Die Stimmung im Cold-Case-Büro war angespannt. In einer knappen halben Stunde würden Tess und Kerstin Jacobsson vor die Presse treten und über den Mord an Unni Holm in Österlen berichten und auf den vermutlichen Zusammenhang zwischen den Fällen hinweisen.
Seit dem frühen Morgen klingelte Tess’ Handy ununterbrochen.
Die Spekulationen waren voll im Gange, und es war bereits durchgesickert, dass die Umstände, unter denen Unni Holm gefunden worden war, spektakulär gewesen sein sollten.
»Um zu zeigen, dass wir alles im Griff haben, könnten wir mit einem Teil des vorläufigen Täterprofils an die Öffentlichkeit gehen, das wir inzwischen bekommen haben«, sagte Sandra Edding.
Morris schüttelte empört den Kopf.
»Ein Profil darf nie an die Öffentlichkeit gelangen, es ist intern und soll bei den Ermittlungen helfen. Der Täter darf auf keinen Fall erfahren, was wir über ihn wissen.«
Sandra Edding seufzte.
»Ich weiß, aber man muss das doch auch von Fall zu Fall entscheiden können. Ein paar Dinge über ihn publik zu machen, könnte seine Identifizierung erleichtern.«
Carsten Morris blickte auf die Tischplatte und ließ seine chinesischen Kugeln durch die Hand gleiten
.
»Das große Problem bei diesem Fall ist die Verbindung zwischen den beiden Opfern«, sagte Kerstin Jacobsson, die eine Weile schweigend zugehört hatte. »So sehr wir auch gesucht haben, Max, Mischa und Unni haben offensichtlich nie in derselben Stadt gelebt oder sonst irgendeinen gemeinsamen Nenner.«
Carsten Morris drehte sich zu ihr um.
»Es gibt ihn aber auf jeden Fall. Sonst hätten die Opfer nicht so ausgesehen. Irgendwann in seinem Leben ist er ihnen allen begegnet.«
»Können wir das Profil noch einmal durchgehen?«, bat Tess und nickte Morris zu.
Er legte die Füße auf den Stuhl vor sich, die Kugeln in seiner Hand klimperten leise.
»Wie Sie wissen, ist es ein vorläufiges Profil«, sagte er. »Wir bräuchten sehr viel mehr Zeit. Ausgehend von meinen Gesprächen mit den Technikern und eigenen Besuchen der Tatorte glaube ich jedoch, dass es einigermaßen treffend ist.«
Morris deutete auf den Bildschirm.
»Er kennt sich gut in der Gegend aus, wohnt hier oder hat zumindest hier irgendwo gewohnt. Lebt möglicherweise ein ganz normales Leben, ist fähig zu sozialem Umgang. Auch wenn ich bezweifle, dass in seinem Umfeld nicht irgendjemand Verdacht schöpft. Was das Alter angeht, tippe ich auf um die vierzig. Er ist Rechtshänder, praktisch veranlagt, hat Zugang zu einem eigenen Auto und ist physisch stark.«
Morris ließ den Blick durchs Zimmer schweifen.
»Das Motiv liegt in ihm selbst, er rächt sich für Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren sind, und dass seine Opfer ein junger Mann und zwei Frauen um die sechzig sind, hat in dem Zusammenhang irgendeine Bedeutung.«
Edding sah ihn skeptisch an. Tess fand ihre Reaktion nur
verständlich. So ging es jedem, der ihm zum ersten Mal begegnete.
»Vor allem der Lehm ist etwas, das ganz persönlich mit ihm zusammenhängt. Er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat und dass Sie ihm auf den Fersen sind. Das zeigt er, indem er dem letzten Opfer Lehm in den Hals stopft. Und was die Vorgehensweise angeht … Tja, die ist sehr unterschiedlich, erstechen, erwürgen, ersticken. Doch das ist wahrscheinlich der jeweiligen Situation geschuldet. Die beiden letzten Morde waren definitiv geplant, was Max angeht, bin ich mir nicht so sicher, da hat er wohl selbst nicht damit gerechnet, dass es so ausgehen würde.«
Erneut ließ er den Blick schweifen.
