Tess setzte sich aufs Sofa und legte die Füße hoch. Es war acht Uhr abends und bereits dunkel, obwohl die Uhren schon auf Sommerzeit umgestellt worden waren. Nach ihrem Treffen im Malmö Live
hatten Mette und sie keinen Kontakt mehr gehabt. Sie hatte ein paarmal angefangen, ihr eine SMS
zu schreiben, sie jedoch nie beendet. Sie wollte sie gerne wiedersehen, doch wenn sie jetzt die Initiative ergriff, versprach sie damit etwas, von dem sie nicht sicher war, ob sie es würde halten können. Zumindest noch nicht.
Sie nahm ihr Handy und betrachtete das Foto von Mette, das diese ihr ganz zu Anfang geschickt hatte. Wenn sie sich nicht bald bei ihr meldete, konnte es sein, dass sie sie verlor, das war ihr durchaus bewusst. Mette würde weiterfliegen und eine andere treffen. Niemand war unersetzlich, und auch wenn das Angebot auf ihrem Markt begrenzter war, war es doch deutlich größer als vor Erfindung der Dating-Apps.
Am liebsten hätte Tess sich einfach einen guten Film angeschaut und sich einen entspannten Sofaabend gegönnt. Sie überlegte, ob sie vorher ihre Schwester anrufen und ihr erzählen sollte, dass sie vielleicht schwanger war. Doch im Moment fühlte es sich absolut nicht so an. Wenn es aber doch geklappt hatte, würde sie bald jemanden brauchen, mit dem sie darüber reden konnte.
Tess konnte sich selbst nicht erklären, warum es ihr so schwerfiel, sich an den Gedanken zu gewöhnen
.
Vielleicht, weil sie ganz tief in ihrem Innern doch lieber nicht schwanger werden wollte. Ein dicker Schwangerenbauch passte einfach nicht zu ihrem Selbstbild, dagegen konnte sie einfach nichts tun. Doch in ihrer Situation war ihre einzige Möglichkeit, das Kind selber auszutragen. Eine Adoption war für sie ausgeschlossen, in ihrem Alter bekam man in Schweden nur noch selten die Erlaubnis, ein Kind zu adoptieren. Im Ausland war es sogar noch schwieriger. Erst kürzlich hatte sie gelesen, dass es nur in sechzehn Prozent aller Länder auf der Welt überhaupt erlaubt war, als gleichgeschlechtliches Paar ein Kind zu adoptieren. Und sie war alleinstehend. Ein Sechser im Lotto war wahrscheinlicher, als in ihrer Situation die Erlaubnis zu bekommen, ein ausländisches Kind zu adoptieren.
Tess scrollte auf dem Handy durch die Filmkanäle. Plötzlich piepte es. Eine Nachricht von Marie. Sie öffnete sie und war sofort hellwach. Sie enthielt lediglich eine Null.
Sie wählte Maries Nummer, doch sie nahm den Anruf nicht an. Rasch überflog sie ihre Unterhaltungen der letzten Tage, fand aber keine Adresse von Janne, mit dem Marie an diesem Abend verabredet war.
Tess versuchte noch einmal, sie anzurufen, gab nach dem fünfzehnten Klingeln jedoch auf. Was sollte sie tun? Marie brauchte offensichtlich Hilfe. Sie hatte selbst gleich das Gefühl gehabt, dass dieser Janne nicht gut für Marie war, sie hätte versuchen müssen, sie von einem weiteren Date mit ihm abzuhalten.
Tess stand auf und ging zum Wohnzimmerfenster.
Noch am Morgen hatten sie darüber gesprochen, dass Marie ihr die Adresse nennen musste. Doch dann war so viel los gewesen, dass sie es schlicht und einfach vergessen hatten.
Tess überlegte. Hatte Marie gesagt, in welchem Stadtteil er wohnte? Denn sie waren doch bei ihm zu Hause
verabredet? Doch wie sehr sie sich auch anstrengte, es wollte ihr nicht einfallen.
Marie ging wirklich viel zu große Risiken ein. Wie konnte sie sicher sein, dass sie nicht auf Männer traf, mit denen sie dienstlich schon einmal zu tun gehabt hatte, die sie auf Tinder wiedererkannten und nun Rache an ihr nehmen wollten?
Sie schloss die Wohnungstür auf und versuchte auf dem Weg in die Tiefgarage weiter, Marie zu erreichen.
Sie wusste nicht, wo sie nach ihr suchen sollte, aber es fühlte sich besser an, herumzufahren, als mit dem Handy in der Hand zu Hause zu sitzen und zu warten.
