Maries aggressiver Fahrstil war im ganzen Haus berüchtigt. Waren sie dienstlich unterwegs, versuchte Tess so oft wie möglich, das Steuer zu übernehmen. Ausgerechnet heute aber war Marie schneller gewesen und hatte auf der Fahrerseite Platz genommen.
Sie waren zu einem Waldstück bei Brösarp unterwegs, wo Frank Ögren und Erik Dahlén mit ihrer Waldarbeitsfirma tätig waren.
Tess wollte mit ihnen vor allem über die angebliche Auseinandersetzung am Mordabend im The Goat sprechen. Während einer früheren Vernehmung hatte Erik erklärt, er sei nur kurz in dem Pub gewesen und gleich wieder umgekehrt, und dass es im Anschluss eine private Party in seiner Zweizimmerwohnung in Ystad gegeben habe.
Marie schnitt die Kurven in der Hügellandschaft um Brösarp, und auf jeder Kuppe schlug Tess das Herz bis zum Halse.
»Ich glaube, Sandra Edding wird bei uns bleiben«, sagte Marie und sah sie von der Seite an.
»Ja?«
Tess wünschte sich, sie würde auf die Straße schauen, statt ein Gespräch anzufangen.
»Das ist doch gut? Sie kann den ganzen alten Sesselfurzern bei uns etwas entgegensetzen. Ich mag sie und habe das Gefühl, dass ich sie völlig falsch eingeschätzt habe.
«
Tess war überrascht. Noch nie hatte sie Marie etwas Positives über ihre Vorgesetzten sagen hören.
»Tatsächlich?«
»Ja. Einmal abgesehen davon, dass sie mich gerade von Makkonen befreit hat – weißt du, was ich gestern gehört habe? Sie hat damals mitgeholfen, den Serienvergewaltiger und ehemaligen Polizeichef Göran Lindberg, Kapten Klänning, zu überführen. Wahnsinn, oder? Was für eine Frau!«
Sandra Eddings Heiligenschein wird wahrscheinlich ins Unermessliche wachsen, dachte Tess. Außerdem war es nicht Sandras, sondern ihr Verdienst, dass Marie ins Cold-Case-Team hatte zurückkehren dürfen. Doch sie sagte nichts.
»Ich will noch kurz tanken«, meinte Marie, als sie sich einer Tankstelle näherten, die auf der anderen Straßenseite lag.
Tess deutete hektisch auf einen Tanklaster, der ihnen entgegenkam.
»Willst du gar nicht wissen, woher ich das mit Kapten Klänning weiß?«, fragte Marie und schaute dabei schon wieder zu ihr und nicht auf die Straße.
»Doch, aber noch mehr interessiert mich, dass wir lebend ankommen.«
Kurz vor dem Laster bog Marie jäh in die Tankstelleneinfahrt ein, um zu tanken. Tess stieg aus und griff nach dem Zapfhahn.
Vor dem Kiosk hing die Kvällsposten
aus, doch heute schien noch nichts von ihren Ermittlungen im Mordfall Mischa Lindberg zu Lasse Palmqvist und seinen Kollegen durchgedrungen zu sein. Je länger sie die Verbindungen zwischen der Künstlerin und dem Fall Max Lund für sich behalten konnten, desto besser, denn so hatten die Beteiligten keine Möglichkeit, sich vorzubereiten.
Marie beugte sich über den Sitz und rief laut, um die Benzinpumpe zu übertönen
:
»Sandra Edding und ich haben eine gemeinsame Freundin bei der Polizei in Stockholm. Sie heißt Nadja und ist auch Kriminalkommissarin. Deshalb weiß ich davon. Und jetzt halt dich fest!«
»Ja?«
»Ich glaube, unsere liebe Chefin steht ebenfalls auf Frauen.«
Tess bückte sich und schaute zu Marie ins Auto.
»Wieso glaubst du das?«
Normalerweise entging Tess so etwas nie, diesmal aber konnte sie nicht behaupten, etwas gemerkt zu haben. Aber es war ja auch nicht ihre allererste Priorität gewesen, hinter Sandra Eddings sexuelle Orientierung zu kommen.
Sie schraubte den Tankdeckel zu und stieg wieder ein.
