Die Ehefrau
Hedvig und Jacob waren im Bett, ihr Mann noch bei der Arbeit. Eigentlich waren sie an diesem Abend wieder mit Daniel und Karin Cervins aus ihrer Straße verabredet. Sie hatte jedoch abgesagt, es mit Fieber und Überstunden entschuldigt. Sie wollte wohl nicht riskieren, dass sich die peinliche Situation vom letzten Mal wiederholte.
Ein Gedanke, der sie in den letzten Jahren immer wieder verfolgt hatte, war im Moment wieder sehr präsent. Wollte sie wirklich mit ihm zusammenbleiben? Wie so viele andere, hatte sie sich der Kinder wegen bisher immer wieder dafür entschieden.
Sie legte die Füße hoch, scrollte auf ihrem Handy durch die Online-Ausgabe von Ystads Allehanda.
Es waren die üblichen Nachrichten über Einbrüche, Brände und Autounfälle. Aber dann hielt sie bei dem Foto eines jungen Mannes inne, der sie strahlend anlächelte.
Sie hatte in Malmö gelebt, als Max Lund in der Nähe von Ystad tot aufgefunden worden war. Wie den meisten Menschen in Schonen war ihr der Fall noch gut in Erinnerung. Als sie ihren Ehemann kennengelernt hatte, hatte sie herausgefunden, dass er Max gekannt hatte. Sie hatte ihn danach gefragt, weil sie wusste, dass sie zur selben Zeit Schüler der Folkhögskola Skurup gewesen waren, bis zu Max’ Ermordung.
Ihr Mann hatte nicht länger darüber reden wollen, was sie angesichts der damaligen Stimmung gut verstehen konnte.
Man hatte sich damals gegenseitig verdächtigt und schlecht übereinander geredet.
Jetzt las sie sich den Artikel sorgfältig durch, anscheinend sollten die Ermittlungen wieder aufgenommen werden. Die Polizei bat um Tipps, und es sollten auch wieder Zeugenbefragungen durchgeführt werden.
Sie stand auf und ging zu dem offenen Kamin hinüber, blies die Kerze aus, die auf dem Sims stand.
War das mit ein Grund, weshalb sich ihr Mann in letzter Zeit so merkwürdig verhielt? Sah er sich deswegen erneut mit dunklen Erinnerungen konfrontiert? Hatte die Polizei etwa auch ihn wieder vernommen? Sie war sich nicht sicher, ob er es ihr erzählt hätte.
Sie ging auf Flashback und las alles, was sie zu dem Fall fand. Namen, Verdächtigungen und Theorien gingen in dem Thread wild durcheinander. Alle Männer, die damals die Schule in Skurup besucht hatten, inklusive ihres Mannes, waren demnach mehr oder weniger verdächtig. Sowie viele andere aus der Gegend. Niemand schien sich bewusst zu sein, dass es sich um ein offenes Forum handelte, oder es war ihnen einfach egal, dass ihre Verdächtigungen vielleicht völlig Unschuldige betrafen, und dass sie das Leben der Betroffenen zerstören konnten.
Sie löschte das Licht und ging nach oben, schaute noch einmal kurz bei Hedvig und Jacob ins Zimmer. Anschließend legte sie sich ins Bett und schlief ein.
Ein schwacher Streifen Mondlicht fiel auf die weißen Dielen.
Es war die dritte Nacht in Folge, in der sie aufwachte und er nicht neben ihr im Bett lag. Sie hatte gehört, wie die Haustür geöffnet worden war. War er schon wieder rausgegangen, um zu joggen? Wie schrecklich mussten seine Angstzustände sein, dass er sich nur so beruhigen konnte
?
Sie schüttelte ihr Kissen auf, zog sich die Decke bis zum Kinn hoch und lauschte auf Geräusche aus dem Erdgeschoss. Schritte, eine Schranktür, die geöffnet wurde. Was tat er bloß? Sie trank einen Schluck Wasser aus dem Glas auf ihrem Nachttisch, schob die Decke beiseite und stand auf. An einem Haken neben dem Fenster hing ihr hellblauer Morgenmantel. Sie zog ihn sich über. Die Dielen knarrten unter ihren Füßen, als sie zur Tür ging. Sie blieb stehen und lauschte erneut. Vielleicht war es gar nicht er? Woher sollte sie wissen, dass es sich nicht um Einbrecher handelte? Leise ging sie die Treppe hinunter. Auf halber Strecke sah sie durchs Geländer seinen Rücken. Die Trainingsjacke. Sie sah, wie sich sein Gesicht in dem großen Fenster spiegelte, er saß mit dem Rücken zu ihr und schien auf das Grundstück hinauszustarren.
Als sie weiterging, drehte er sich zu ihr um. Obwohl die Beleuchtung schlecht war, sah sie, dass seine Schläfen grauer geworden waren.
»Was machst du da?«, fragte sie. »Du hast mich erschreckt, ich dachte, es wären Einbrecher.«
Er stand auf und ging auf sie zu.
»Ach, was. Ich will nur noch mal raus und eine Runde joggen.«
»Schon wieder?«
»Ja, ich mag es, im Dunkeln zu laufen.«
»Ist irgendetwas passiert? So etwas machst du doch sonst nicht.«
»Nein, was sollte sein?«
»Du wirkst so … so rastlos?«
Er atmete tief durch.
»Es war einfach sehr viel auf der Arbeit, du weißt doch, wie das ist. Das Laufen hilft mir, runterzukommen.«
Sie nickte
.
»Willst du es nicht lieber mit den Schlaftabletten versuchen, die sie dir verschrieben haben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe sie weggeworfen. Ich möchte nicht von so etwas abhängig werden.«
Wie sie so dastanden, mitten in der Nacht, nur sie beide, war da plötzlich wieder eine Nähe zwischen ihnen, und sie fühlte sich schuldig. Vielleicht gab es noch viel mehr in seiner Vergangenheit, von dem sie nichts wusste. Musste sie da nicht für ihn da sein und ihn unterstützen?
Sie strich ihm flüchtig über den Arm. Die Anspannung in seinen eingesunkenen Augen löste sich ein wenig. Sie wünschte sich, dass er sie fest in die Arme schlösse, ihr sagte, dass alles normal, alles gut wäre.
»Du sagst mir doch, wenn etwas ist?«
»Ja, es ist nichts, versprochen.«
Er fasste sie an den Schultern und küsste sie auf die Stirn.
Hinter ihm auf dem Tisch entdeckte sie den Laptop. Über den Bildschirm liefen die rhythmischen bunten Wellen des Bildschirmschoners und leuchteten in die Dunkelheit.
Er folgte ihrem Blick.
Sie wollte ihn fragen. Jetzt, ganz direkt. Jetzt, da er ihr endlich einmal wieder nahe war. Er musste ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde, dass sie es schaffen würden, gemeinsam weiterzumachen. Sich vorwärtszukämpfen. Sie brauchte seine Hilfe, um daran glauben zu können.
»Geh hoch und leg dich schlafen, es ist spät«, sagte er.
Sie schaute auf ihre ineinander verschränkten Hände hinunter. Seine rechte Hand um ihre linke, die Narbe unterhalb seines kleinen Fingers schaute ein Stück aus dem Ärmel seines Pullovers hervor.
Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte, ließ seine Hände los und ging wieder nach oben.