Die Ehefrau
Die Scham hüllte sie ein wie eine muffige Wolldecke. Jedes Mal, wenn sie die Straße hinunterging oder ein Geschäft betrat, hatte sie Angst, jemandem zu begegnen, der die Szene im Schwimmbad mit angesehen oder davon gehört hatte.
Sie dachte an die Frau in der Umkleide, die ihr geraten hatte, Hilfe zu suchen, offenbar überzeugt davon, dass sie selbst von ihrem Mann geschlagen wurde.
Ein einziges Mal hatte er sie zu hart angefasst. Im Schlafzimmer, aber nicht aus Leidenschaft. Sie hatten sich wegen irgendetwas gestritten, und plötzlich war er nicht mehr er selbst. Sie hatte gesehen, wie er erschrak, als er begriff, was er beinahe getan hätte.
Ihr Blick fiel auf die Küchenuhr. Zwei Stunden lang hatte sie frenetisch geputzt, als könnte sie dadurch wegscheuern, was mit ihnen geschah.
Seitdem er Hedvig geschlagen hatte, schlief sie bei ihrer Tochter im Bett. Nicht nur ihrer Tochter zuliebe, sondern auch um ihrer selbst willen. Sie weigerte sich, weiterhin das Bett mit ihm zu teilen. Und heute Morgen war sie mit dem Gefühl aufgewacht, dass ihre Ehe vorbei war.
Das Unbehagen und die Einsamkeit, die sie in den Monaten nach Hedvigs Geburt empfunden hatte, waren wieder zurück. Damals, vor zwölf Jahren, war er unter der Verantwortung zusammengebrochen. Er glaubte, nicht in der Lage zu sein, sich um ein Kind zu kümmern, hatte er behauptet.
Am schlimmsten war für ihn die Angst, wie seine Eltern zu werden, nicht präsent, oder schlimmer noch: unberechenbar und psychotisch.
Irgendwann war es besser geworden, und sie hatte beschlossen, ihrer Beziehung noch eine Chance zu geben, erleichtert darüber, nicht als alleinerziehende Mutter einer neugeborenen Tochter dazustehen. Vielleicht, dachte sie jetzt, war das die schlechteste Entscheidung gewesen, die sie je getroffen hatte. Jacobs Geburt zwei Jahre später hatte er allerdings wesentlich besser und ohne psychischen Zusammenbruch überstanden.
Sie stellte den Wischmopp beiseite und wusch sich die Hände.
Sie musste ihre Gedanken ordnen.
Und das ging morgens am besten, zumal an einem freien Tag wie diesem, wenn sie gleichzeitig praktische Dinge erledigen konnte. Sie griff nach dem Scheuereimer, füllte ihn mit Wasser und begann den Boden zu wischen. Nach einer Weile war es, als sähe sie sich selbst von oben, wie sie manisch den Küchenboden wischte. Noch immer mahlten die Gedanken.
Was würde sie für ein Leben führen? Und wo sollten sie wohnen? Wenn er darauf bestand, hier in Österlen zu bleiben, musste sie das wohl auch.
Sie würde diejenige sein, die den Kindern sagen musste, dass sie alles aufgeben und umziehen mussten.
All die schwierigen Entscheidungen und Fragen machten sie ganz schwindlig, und sie setzte sich auf die weiße Küchenbank. Beugte den Kopf nach vorn und spürte, wie die Tränen kamen. Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Musste handlungsfähig bleiben.
Vielleicht sollte sie es Karin erzählen. Aber erst musste sie einen Plan haben, sich überlegen, wie sie praktisch vorgehen
sollte. Das Haus zu verkaufen konnte dauern, Österlen war schließlich nicht Malmö. Sie musste es durchrechnen und auch Kontakt mit der Bank aufnehmen, um sich über ihre Kreditsituation zu informieren. Ohne festen Job konnte es schwierig werden.
Sie ging zum Esstisch, setzte sich und klappte den Laptop auf. Überflog die Nachrichtenseiten, um sich ein bisschen abzulenken, vermochte sich aber nicht wirklich zu konzentrieren. Schließlich öffnete sie den Ordner mit seinen Fotos. Es widerstrebte ihr, sich in seine Angelegenheiten zu mischen, doch sie musste es tun, wenn sie es verstehen wollte.
