sprossenfenstern und protzigen weißen Säulen neben dem Eingang, der sich gegen die übrige Bebauung in der ehemaligen Ferienhaussiedlung abhob. Heute schien dort eine Familie zu wohnen, zumindest stand ein Sandkasten im Garten, und an der Fassade lehnten Kinderfahrräder.
»Eine gute Lage für die jungen Leute, die an der Folkhögskola Skurup waren«, meinte Lundberg. »Mit dem Fahrrad ist man in weniger als zwanzig Minuten am Bahnhof von Ystad, und von dort sind es mit dem Regionalzug nur noch siebzehn Minuten nach Skurup. Ein Stück weiter die Straße hinunter liegt ein langer Sandstrand – was kann man sich als Zwanzigjähriger mehr wünschen.«
Lundberg schnäuzte sich, dann fuhr er fort:
»Es gibt verschiedene Strecken, auf denen Max hierher hätte fahren können. Die ehemaligen Mitbewohner erzählten von einer Abkürzung dort unten, die sie meistens nahmen, wenn sie aus der Stadt zurückkamen. Er hätte überhaupt nicht über die Landstraße zu fahren brauchen, aber irgendetwas veranlasste ihn, das zu tun. «
»Vielleicht war er doch noch mit jemandem verabredet?«
Lundberg schüttelte den Kopf.
»Er scheint nicht der Typ gewesen zu sein, solche Dinge zu verheimlichen. Irgendwer von den anderen hätte es gewusst.«
»Jeder hat seine Geheimnisse, er, du, ich«, sagte Tess und betrachtete das Haus. Im Stillen dachte sie: Und im Moment, glaube ich, vor allem du. Worüber grübelte Lundberg nur die ganze Zeit?
»Komm, wir gucken mal, ob jemand zu Hause ist.«
Tess öffnete das Gartentor und klopfte an die braune Haustür. Als niemand öffnete, gingen sie um das Haus herum. Eine riesige Fichte stand mitten auf dem Grundstück. Tess trat auf die neu gebaute Holzterrasse und spähte ins Wohnzimmer. Es war aufgeräumt und typisch dezent nordisch eingerichtet. Das abgenutzte, dunkle Parkett schien noch dasselbe zu sein wie auf dem Foto, auf dem Max auf den Händen gelaufen war. Unter dem großen Fenster stand ein langer Esstisch aus Holz, gegenüber befand sich ein offener Kamin.
»Was ist hier drinnen passiert, am letzten Abend seines Lebens? Schilder mir die Szene doch bitte noch mal.«
Lundberg schirmte sein Gesicht mit den Händen ab, um besser sehen zu können.
»Die vier verbrachten den Abend anscheinend oft an einem Tisch, der an genau derselben Stelle stand wie dieser hier. Einmal im Monat veranstalteten sie einen Spieleabend und aßen Pizza, so auch an diesem Abend. Sie hatten jeder ein eigenes Zimmer, und alle bis auf Håkans lagen im oberen Stock. Håkan und Anna hatten vorübergehend eine Beziehung, die war damals aber schon beendet. Alle vier waren also Single.«
Tess schaute durchs Fenster, erinnerte sich, dass die Versionen der Mitbewohner zu dem Abend nicht vollkommen übereingestimmt hatten.
»Und Joe und Max stritten sich oben, bevor sie an dem Abend das Haus verließen, um sich in der Kneipe mit Freunden zu treffen«, sagte Lundberg.
»Ging es um Drogen?«
»Ja. Joe wollte sich Marihuana besorgen, Max war strikter Drogengegner. Es hieß, er sei an die Decke gegangen, nachdem er Drogen im Haus gefunden hatte. Deshalb war die Stimmung gedrückt, als sie zusammen mit dem Rad nach Ystad fuhren. Es scheint aber noch um mehr gegangen zu sein, sonst wäre es nicht zu der massiven Auseinandersetzung im The Goat gekommen.«
»Wie ernst war der Streit zwischen Max und Joe?«
»Schwer zu sagen, niemand erinnerte sich so genau. Joe meinte, es habe sich nur um eine kleine Rangelei gehandelt. Ich erinnere mich aber, dass mehrere Personen aussagten, es habe irgendwelche ›Heimlichtuereien‹ gegeben, vor allem später im Pub. Wir fanden aber nie heraus, worum es genau ging.«
»Könnte Max darin verwickelt gewesen sein?«
»Nein, ich glaube nicht, eher Joe und noch jemand anderes von der Schule.«
Sie gingen zum Auto zurück. Tess warf ihre regennasse Jacke auf die Rückbank und setzte sich ans Steuer.
Noch einmal schaute sie zum Haus hinüber. Die Leute, die heute dort wohnten, wussten wahrscheinlich gar nicht, dass hier jemand gelebt hatte, der ermordet worden war.
Jetzt lag er irgendwo unter der Erde.
»Weißt du eigentlich, wo er begraben worden ist?«
»Nein, jetzt, wo du es sagst … Ich habe nie etwas von einer Beerdigung gehört. Vielleicht fand sie nur im engsten Familienkreis statt. «
Regentropfen zerplatzten auf der Windschutzscheibe. Tess sah Max vor sich, wie er auf Händen über das Parkett lief. Irgendetwas an dieser Geschichte stimmte nicht, es fehlte ein großes Puzzleteil. Irgendwo gab es einen Denkfehler.
Sie sah Lundberg von der Seite an.
»Und dann geriet alles ins Stocken. Keiner wollte mehr mit dem Fall zu tun haben, es war zu kompliziert, man kam nicht mehr weiter – war es so?«
»Du kennst das, ohne technische Beweise ist es schwierig weiterzukommen.«
Tess startete den Motor.
»Und du selbst hättest am liebsten nie wieder etwas mit dem Fall zu tun gehabt, oder?« Sie erwartete keine Antwort, sondern blickte nur schweigend geradeaus. »Also, was ist? Hast du dich entschieden?«, fragte sie schließlich.
Lundberg schaute grimmig durch die nasse Windschutzscheibe hinaus.
»Ich glaube, ich schaffe das nicht«, sagte er. »Zumal mit den vielen Überstunden, die das bedeutet. Es tut mir leid.«
Tess nickte. Es überraschte sie nicht besonders, auch wenn sie enttäuscht war.
Allerdings fragte sie sich, was wirklich hinter Lundbergs Entscheidung steckte. Die Frage, ob etwas zu schaffen war oder nicht, hatte ihn bisher nie beschäftigt.