»Nadja war sich sicher, dass sie schon mal ein Verhältnis mit einer Frau hatte. Hast du nichts gemerkt?«
»Nein, aber ich habe ehrlich gesagt auch nicht darüber nachgedacht. Außerdem ist sie verheiratet, und zwar mit einem Mann.«
»Ja, ja, aber so etwas hat doch noch nie eine Rolle gespielt. Vielleicht ist sie bisexuell. Außerdem weiß ich nicht, ob es mit dieser Ehe noch weit her ist, sie scheint tatsächlich nach Malmö ziehen zu wollen und ist bereits auf Wohnungssuche.«
Tess musste daran denken, wie Sandra Edding ihr die Bilder von der Wohnung gezeigt hatte. Gleichzeitig sah sie Per Jöns vor sich, den Sandra Edding schließlich nur vertrat. Niemals hätte er von ihnen verlangt, einen Fall innerhalb von lediglich drei Wochen zu lösen.
Sie überquerten die Hauptverkehrsstraße nach Kristianstad und fuhren weiter bis zu dem kleinen Ort Bertilstorp. Auf dem Navi war zu sehen, dass genau hier die Landstraße Väg 9 aufhörte und in Väg 19 Richtung Norden überging.
Tess gestikulierte zur Windschutzscheibe
.
»Hier ist siebzig erlaubt, und da ist ein Blitzer.«
»Ja, aber der funktioniert bestimmt nicht«, sagte Marie und gab unmittelbar vor einem steilen Anstieg noch einmal extra Gas.
Oben angekommen, zeigte das Navi an, dass sie links in einen Waldweg einbiegen mussten.
Wenig später erblickten sie einen Traktor auf einer Lichtung, und Marie bremste abrupt.
Draußen zwischen den ausschlagenden Laubbäumen empfing sie der Lärm von Motorsägen. Tess atmete die frische Waldluft ein. Es war lange her, seit sie zuletzt diesen speziellen Erd- und Moosgeruch wahrgenommen hatte, und sie nahm sich vor, endlich ernst zu machen und sich ein Haus auf dem Land zu suchen.
Die Sägen verstummten, und ein kräftiger Mann mit einem orangen Helm, Visier und schwarzem Arbeitsanzug trat auf sie zu.
»Erik«, sagte er, zog sich den dicken Handschuh aus und begrüßte sie.
»Haben Sie kurz Zeit, mit uns zu reden?«, fragte Tess.
»Ja, natürlich. Vielleicht können wir einfach anfangen, dann kann Frank noch eine Weile weitermachen. Wir müssen hier heute noch fertig werden.«
Sie gingen zu einem Baumstumpf, neben dem ein paar Rucksäcke standen.
Erik war ein rotwangiger Mann mit einem breiten Lächeln. Als er Helm und Gehörschutz abnahm, sah man sein blondes, flaumiges Haar. Er zog eine Thermoskanne aus dem Rucksack und blickte sie fragend an. Sie nickten, und Erik legte eine Plastikplane über den Baumstumpf, sodass sie sich setzen konnten.
Marie nickte zu dem blauen Traktor mit dem Schriftzug FrankEriks hinüber
.
»Was genau macht Ihre Firma eigentlich?«
Der große Schwenkarm des Traktors wurde ausgefahren, hob Äste auf und ließ sie auf den Anhänger fallen.
»Im Moment lichten wir den Wald aus, ganz normale Räumarbeiten«, sagte Erik. »Ansonsten bieten wir alles Mögliche an. Glauben Sie mir, hier auf dem Land gibt es für uns immer etwas zu tun, das ist unser Glück.«
Er trank einen Schluck Kaffee.
»Sie waren auch in Skurup, besuchten dort aber nicht den Musikzweig?«, fragte Tess.
Erik lachte.
»Nein, richtig, das war nicht so unser Ding.«
Er nickte zu Frank hinüber, der in der Fahrerkabine saß und ihnen den Rücken zuwandte.
»Frank und ich haben wahrscheinlich in der Schule nicht gut aufgepasst, deshalb nahmen wir am Unterricht des allgemeinbildenden Zweigs teil, um eine Zulassung zum Studium zu bekommen.«
Er schenkte ihnen Kaffee in kleine bunte Plastikbecher ein.
»Und dann sind wir doch bloß im Wald gelandet. Aber ich will nicht klagen, hier draußen fühle ich mich am wohlsten. Keine Ahnung, was mir die zwei Jahre Skurup wirklich gebracht haben. Aber es ist natürlich praktisch zu wissen, wer Gustav Wasa war, wenn man den Kindern bei den Hausaufgaben helfen muss.«
Erik lächelte schief. Das Traktorengeräusch verstummte. Frank, die andere Hälfte des Unternehmens FrankEriks, kam mit einem großen grünen Gehörschutz auf den Ohren zu ihnen herüber.