Zum zweiten Mal sah sie sich die Bilder an. Einige der Kinderfotos waren in Österlen aufgenommen worden, auf Radtouren und Wanderungen durch den Buchenwald.
Auf einem Foto saß er auf einer gemusterten Decke im Gras. Unmöglich zu erkennen, wo das gewesen war. Eine Wiese am Meer, vermutete sie.
Er wirkte fröhlich. Wie alt mochte er da gewesen sein? Elf? Ähnlich wie ihre Tochter Hedvig heute. Die Frau war nur von hinten zu sehen, dunkles, kräftiges Haar in einem langen Zopf. Es war wahrscheinlich das einzige Foto aus der Kindheit ihres Mannes, auf dem er glücklich aussah. In seiner Ursprungsfamilie war nicht fotografiert worden, wahrscheinlich gab es nicht so viele glückliche Momente, die man hätte verewigen können. Er hatte ihr erzählt, dass es eine kurze glückliche Phase in seiner Kindheit gegeben hatte, als er ungefähr zehn gewesen war. Sie nahm an, dass es in einer der Pflegefamilien gewesen war, in die man ihn gesteckt hatte, bevor er, wie er es ausdrückte, »gezwungen wurde, wieder zu seiner Mutter zurückzugehen«.
Wenn er von seiner Kindheit erzählte, ging es selten um Details, doch diesen bestimmten Moment hatte er genau geschildert, wie wütend er auf die Ämter gewesen war, die nur
die biologische Verwandtschaft gesehen hätten. Er hatte nie zurückgewollt, zurück zu ihr.
Im Ordner befand sich noch ein weiteres Dokument. Sie lehnte sich zurück und starrte auf den Bildschirm. Spürte, wie das verschwitzte T-Shirt an ihrem Rücken klebte. Sie sollte duschen, bevor sie Hedvig zum Training fuhr, sie und Jacob konnten jeden Moment nach Hause kommen.
Doch zunächst öffnete sie das Dokument. Anscheinend hatte er mehrere Mails kopiert und gespeichert, die von seinem fünf Jahre älteren Bruder stammten. Einem Bruder, der früh von zu Hause ausgezogen und so dem Schlimmsten entgangen war, wie ihr Mann immer behauptet hatte.
Sie waren kurz und förmlich, es ging um Alltägliches wie die Kinder und die Arbeit. Rasch überflog sie den Text und blieb dann an ein paar Zeilen hängen.
Nein, das stimmt so nicht. Mama war krank, sie konnte sich nicht um uns und um den Haushalt kümmern, am Ende eigentlich um gar nichts mehr. Aber sie hat uns nicht geschlagen, daran kann ich mich nicht erinnern. Wenn sie jemandem wehgetan hat, dann am ehesten sich selbst. Du bringst da irgendetwas durcheinander.
Sie las die Mail noch einmal.
Die Haustür öffnete sich, Jacob oder Hedvig mussten gekommen sein. Sie schloss den Ordner und klappte den Rechner zu, bevor sie in den Flur ging.
Jacob wollte nur seine Fußballschuhe holen und lief gleich wieder nach draußen.
Sie konnte an nichts anderes als an diese Mail denken, während sie zurück ins Wohnzimmer ging.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Geschwister unterschiedliche Erinnerungen daran hatten, was in ihrer Kindheit passiert war. Sie und ihre Schwester zum Beispiel konnten sich endlos darüber streiten, wer wem immer die Sachen
weggenommen hatte. Doch konnte man sich in einem so grundlegenden Punkt uneinig sein, ob die Mutter einen geschlagen hatte oder nicht? Oder war der große Bruder verschont geblieben, weil er aufgrund des Altersunterschieds früher ausgezogen war? Instinktiv wusste sie, dass es besser war, ihren Mann nicht darauf anzusprechen. Sie musste andere Wege suchen, um die Wahrheit herauszufinden.
Ihr fiel eine Schulfreundin ein, Caroline, die inzwischen Sozialsachbearbeiterin in Malmö war. Wenn es jemanden gab, der ihr in dieser Angelegenheit helfen konnte, dann war es Caroline.