Lundberg saß allein im Cold-Case-Büro und packte seine Sachen. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Zweifel und schlechtes Gewissen gegenüber den Kolleginnen machten ihm zu schaffen. Er sah Max vor sich, die Eltern, die ältere Schwester, Annelie. Sie war damals noch so jung gewesen und am Boden zerstört, man hatte sie kaum vernehmen können.
Obwohl es so viele Jahre her war, hatte der Fall Max ihn in regelmäßigen Abständen heimgesucht. Die Zeit, in der er alles getan hatte, um den Fall und diesen schrecklichen Fehler zu verdrängen, war vorbei. Es war, als zwinge ihn etwas dorthin zurück. Als er vor ein paar Tagen mit seiner Frau in den Wäldern von Bergslagen, ihrer Heimat, spazieren gegangen war, hatte er neben dem Kiesweg ein Fahrrad im Straßengraben entdeckt und sofort an Max denken müssen.
»Was für eine Vergeudung«, murmelte er und legte den Stift auf den Tisch.
Neben dem Whiteboard hing eine rot-gelbe Wanduhr, die sowohl die schwedische als auch die dänische Zeit angab. Irgendein Spaßvogel im Haus hatte sie dem Cold-Case-Team geschenkt, weil sie in den letzten Jahren immer wieder sowohl mit dänischen Tätern als auch mit der dänischen Polizei zu tun gehabt hatten. Die dänischen Zeiger sprangen immer hin und her, hipp-hopp, ein Symbol für die Zusammenarbeit mit den unzuverlässigen Dänen
.
Der Sekundenzeiger dagegen erinnerte Lundberg eher daran, dass er sich dem Ende seiner Polizeilaufbahn näherte. Zwar hatte er keine konkrete Vorstellung davon gehabt, wie er die letzten Dienstjahre verbringen wollte, aber es war ganz bestimmt nie sein Traum gewesen, fünfzehnjährige Bandenangehörige zu verfolgen, die einander wegen irgendwelcher Drogenkonflikte erschossen oder wegen Streitigkeiten, von denen sie selbst nicht mehr wussten, worum es einmal gegangen war. Und nun sollte er bereits am folgenden Morgen zu einer Besprechung mit Makkonens Team erscheinen und in genau diese Art von Arbeit eingewiesen werden.
Er stand auf. Das Display seines Telefons blinkte. Eine unterdrückte Rufnummer. Lundberg nahm ab.
»Ich bin es. Wir haben schon mal telefoniert.«
Er zuckte zusammen. Es war der große Unbekannte. Es war dieselbe helle Stimme, dieselbe abwartende, einsilbige Art, sich auszudrücken. Rasch drückte er auf den Aufnahmeknopf des Telefons.
»Oder haben Sie mich vergessen?«
»Nein«, sagte Lundberg. »Aber es ist eine Weile her.«
Er setzte sich wieder. Bemühte sich, ruhig zu klingen, obwohl ihm das Herz bis zum Halse schlug. Er hoffte, dass die Aufnahme auch wirklich funktionierte. Warum rief der Mann wieder an? Er musste um jeden Preis versuchen, das Gespräch in Gang zu halten.
»Sie suchen jetzt wieder nach dem Mörder?«
»Wie bitte?«
»Der Junge außerhalb von Ystad. Das war doch ich. Ich habe ihn in der Dunkelheit überfahren, das wissen Sie doch.«
Lundberg holte tief Luft, lauschte auf Hintergrundgeräusche.
»Versuchen Sie herauszufinden, wo ich bin? Dann lege ich nämlich auf.
«
Er redete genauso wie vor fünfzehn Jahren.
»Es sind diese verdammten Enttäuschungen, die man erlebt hat. Deshalb ist es passiert, anders kann ich es nicht erklären.«
»Versuchen Sie es«, sagte Lundberg ruhig.