Tess stand auf und gab ihm die Hand.
Sie wirkten ein bisschen wie Laurel und Hardy, Frank war deutlich kleiner und weniger kräftig gebaut. Sein Dialekt verriet, dass er aus der Gegend um Malmö stammte
.
Frank nahm einen Becher Kaffee entgegen, setzte sich aber nicht zu ihnen.
»Wie gut kannten Sie Max?«
Frank blies auf seinen heißen Kaffee.
»Eigentlich kaum. Man wusste auf der Schule ungefähr, wer wer war, das war es aber auch schon. Die Partys waren meist fächerübergreifend, ansonsten blieb man eher unter sich. Ihre Unterrichtsräume lagen auch in einem anderen Gebäude, ein bisschen abseits.«
Erik nickte.
»Nicht, dass ich es voll durchschaut hätte, aber es gab eine Art Konkurrenz zwischen den Fachbereichen. Wir von den Allgemeinen standen nicht ganz so weit oben in der Hierarchie. Die Musiker waren speziell, die Spitze der Pyramide. Viele waren bereits richtig gut und waren vor allem da, um zu spielen. Richtig Schule war das für sie nicht, wenn man das so sagen kann. Dass Max richtig gut war, wusste irgendwie jeder, und es kam einem auch immer vor, als wüsste er selbst, dass mal etwas Großes aus ihm werden würde.«
»Aber dann wurde er leider aus ganz anderen Gründen berühmt«, sagte Marie.
Erik nickte erneut.
»Tragisch. Was für eine Verschwendung von Talent.«
Tess wandte sich Frank zu.
»Welche Erinnerungen haben Sie an den besagten Oktoberabend?«
Er überlegte kurz.
»Es regnete. Den ganzen Tag hatte es geregnet, hörte gar nicht auf zu gießen. Man wurde pudelnass und hat gefroren.«
»Waren Sie ebenfalls in dem Pub, im The Goat?«
»
Ja, die meisten waren dort«, sagte Frank.
Erik schaute zu ihm hoch
.
»Ich selbst war nur ganz kurz drin. Anschließend kamen einige noch zu einer privaten Party zu mir. Ich hatte eine Wohnung in Ystad, war, glaube ich, der Einzige, der alleine wohnte.«
»Einige haben behauptet, im Pub wäre an diesem Abend schlechte Stimmung gewesen, ein paar Leute wären aneinandergeraten und hätten sich an der Bar gestritten.«
»Nein, das würde ich so nicht sagen«, sagte Frank. »Es war ziemlich voll, es war Freitag und kurz vor Thekenschluss. Aber nichts Außergewöhnliches, zumindest habe ich nichts bemerkt.«
Tess nickte Erik zu.
»Und Sie? Haben Sie etwas mitbekommen?«
»Nein, es war voll und recht lebhaft, aber es gab keine Schlägerei.«
»Und wie war die Party anschließend, bei Ihnen zu Hause?«
Erik lachte.
»Ziemlich chaotisch. Ja, damals konnte man feiern.«
Er hob die Kaffeetasse hoch.
»Heute ist das anders. Aber die meisten waren da, und damit meine ich wirklich, die meisten.«
Erik blickte sie vielsagend an.
»Aber Max nicht«, sagte Tess.
»Nein, Max natürlich nicht, leider. Vielleicht wäre er sonst noch am Leben. Aber sein Kumpel, mit dem er zusammenwohnte, war da, auch wenn er es später abgestritten hat.«
Tess und Marie wechselten einen Blick.
»Joe Svensson war auf Ihrer Party?«
»Hundert Prozent«, sagte Erik und lehnte sich ein wenig zurück. »Und da war etwas, das ich seltsam fand, und was mir nie so recht aus dem Kopf gehen wollte.«
»Ach, und was?
«
Tess war erstaunt über diese neuen Informationen, die sie da von Erik bekamen.
»Es war eine richtig chaotische Party, super viele Leute, alle waren betrunken, und es war schon spät. Deshalb erinnern sich wohl auch alle so schlecht. Aber als ich auf Toilette gehen wollte, stieß ich im Flur auf Joe. Er war gerade zur Tür reingekommen und völlig verdreckt und durchnässt, wirkte irgendwie verwirrt und sah aus, als hätte er sich im Schlamm gewälzt. Er ging direkt ins Bad, um zu duschen.«
»Sind Sie sich sicher, dass er das war?«
»Bombensicher. So etwas vergisst man nicht.«
Tess drehte sich zu Frank um.