»Seine Risikobereitschaft ist deutlich gestiegen. Er rechnet damit, gefasst zu werden, aber erst will er zu Ende bringen, was er begonnen hat. Und es ist nicht sicher, dass es schon vorbei ist. Im Grunde die gefährlichste Sorte, gut möglich, dass er noch eine ganze Reihe Namen auf seiner Liste hat.«
Sandra Edding unterbrach ihn.
»Damit an die Öffentlichkeit zu gehen wäre in der Tat reiner Selbstmord, da stimme ich Ihnen zu.«
Morris ignorierte ihren Einwurf, legte sich eine Hand auf die Brust und fuhr fort.
»Die Orte sagen etwas ganz Bestimmtes über ihn aus. Er hat eine Art narzisstisches Bedürfnis, dass Sie verstehen, was ihm widerfahren ist. Und was ihn besonders kennzeichnet, sind die spektakulären Szenerien, die er für Sie erschafft. Er ist kein dummer, zufällig handelnder, unorganisierter Täter. Er weiß ganz genau, was er tut. Deshalb liegt eines seiner Opfer an einer Straße, die Arme ausgebreitet, fast wie ein Engel. Und das zweite unter einem Leuchtturm, den er wieder zum Laufen gebracht hat. Und sie …«
Carsten Morris hielt inne und sah sie der Reihe nach an
.
»Die erste Frau, die Künstlerin, sollte nicht dort liegen, wo sie gefunden wurde. Etwas muss schiefgegangen sein. Sie sollte neben dem Leuchtturm sitzen, sodass ihr Körper erleuchtet würde, genau wie bei der zweiten Frau im Wasserfall, auf die er einen Scheinwerfer gerichtet hat.«
Alle schwiegen.
»Okay«, sagte Sandra Edding schließlich und schaute auf die Uhr. »Wenn ich das richtig sehe, gehen wir davon aus, dass er eine Narbe hat, von einer Verletzung, die er sich in Zusammenhang mit der Ermordung von Max zugezogen hat. Diese Narbe ist doch wahrscheinlich etwas, womit wir an die Öffentlichkeit gehen können, etwas ganz Konkretes. Was noch? Das Alter? Seine Ortskenntnis?«
Da Morris ihrem Blick auswich, sah sie Tess an. Tess begriff, wie sie dachte, erinnerte sich aber zu gut, wie es ausgegangen war, als beim letzten Mal Teile von Morris’ Täterprofil an die Medien durchgesickert waren.
Er hatte seine Sachen gepackt und war wieder nach Dänemark zurückgefahren.
Pressesprecherin Westford klopfte an und trat ein.
»Da unten ist jetzt schon die Hölle los. Ich musste mehrere Journalisten abweisen, es gibt einfach nicht genug Platz für alle. Sollen wir noch warten?«
Tess schaute auf die Uhr und stand auf.
»Nein, wir ziehen das jetzt durch.«
Westford nickte zu Carsten Morris hinüber.
»Sie fragen, ob der dänische Profiler an den Ermittlungen beteiligt ist.«
»Nein«, sagte Morris und schüttelte den Kopf. »Ich bin gar nicht hier.«
Sandra Edding sah ihn fragend an.
»Ich schlage vor, wir machen deutlich, dass wir ein ziemlich genaues Bild von der Persönlichkeit des Täters haben,
ein vorläufiges Profil«, sagte Tess. »Auf Details werde ich aber nicht eingehen.«
Morris nickte, und sie brachen die Besprechung ab.
Tess und Kerstin Jacobsson traten mit Westford auf den Flur, um mit dem Aufzug nach unten zu fahren, wo die Pressekonferenz stattfinden sollte.
An den Aufzügen holte Morris sie ein.
»Vergessen Sie nicht, dass er oder seine Angehörigen Sie sehen werden. Sprechen Sie ihn gerne direkt an, wenn es sich ergibt«, sagte er leise und verschwand.
Tess nickte und stieg in den Fahrstuhl.