Tess blinzelte in die grelle Frühlingssonne vor dem Fenster. Anlässlich der bevorstehenden Walpurgisnacht und des ersten Mai breitete sich Feiertagsstimmung in Malmö aus, auf den Straßen war kaum noch etwas los. In den Fluren draußen lärmte es, nach einem weiteren Einsatz gegen die Ratten wurden wieder Möbel gerückt. Das Polizeigebäude schien einfach nicht zur Ruhe zu kommen. Während der letzten Jahre hatten bereits umfängliche Renovierungen stattgefunden, mit denen das Haus zur Gerichtszentrale umgebaut worden war, um Staatsanwaltschaft, Amtsgericht und Polizei an einem Ort unterbringen zu können. Und jetzt waren die Ratten eingefallen.
Tess zog ihr Handy heraus. Mette hatte ihr geschrieben.
Sie wollten sich am Wochenende treffen, doch obwohl Tess sie wirklich mochte, zweifelte sie schon jetzt, ob sie sie tatsächlich wiedersehen wollte. Sie wünschte sich, fünf Schritte weiter zu sein, um sich diese erste Phase der Unsicherheit zu ersparen.
Tess hörte sich noch einmal die Aufnahme des Telefongesprächs mit dem großen Unbekannten an, die Lundberg ihr gegeben hatte. Er war überzeugt davon, dass es derselbe Mann war, der ihn vor fünfzehn Jahren schon einmal angerufen hatte. Seine Stimmlage und wie er sich über seine »Enttäuschungen« geäußert hatte, seien dieselben gewesen. Nun wollte Tess sie Carsten Morris zur Untersuchung weiterleiten .
Tess schaute zum Whiteboard hinüber, auf das Fragezeichen, das für den großen Unbekannten stand.
Wie Lundberg bereits festgestellt hatte, enthielt das Gespräch zwei interessante Punkte. Zum einen die Handschuhe, die er bisher nie erwähnt hatte. Aber natürlich konnte er das auch aus Palmqvists Artikel erfahren haben. Zum anderen hatte er Max’ Augen erwähnt.
Tess drückte noch einmal auf Wiedergabe.
»Es war wie ein Kurzschluss, als ich diesen Blick sah, ich konnte es einfach nicht ertragen.«
Tess hätte gern noch mehr aus dem großen Unbekannten herausgekitzelt, ihn dazu gebracht, sich erneut zu melden und dabei seine Identität zu verraten. Jetzt, da Lundberg das Team verlassen hatte, war es schwierig, etwas zu inszenieren.
Die Kartons und Ordner auf ihrem Schreibtisch erinnerten sie daran, wie viel Arbeit vor ihnen lag. Auf der Tafel hatte sie die vorherige Zahl ausradiert und die neue hingeschrieben: Ihnen blieben noch fünfzehn Tage. Die Zeit lief. Lundberg klopfte an, sah die Kartons und schien sofort zu wissen, was sie dachte.
Er trat ein paar Schritte ins Büro.
»Ich habe das Gefühl, euch im Stich zu lassen.«
»Es ist, wie es ist«, sagte Tess und scrollte auf ihrem Handy.
Sie hatte weder Zeit noch Lust, mit ihm darüber zu reden. Und sie hatte nicht vor zu versuchen, ihn zum Bleiben zu überreden. Lieber einer weniger als ein unwilliger Lundberg.
Er legte einen Zettel auf ihren Tisch, auf den er etwas geschrieben hatte.
»Über diese beiden Männer haben wir bisher noch gar nicht geredet. Beide besuchten den allgemeinbildenden Zweig der Schule und waren an Max’ letztem Abend im Pub. Natürlich wurden sie vernommen, aber es wäre sicherlich einen Versuch wert, sie noch einmal herzubestellen. «
Tess nahm den Zettel mit den Namen Erik Dahlén und Frank Ögren entgegen. Lundberg ging zur Tür, die Tasche über der Schulter.
»Ich wünschte … ich …«
Er stand da und zögerte, den Blick zu Boden gerichtet.
»Ich bin nur ein paar Meter weit weg, falls etwas ist.«
Nachdem er verschwunden war, lehnte Tess sich auf ihrem Stuhl zurück und blickte sich um. Fünfzehn Jahre hatten die Akten zu Max Lund im Kellerarchiv des Polizeigebäudes gelegen. Sie war dankbar, dass immerhin alles an einem Fleck gewesen war. Manchmal ging ein Großteil der Arbeitszeit ihres Teams allein dafür drauf, das entsprechende Material in unterschiedlichen Häusern zusammenzusuchen. Die einundzwanzig Polizeibehörden, die vor ein paar Jahren zu einer zusammengefasst worden waren, hatten ganz unterschiedliche Herangehensweisen bei der Beschlagnahme und Archivierung von Beweismaterial gehabt. Es konnte der reinste Dschungel sein, und Max Lund gehörte zu den Fällen, die sie noch nicht digitalisiert hatten. Sie waren einfach nicht davon ausgegangen, dass der Fall in absehbarer Zeit wieder aufgenommen werden würde. Das Material zu den Ermittlungen im Fall Max bestand aus Originaldokumenten, CD s, Ordnern, Fotobögen und Unmengen von Papier.