»Sie waren auch dort, haben Sie Joe ebenfalls gesehen?«
»Nicht, dass er duschen ging, aber auf jeden Fall, dass er da war. Ich dachte, das wussten Sie längst?«
Er sah Erik fragend an, der seinen Kaffeebecher abgestellt hatte, und seufzte.
»Also, das mit der Party hatte ich der Polizei tatsächlich schon erzählt«, sagte Erik.
»Ach, und wann?«
Tess hatte einen Großteil der Ermittlungsunterlagen gelesen, diese Information hatte sie dort aber nicht gefunden, da war sie sich ganz sicher.
»Bereits eine Woche später, als mir aufging, dass dieses Ereignis etwas mit dem Mord zu tun haben könnte. Ich kann mich nicht an den Namen des Polizisten erinnern, aber er rief mich anschließend mehrfach an, um meine Aussage noch mal zu überprüfen.«
Tess wandte sich wieder Frank zu.
»Haben Sie und Joe noch Kontakt?«
»Nein, überhaupt nicht. Es ist Jahre her, seit wir uns gesehen haben, man lebt einfach verschiedene Leben.
«
Tess stand auf. Ihre Hände fühlten sich kalt und steif an.
»Aber ich habe ihn vor ein paar Tagen gesehen«, meinte Erik.
»Und wo?«
»In einer Salatbar in Simrishamn, der neu eröffneten in der Fußgängerzone. Er arbeitete da an der Theke.«
Tess und Marie blickten sich an. Erik erhob sich und setzte den Helm wieder auf.
»Glauben Sie, Sie können den Fall diesmal lösen?«
»Das hoffen wir«, sagte Tess. »Aber es ist natürlich immer schwierig, wenn so viel Zeit vergangen ist.«
Marie zog das Röhrchen mit dem Wattestäbchen aus der Tasche und sah Tess an.
»Ach, genau«, sagte Tess. »Wir sind gerade bemüht, so viele Personen wie möglich auszuschließen und machen Massentests bei allen Männern, die sich in jener Nacht in Max’ Nähe befunden haben. Hoffe, das ist okay für Sie.«
Erik zuckte die Achseln.
»Solange man deswegen nicht für irgendwas längst Vergangenes drangekriegt wird?«
Marie winkte ihn näher zu sich. Er musste sich bücken, damit sie eine Speichelprobe nehmen konnte.
»Haben Sie denn viel auf dem Kerbholz?«, fragte sie, während sie ihm mit dem Wattestäbchen durch die Mundhöhle fuhr.
»Nein, war nur Spaß«, antwortete er, als sie fertig war, »eine unerlaubte Autofahrt mit sechzehn, aber das ist ja wahrscheinlich verjährt?«
»Ja. Und Sie brauchen sich da keine Sorgen zu machen«, sagte Tess, »das Gesetz verbietet uns, die Probe für etwas anderes zu benutzen als für diesen Fall.«
Marie ging zu Frank und nahm ebenfalls eine Probe. Tess hatte das Gefühl, die Probenentnahme bereite Marie Freude,
als gäbe es ihr eine Art Überlegenheitsgefühl gegenüber diesen großen Männern.
»Vielen Dank, wir melden uns wieder bei Ihnen«, sagte sie und ging zum Auto zurück.
Als sie vom Waldweg auf die Straße einbogen, brach Marie das Schweigen.
»Dann wissen wir jetzt, wo Joe sich aufhält.«
»Wir können ihn ebenso gut gleich in dieser Salatbar aufsuchen.«
Marie steckte sich ein Kaugummi in den Mund und zog den Knoten ihres schwarz karierten Schals fester.
»Wie kann man so blöd sein? Am Ende kommt es doch immer heraus.«
»Aber wenn es stimmt, was Erik sagt, dass er der Polizei bereits von der Party und von Joe berichtet hatte, wie kann dann ein so wichtiger Hinweis aus den Akten verschwinden? Darüber hätte Lundberg doch bestimmt etwas gewusst.«
»Was für eine verdammt schlechte Ermittlung das gewesen sein muss«, sagte Marie.
Auf dem Weg nach Simrishamn versuchte Tess, Lundberg zu erreichen, um ihn zu fragen, ob er gewusst hatte, dass Joe auf der Party gewesen war und dass Erik ihnen damals einen Hinweis darauf gegeben hatte. Nachdem es zehnmal geklingelt hatte, gab sie auf.
Wenn das stimmte, warum hatte Joe dann gelogen? Er hätte auf diese Weise immerhin ein Alibi gehabt.