»Du erinnerst dich, dass du sie angerufen hast, oder?«, fragte Marie am Telefon.
Tess brach der kalte Schweiß aus. Sie griff nach dem Wasserglas neben ihrem Bett.
»Wie bitte?«
»Du hast Sandra Edding angerufen.« Marie lachte. »Okay, du hast es vergessen. Aber du warst einigermaßen fit, das habe ich gemerkt, als du zurückkamst.«
Ganz tief in ihrem verkaterten Hirn tauchte ein deutlicher Flashback des Telefonats mit ihrer Chefin auf, aber es hätte ebenso gut vor vielen Jahren stattgefunden haben können oder in einem Traum.
»Ich frage mich ja, was ihr zu besprechen hattet, du warst ganz schön lange weg.«
»Hör auf, ich habe jetzt schon furchtbare Kopfschmerzen.«
Marie hüstelte. »So schlimm?«
»Furchtbar. So einen Kater hatte ich nicht mehr, seit wir in der achten Klasse Stroh-Rum im Schlosspark getrunken haben.«
»War lustig, Tess Hjalmarsson mal völlig außer Rand und Band zu sehen. Mir geht es übrigens prima, wahrscheinlich vertrage ich einfach mehr. Was macht dein Bauch?«
»Mein Nicht-Bauch? Es fühlt sich … irgendwie traurig an. Ich hatte angefangen zu hoffen, dass es klappt. Aber heute bin ich natürlich erleichtert, dass da nichts ist.
«
»Klar, sonst wärst du nicht du. Aber tu, was ich dir gesagt habe, fahr hin und versuche es noch mal. Oder finde eine Partnerin, die es macht. Oder eine, die schon Kinder hat.«
Tess antwortete nicht.
Nachdem sie aufgelegt hatten, schaute sie auf die Uhr. Sie hatte verschlafen, es war bereits halb neun.
Ihr brummte der Schädel. Sie fürchtete sich davor, ihre Anrufliste der letzten Nacht zu öffnen. Das Gespräch mit Sandra Edding hatte siebzehn Minuten gedauert. Hatte sie wirklich so lange mit ihr über ihre neuesten Gedanken zum Fall gesprochen? Noch dazu in alles andere als nüchternem Zustand.
Sie lehnte sich an das Kopfteil ihres Betts, seufzte tief und nahm noch eine Aspirin. Nein, so sehr sie sich auch konzentrierte, sie konnte das Gespräch nicht vollständig rekonstruieren. Zuerst hatten sie über die Befragung von Anna und die neuen Erkenntnisse geredet, die zu einem möglichen Motiv geführt hatten. Aber dann? Es dauerte ja keine siebzehn Minuten, das zu erzählen. Oder hatte sie so langsam gesprochen?
Tess stöhnte.
Sie hatte ihr doch wohl hoffentlich nicht von ihrer vermeintlichen Schwangerschaft erzählt, die sie nicht einmal ihrer Schwester anvertraut hatte? So viel Selbstbeherrschung hatte sie doch hoffentlich aufgebracht?
Sie schleppte sich aus dem Bett und hielt sich dabei den Kopf. Der Umzug, sie hatten darüber gesprochen, dass Sandra Edding nach Malmö ziehen wollte. Aber warum? Wahrscheinlich spielte es keine Rolle. Ihr blieb nichts übrig, als den Stier bei den Hörnern zu packen und ihre Chefin anzurufen.
Sandra Edding nahm sofort ab.
»Guten Morgen.
«
Tess kam sofort zur Sache.
»Ich muss mich für gestern entschuldigen. Also, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, wir hatten wohl ein bisschen viel getrunken. Es tut mir leid, dass ich so spät noch angerufen habe und …«
Sandra unterbrach sie.
»Dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen, im Gegenteil. Es war ein sehr nettes und interessantes Gespräch. Du kannst mich gerne öfter anrufen.«
»Okay.«
»Aber du hast die Besprechung verpasst, die ich für acht Uhr angesetzt hatte.«
Tess wurde eiskalt. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht.
»Angesichts der Fortschritte, die ihr gestern erzielt habt, will ich daraus aber kein großes Ding machen. Erinnerst du dich eigentlich noch, worüber wir gesprochen haben?«
Tess lachte.
»Ja, klar.«
»Gut. Ich habe jetzt nämlich eine Besprechung mit der Polizeiführung und dem Polizeidirektor und wollte ihnen darlegen, dass uns ein Durchbruch gelungen ist und dass wir im Mordfall Max Lund kurz vor der Verhaftung eines Tatverdächtigen stehen … Und dass wir außerdem in Zusammenarbeit mit der Polizei Ystad Fortschritte bei den beiden aktuellen Morden vorweisen können. Deshalb hoffe ich wirklich, dass es stimmt, was du mir erzählt hast. Auch wenn du manche Dinge ›noch nicht ganz zu Ende gedacht hast‹, wie du meintest.«
»Ja, ja, ich glaube, wir sind nah dran.«
»Klingt super«, sagte Sandra und legte auf.
Tess ging ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Nachdem sie sich angezogen hatte, ging sie auf den Steg unterhalb des Hauses und schaute aufs Meer hinaus. Auf dem
Öresund ging, wie üblich, ein starker Wind, und sie ließ sich von ihm die Haare zerzausen und den Kopf freipusten. Sie ging am Kai entlang bis zum Ribersborgstrand, drehte dann um und ging wieder zurück. Dabei versuchte sie fieberhaft, ihre Gedanken vom Vortag zu rekonstruieren. Hatte sie wirklich logisch gedacht, oder waren ihre Schlüsse das Ergebnis von zu viel Alkohol gewesen?
Wieder vor ihrem Haus, blieb sie stehen. Endlich hatte sie wieder das Gefühl, sich auf ihre Intuition verlassen zu können. Und dass sie reagieren musste, wenn ihre inneren Alarmglocken läuteten.
Sie war sich ganz sicher: Sie mussten noch mal rausfahren und mit Joe sprechen, und zwar sofort. Außerdem wusste sie genau, wen sie dabei an ihrer Seite haben wollte.
Tess zog ihr Handy heraus und rief Lundberg an.
»Kannst du alles stehen und liegenlassen und sofort mit mir mitkommen?«
Er schwieg, und sie hörte, wie er aufstand.
»Ja. Worum geht es?«
»Ich dachte, du möchtest vielleicht bei der Festnahme dabei sein? Oder zumindest bei der ausschlaggebenden Vernehmung?«
Wieder schwieg er kurz. Dann sagte er:
»Ja. Ja, klar, ich komme gerne mit.«