Sie nahm ein Foto von Max zur Hand und sah es sich zerstreut an. Er hatte eindeutig einen eigenen Stil, ein wenig bohemienhaft mit Jackett, langem Schal und oranger Hose.
Sie betrachtete den grün-weiß geringelten Pullover, den Brännström noch einmal untersuchen wollte, sobald er es schaffte. Im Prinzip war das gerade ihre größte Hoffnung. Der Pullover und natürlich die Möglichkeit, dass jemand aus seinem näheren Umfeld, wie etwa ehemalige Mitschüler, bereit war, etwas zu erzählen, das er bisher nicht preisgegeben hatte.
Tess streckte sich. In ihrem grünen Buch hatte sie sich notiert, in welcher Reihenfolge sie die Personen, die für den Fall von Interesse waren, treffen wollte: Joe, Håkan, Björn, Anna. Mit diesen vier wollte sie beginnen. Sie hatte Marie gebeten, Kontakt aufzunehmen. Auch hatte sie versucht, die Zeugin Carina zu erreichen, die jedoch verreist war und erst in einer Woche nach Hause zurückkehren würde.
Die ehemaligen Schülerinnen und Schüler der Folkhögskola Skurup wollte sie am liebsten unvorbereitet treffen. Doch in dieser personell angespannten Situation auf gut Glück zu ihnen zu fahren wäre viel zu aufwendig.
Tess rief Brännström vom NFC an.
»Es geht nicht schneller, wenn Sie mich drängen«, sagte er zerstreut. Es war bereits das zweite Mal in dieser Woche, dass sie ihn anrief.
»Wir haben eine Deadline«, sagte sie und warf einen Blick zur Tafel. »Noch fünfzehn Tage.«
Brännström seufzte.
»Dann stimmt also das Gerücht, dass Ihre Arbeit eingestellt werden soll?«
»So könnte es kommen. Deshalb müssen wir ihnen schnellstmöglich beweisen, was für ein Fehler es wäre, das zu tun.«
»Das kann ich sofort unterschreiben. Trotzdem kann ich leider nicht schneller arbeiten.«
Brännström versprach, nach Möglichkeit in der kommenden Woche mit der DNA -Analyse von Max’ Pullover zu beginnen.
Nachdem sie aufgelegt hatte, trat Marie ins Zimmer.
»Hat er uns tatsächlich verlassen?«, fragte sie mit Blick auf Lundbergs leeren Schreibtisch .
Tess hob die Schultern. Noch immer kam ihr Lundbergs Verhalten höchst merkwürdig vor.
»Hoffen wir einfach, dass sich der große Unbekannte noch mal bei ihm meldet, dann ist er ganz von allein wieder mit von der Partie«, sagte Marie. »Glück im Unglück, dass er ausgerechnet Lundberg zu seinem Vertrauten erkoren hat.«
Tess’ Handy piepte. Sie zog eine Grimasse, als sie das Memo sah. Morgen sollte das unausweichliche Essen mit ihrer Schwester, ihrem Vater Bengt und dessen neuer Freundin stattfinden.
Marie klopfte mit dem Finger auf Håkan Westholms Foto am Whiteboard.
»Und morgen haben wir die Ehre, diesen Typen hier kennenzulernen. Er bestand darauf, hierherzukommen, das sei die einzige Möglichkeit, denn er arbeite und wohne in Hammarhög, behauptet er.«
»Okay«, sagte Tess. »Was ist mit Joe? Immerhin war er damals der Hauptverdächtige.«
Marie spuckte ihr Kaugummi in den Papierkorb.
»Wenn es dir nicht passt, versuch doch selbst, ihn zu erreichen. Ich habe ihm wie eine Blöde hinterhertelefoniert, aber es gibt einfach keine aktuelle Nummer. Und in den sozialen Medien kann ich auch nichts dazu finden, was er macht. Das Gleiche gilt für Björn Almström, niemand scheint ihn gekannt zu haben. Wir müssen also zunächst mit diesem hier vorliebnehmen.«
Tess schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich fühlte auch Marie sich ohnmächtig angesichts der Unmengen an Arbeit für nurmehr zwei Personen in ihrem Team. Und eins der Probleme bei der Arbeit mit alten Fällen war nun einmal, dass man versuchen musste, alle Personen, die auch nur irgendeinen Bezug dazu hatten, wieder ausfindig zu machen. In fünfzehn Jahren konnte viel passieren. Menschen zogen fort, wechselten den Nachnamen, starben.
Sie gab Marie den Zettel, den Lundberg ihr dagelassen hatte.
»Frank Ögren und Erik Dahlén. Sie waren ebenfalls Schüler der Folkhögskola Skurup, besuchten aber den allgemeinbildenden Zweig. Sie wurden vernommen, denn sie waren an dem Abend ebenfalls im Pub. Versuch doch bitte mal, sie zu erreichen und möglichst bald ein Treffen mit ihnen zu vereinbaren.«
»Du bist ein schlimmerer Sklaventreiber als Makkonen«, schimpfte Marie, setzte sich jedoch an ihren Rechner und begann nach ihnen zu suchen. »Und Walpurgisnacht feiert niemand hier im Büro, richtig?«