Als Erstes fuhr sie in die Spångatan am Triangeln, wo Marie und ihr Ex-Mann Tomas die Wohnung angemietet hatten, die sogenannte Zelle, in der sie abwechselnd wohnten. Tess war sich ziemlich sicher, dass sie sich nicht dort verabredet hatten. Marie verbrachte nicht mehr Abende in diesem Gefängnis als unbedingt notwendig.
Tess parkte auf der Straße und stieg aus, um nachzusehen, ob in Maries Fenster Licht brannte. Vielleicht hätte sie doch auf dem Revier vorbeifahren und ihre Dienstwaffe mitnehmen sollen.
Alle Fenster im dritten Stock waren dunkel. Also beschloss Tess nach einer Weile, zu Maries Haus in Kirseberg zu fahren. Vielleicht hatten sie sich ja dort verabredet. Es war jedenfalls das Einzige, was ihr jetzt noch einfiel.
Eine Viertelstunde später war Tess in Rostorp am Bejers Park in Kirseberg. Maries rotes Backsteinhaus lag ganz am Ende der Straße. Tess wusste, dass sie ein paar Nächte dort schlafen wollte, während Tomas mit den Kindern verreist war.
Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Licht brennen möge und drinnen alles in Ordnung war. Dass sich am Esstisch zwei Menschen gegenübersaßen und bei Kerzenlicht
gepflegt miteinander plauderten. Obwohl sie wusste, dass Maries Dates normalerweise anders aussahen. Doch was sie vorfand, war ein dunkles Haus, an dem lediglich die Außenbeleuchtung flackerte.
Tess parkte ein und stieg aus dem Auto. Das hohe schmiedeeiserne Tor stand offen, und sie ging hinein, klopfte an der Haustür. Dann zog sie ihr Handy heraus, wählte Maries Nummer und ließ es endlos klingeln, ohne Erfolg. Schließlich ging sie ums Haus herum und auf die Terrasse, um in Schlaf- und Esszimmer hineinzuschauen. Nichts deutete darauf hin, dass jemand zu Hause war. Tess drehte sich um und blickte über Maries Garten. In einer Ecke war der Rasen immer noch kahl, dort hatte früher ein Trampolin gestanden.
Eine Weile lang stand sie ratlos vor Maries verlassenem dunklen Haus. Sie konnte hier nicht ewig Wache halten. Es blieb ihr nichts übrig, als wieder nach Hause zu fahren.
Tess war schon beinahe eingeschlafen, als ihr Handy klingelte.
»Zweiundzwanzig entgangene Anrufe – was ist denn los?« Marie klang aufrichtig erstaunt.
»Wo bist du?«
»Zu Hause. Ist irgendwas passiert?«
»Passiert? Schon vergessen, dass du mir eine Null geschickt hast?«
»Ach das. Einen Moment lang war mir etwas mulmig, aber dann hat sich die Situation wieder entspannt.«
»Entspannt?«
»Ich wollte nur, dass du anrufst, um einen Grund zu haben, gehen zu können.«
Tess setzte sich im Bett auf.
»Also ich glaube, wir sind uns nicht ganz einig, was diese Null bedeutet. Ich bin heute Abend eine Stunde lang vor deinem Haus auf und ab gelaufen.
«
»Ups. Aber ich war doch gar nicht dort.«
»Nein, das habe ich auch gemerkt. Eine Null bedeutet Alarm, ich brauche sofort Hilfe.
Ich habe mir wahnsinnige Sorgen gemacht, dachte, du wirst gerade zerstückelt oder so.«
Marie lachte, schien dann aber einzusehen, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze war.
»Es tut mir leid.«
Schweigen.
»Es tut mir wirklich leid, das war echt dumm von mir. Ich hatte völlig vergessen, dass ich dir die Null geschickt hatte. Und als ich auf mein Handy geschaut habe, dachte ich, du wärst irgendwie durchgedreht.«
»Hast du getrunken?«
»Nicht mehr als sonst. Aber wir sind dann aus seiner Wohnung raus und in die Kneipe gegangen. Ich wollte ihm sagen, dass es nichts wird mit uns, und wollte dieses Gespräch lieber nicht bei ihm zu Hause führen. Als ich das hinter mich gebracht hatte, habe ich alles andere vergessen.«
Tess seufzte.
»Okay. Aber du weißt schon, wie das mit Peter und dem Wolf war?«
»Nein?«
»Nachdem Peter ein paarmal zu oft ›der Wolf kommt!‹ gerufen hatte, glaubte ihm niemand mehr. Und dann kam der Wolf tatsächlich.«
»Ach so, das. Ich habe kapiert, dass es nicht in Ordnung war, noch mal sorry.«
Nachdem sie aufgelegt hatten, legte Tess sich frustriert ein Kissen aufs Gesicht. Wenn das so weiterging, musste sie demnächst Tomas anrufen und ihn bitten, Marie wieder zurückzunehmen.