Die Ehefrau
Sie fröstelte, wollte in die Umkleide und sich umziehen. Das Kindergeschrei von den Schwimmbecken gellte ihr unangenehm in den Ohren, obwohl es fröhlich war, aufgeregt. Sie mochte Hallenbäder nicht, hatte sie noch nie gemocht. Der starke Chlorgeruch, die Lautstärke, und ständig fror man. Aber sie hatten Hedvig versprochen, hinzugehen, ein verspätetes Geburtstagsgeschenk. Mit der ganzen Familie.
Sie hatte die aufrichtige Freude in Hedvigs Gesicht gesehen, als sie ihnen zeigen wollte, was sie konnte und am Ausgang der Wasserrutsche platschend im Becken landete. Und sie war froh, dass sie es geschafft hatten, der Tochter einen Tag zu ermöglichen, an dem die ganze Familie zusammen war. In letzter Zeit passierte das nur noch selten.
Ihr Mann stand mit dem Rücken zu ihr am Beckenrand und redete mit Jacob, der im Wasser plantschte. War er noch dünner geworden? Er war schon immer sehr schmal gewesen, vor allem um die Hüften. Jetzt aber wirkte er regelrecht abgemagert. Vielleicht bildete sie es sich aber auch nur ein. Allerdings hatte sie tatsächlich den Eindruck, dass er in letzter Zeit noch weniger aß.
Sie sah, wie Hedvig sich von hinten an ihn heranschlich, Anlauf nahm und ihn ins Wasser zu schubsen versuchte.
Er schrie auf und drehte sich um. Sein Gesichtsausdruck war verzerrt, die Augen weit aufgerissen.
Klatschend landete seine Hand auf Hedvigs Arm, sodass
es im ganzen Schwimmbad widerhallte. Einmal, und dann noch einmal. Erst beim dritten Schlag, der ihre Tochter im Gesicht traf, begriff sie, was da passierte.
»Das macht man nicht, kapiert?«, brüllte er völlig außer sich.
Sie konnte sich nicht bewegen, es war, als steckten ihre Füße im Betonboden fest.
Sie sah, wie fest er Hedvigs Arme gepackt hielt. Hörte, wie Hedvig laut weinte und sich zu ihr umdrehte.
»Er hat mich geschlagen, Mama, er hat mich geschlagen.«
Irgendwie gab der Beton sie frei, und sie rannte über den rutschigen Boden.
Sie zerrte an seinen Armen und schrie gleichzeitig: »Lass sie los! Du fasst sie nie wieder an.«
Hedvig warf sich um ihren Hals, sie zitterte und schluchzte.
Sie hielt sie fest und warf ihm wütende Blicke zu.
Er stand mit ausgebreiteten Armen da, seine tief liegenden Augen drückten Erschöpfung aus, wie so oft in letzter Zeit, und er wiederholte immer wieder denselben Satz, wie ein Mantra: »Das macht man nicht, kapiert, ich hätte …«
Sie sah ihn fest an.
»Ja, was, was hätte passieren können? Du hast deine eigene Tochter geschlagen, das tut man einfach nicht!«
Noch während sie das sagte, merkte sie, dass es um sie herum mucksmäuschenstill geworden war. Das Kindergeschrei war verstummt. Sowohl Erwachsene als auch Kinder standen um sie herum und starrten sie an. Der Vorhang für die Familientragödie war weit geöffnet. Sie kämpfte gegen die Tränen an, musste jetzt stark sein, wünschte sich, die Zeit um zehn Minuten zurückdrehen zu können.
»Komm«, sagte sie zu Hedvig, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zur Umkleide
.
Alle Blicke folgten ihnen. Sie selbst schaute zu Boden, obwohl nicht sie diejenige war, die ihre Tochter geschlagen hatte. Es fühlte sich an, als verurteilten die Menschen sie für ihre Wahl. Für die Wahl ihres Ehemannes. Sie wollte sie anschreien, sie zur Hölle schicken, sie sollten sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Doch das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
Es gelang ihr, die Tür zur Umkleide zu öffnen und Hedvig hineinzuschieben, herunter von der Bühne.
»Warum, Mama, warum hat Papa das gemacht?«
Was sollte sie ihr sagen? Was gab es für einen vernünftigen Grund?
»Ich weiß es nicht«, sagte sie nur und schüttelte den Kopf.
Ihre Hände zitterten, als sie versuchte, den orangefarbenen Spind aufzuschließen. Ihr wurde schwindlig, und sie setzte sich auf die Holzbank, legte den Kopf auf die Knie. Aus der Dusche hörte sie Hedvigs Schluchzen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Dass sie seine Spinnereien und seinen Egoismus ertragen hatte, war eine Sache. Aber die Kinder sollten nicht darunter leiden müssen. Niemals. Sie beeilten sich mit dem Umziehen. Hedvig schluchzte ununterbrochen, es klang, als müsste sie sich übergeben.
Jedes Mal, wenn sich die Tür zur Schwimmhalle öffnete, wurde sie nervös. War es jemand, der mit angesehen hatte, was am Beckenrand passiert war?
Hedvig war fast fertig. Sie trocknete sich die Füße ab und warf die Handtücher in den Rucksack. Nahm den Föhn von der Wand und föhnte ihrer Tochter die Haare.
»Komm, wir gehen«, sagte sie dann und legte ihr erneut den Arm um die Schulter.
Als sie an der Tür standen, schaute eine Frau in ihrem Alter hinter einem Schrank hervor.
»Ist alles okay bei Ihnen?
«
»Ja, oder nun ja. Es ist okay.«
»Sie wissen, dass man in solchen Fällen Hilfe bekommen kann?«
Sie blieb stehen und sah ihr in die Augen. Die Frau dachte anscheinend, sie selbst würde ebenfalls misshandelt. Dann nickte sie und lächelte schwach, bedankte sich.
»Mama, was wollte die Frau? Wobei kann man Hilfe bekommen?«, fragte Hedvig ängstlich.
»Nichts, schon gut. Alles ist gut.«
Sie gingen zum Parkplatz, setzten sich ins Auto und warteten.
»Warum ist Papa so wütend geworden? Ich wollte doch nur Spaß machen, ihn ins Wasser schubsen.«
Hedvig schob den Ärmel hoch und zeigte ihr eine rote Druckstelle am Oberarm. Auch ihre Wange war nach wie vor gerötet.
»Es tut immer noch weh.«
»Es wird nie wieder vorkommen, ich rede mit ihm. Du weißt, dass du mir vertrauen kannst, oder?«
Hedvig schluchzte, sagte ja, dann schwiegen sie.
Endlich hörten sie, wie der Kofferraum geöffnet und eine Tasche hineingeworfen wurde.
Sie öffnete die Tür und stieg aus, sagte Jacob, er solle sich schon mal reinsetzen und schloss die Tür.
Dann trat sie einen Schritt auf ihren Mann zu und sagte:
»Wenn du eins der Kinder noch einmal anfasst, verlasse ich dich. Verstanden? Und beim nächsten Mal zeig ich dich an.«
Er zuckte zurück und starrte sie an.
»Du willst mich anzeigen?«
Er hob die Hände, wirkte plötzlich erschrocken.
»Ich wollte das nicht. Bitte entschuldige, es kommt nie wieder vor. Versprochen.
«
Sie stieg ein, ohne etwas zu sagen.
Schweigend fuhren sie nach Hause. Sie wollte und konnte nicht reden, wollte ihn nicht im Auto haben. Und sie fragte sich, ob er überhaupt irgendeine Grenze kannte.