»Es frisst mich auf. Ich war überall unerwünscht. Sie haben mich verachtet. Ich bin eigentlich kein schlechter Mensch. Aber wenn ich wütend werde, sehe ich rot, und dann passiert es. Es war wie ein Kurzschluss, als ich diesen Blick sah, ich konnte es einfach nicht ertragen.«
Das war neu, was er über Max’ Blick sagte. Noch nie zuvor hatte er die Augen erwähnt.
»Und was haben Sie da gemacht?«
»Gemacht? Das wissen Sie doch. Ich habe das Messer in ihn hineingerammt.«
Lundberg schwieg einen Moment. Doch auch der Unbekannte am anderen Ende war verstummt. Lundberg überlegte fieberhaft, wie er weiterkommen konnte, ohne den anderen zu verschrecken.
»Wäre es nicht besser, wenn Sie vorbeikämen, damit wir uns richtig unterhalten können?«
»Das geht nicht. Ich stehe die zwanzig, fünfundzwanzig Jahre Haftstrafe nicht durch. So viel würde ich doch bekommen. Ich habe einen Menschen getötet. Das würde mich kaputtmachen.«
»Warum erzählen Sie es mir dann?«
Der Mann schien zu überlegen.
»Weil ich es nicht ertrage, es für mich zu behalten. Mir geht ständig durch den Kopf, was ich getan habe, ich kann nicht still sitzen. Sie brauchen nach keinem anderen zu suchen. Und dann ist da noch etwas …«
»Ja?«
»Ich könnte noch was getan haben.
«
»Was meinen Sie damit? Wieder so etwas? Haben Sie erneut getötet?«
»Ja.«
»Tatsächlich? Wann?«
»Darüber kann ich noch nicht reden.«
»Aber wenn Sie jemanden getötet haben, wäre es doch gut, wenn Sie es mir sagen. Dann brauchen wir nicht weiterzusuchen.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich bin noch nicht bereit. Und ich kann nicht versprechen, dass es nicht noch einmal passiert. Und wenn Sie weiterfragen, lege ich auf und Sie hören nie wieder etwas von mir.«
Lundberg änderte seine Strategie.
»Max’ Eltern werden langsam alt, sie müssen endlich Gewissheit bekommen.«
»Richten Sie seinen Eltern aus, dass es keine Absicht war. Es war ein Unfall, und dann bin ich durchgedreht. Ich habe seine Handschuhe noch, manchmal schaue ich sie mir an. Es tut mir leid, dass ich es getan habe. Ich lege jetzt auf.«
»Hallo?«
Lundberg fragte noch ein paarmal nach, doch das Gespräch war offensichtlich beendet. Er schaltete die Aufnahmefunktion aus, spulte zurück und hörte sich alles noch einmal an. Dann legte er die Hände hinter den Kopf und lehnte sich zurück. Schweiß rann ihm in den Nacken. Es fühlte sich an, als wäre die Zeit um fünfzehn Jahre zurückgedreht worden. Dieselben Anspielungen auf all die Enttäuschungen in seinem Leben.
Und er meinte, er habe es wieder getan. In genau diese Dinge hatte er nie wieder hineingezogen werden wollen.
Er stellte fest, dass seine Frau ihm eine Nachricht
geschrieben hatte. Marianne bat ihn darum, auf dem Heimweg fürs Abendessen einzukaufen. Er erinnerte sich wieder, wie beunruhigt sie gewesen war, als der große Unbekannte ihn das letzte Mal kontaktiert hatte. Ihre Adresse in Oxie herauszufinden war nicht schwierig, und sie hatten nie das Gefühl gehabt, eine geheime Rufnummer zu brauchen.
Nie hatte er sich bei der Arbeit von der Angst leiten lassen. Doch was würde geschehen, wenn der Mann beschloss, ihn zu Hause aufzusuchen? Wenn dann gerade die Enkelkinder zu Besuch waren? Und was, wenn dieser irre Typ dann erneut ausrasten würde?