Tess hielt am Straßenrand und rannte zu Lundberg, der hinter ihr gehalten hatte. Ein weiteres Donnern hallte über die Küste, als sie die Beifahrertür hinter sich zuschlug.
Lundberg hatte gerade ein Telefonat beendet.
»Erik Dahlén«, erklärte er und hielt das Handy hoch. »Er sagt, er habe Frank nie auf der Party gesehen.«
»Warum hat er gelogen?«
»Er war davon ausgegangen, dass Frank da war, weil er behauptet hatte, Joe gesehen zu haben. Es war voll, es wurde reichlich Alkohol getrunken, und niemand erinnert sich noch genau an alle Details.«
»Und in Wahrheit hat Erik Frank also nie dort gesehen?«
»Nein, wenn man glauben kann, was er sagt. Vielleicht kam Frank tatsächlich zur Party, aber viel später. Aber als Erik erzählte, wie Joe aufgetaucht und erst mal duschen gegangen war, nutzte Frank die Gelegenheit zu bestätigen, dass er es ebenfalls gesehen hatte. Diese Lüge rettete ihn und verschaffte ihm ein falsches Alibi für den Zeitpunkt, als er eigentlich noch im Straßengraben saß und auf Max einstach.«
Tess blickte zum dunklen Himmel hinauf. Ihre Kopfschmerzen ließen allmählich nach.
»Konnte er dir sagen, wo Frank jetzt ist?«
»Nein, sie hatten vor nächster Woche keine neuen Aufträge mehr. Doch er bestätigte noch etwas Interessantes. Sowohl er als auch Frank führen bei ihrer Arbeit einfache
Elektrikeraufgaben durch. Einen Sicherungskasten könnten sie auf jeden Fall reparieren, meinte er. Wie zum Beispiel in einem Leuchtturm.«
Lundberg und Tess blickten schweigend aufs Meer.
»Wie lange dauert es, von hier nach Brantevik zu fahren?«
»Elf Minuten, wenn wir nicht wieder hinter einem Traktor landen.«
»Wir lassen meinen Wagen stehen und fahren mit deinem«, sagte Tess und schloss ihr Auto per Knopfdruck ab.
Als sie gerade losfuhren, rief Marie an.
»Ich sitze gerade über den Akten«, sagte sie, »1989 war Frank Ögren zehn Jahre alt. Sein Vater war abgehauen und seine Mutter schizophren, sie schaffte es nicht, sich um Frank und seinen älteren Bruder zu kümmern. Also landete der kleine Frank in einer Pflegefamilie. Und ich glaube, ihr könnt euch denken, bei wem.«
»Mischa Lindberg?«, fragte Tess.
»Bingo. Mischa war damals dreißig und lebte allein in Österlen. Das war, bevor sie mit dem charismatischen Andy Sartz zusammenkam. Ich habe also auch ihn angerufen, um zu hören, was er über ihr Leben wusste. Und er erinnerte sich, dass sie ein paar Pflegekinder gehabt hatte.«
»Warum hat er uns das nicht vorher schon erzählt? Wir haben beim letzten Mal doch lange über ihren dringenden Kinderwunsch gesprochen. Vielleicht war es für sie eine Art Ersatz?«
»Ja, was weiß ich. Er behauptet, er hätte nicht daran gedacht, weil sie nie wieder darüber geredet hätten. Es habe keine weitere Bedeutung für ihr Leben gehabt.«
»Wie viele Kinder hatte sie denn in Pflege?«
»Laut den Papieren, die ich aus Simrishamn bekommen habe, drei. Frank lebte ungefähr zwei Jahre bei ihr. Andy kannte die Namen der Kinder nicht, er hat sie nie kennengelernt
und auch nicht mitbekommen, dass Mischa später im Leben noch mal Kontakt zu ihnen hatte.«
»Danke«, sagte Tess. »Wir sind jetzt auf dem Weg zu Franks Haus.«
»Es gibt noch etwas. Ratet mal, wer die Entscheidung getroffen hat, dass Frank dorthin kam und auch dass er später wieder zu seiner Mutter musste?«
»Ich schätze mal, Unni Holm.«
»Wieder Bingo. Der Mutter ging es besser, und sie sollte eine neue Chance bekommen, wovon Frank nicht so begeistert gewesen zu sein scheint.«
Sie passierten das Ortseingangsschild von Brantevik und rollten in das kleine Fischerdorf ein. Ein starker Geruch nach Algen drang ins Auto.
»Wenn ihr schon mal da seid«, sagte Marie, »könnt ihr gleich überprüfen, ob es noch Spuren von Mischa Lindberg im Haus gibt.«
»Wie meinst du das?«
»Sie wohnte in dem Haus, während Frank als Pflegekind bei ihr war.«
Tess verschlug es die Sprache. Sie schaute auf den malerischen Pier mit der Räucherei und den weißen Fischerbooten.
»Du meinst, Frank hat das Haus in Brantevik gekauft, in dem er als Zehnjähriger mit Mischa Lindberg gelebt hat?«
»Psycho, oder?«
Tess sah Lundberg an.
»Gute Arbeit«, sagte sie zu Marie.
Sie schalteten das Navi ein und folgten den schmalen Straßen durch Brantevik. Tess rief Kerstin Jacobsson an und berichtete ihr, was sie herausgefunden hatten und wohin sie gerade fuhren. Sie gab ihr die Adresse und bat sie um Verstärkung, falls etwas schiefgehen sollte. Sie kamen durch den
ältesten Ortsteil und bogen in die Straße ein, in der Franks Haus lag.
Die Häuser standen dicht beieinander, und ganz am Ende entdeckten sie sein weißes Haus, das von einem blauen Holzzaun umgeben war. Sie parkten ein Stück entfernt und stiegen aus. Die Apfelbäume im Garten hatten schon angefangen zu blühen, und die Wiese war voller Löwenzahn.
Grelle Blitze jagten über den Himmel, und die Luft stand seltsam still.
»Bewegt sich im Haus irgendetwas?«
Lundberg schüttelte den Kopf.
An der Garage standen zwei Kinderfahrräder.
Tess ging zur Haustür und klingelte.
»Sieht verlassen aus«, sagte Lundberg.
Tess blickte sich um.
»Was jetzt? Die Kinder können noch in der Schule sein, und die Frau ist vielleicht arbeiten.«
»Frida Ögren heißt sie«, las Lundberg von seinem Handy ab.
Sie gingen um das Haus herum. Auf der Rückseite befand sich eine Terrasse und ein kleines Stück Wiese.
»Erik Dahlén meinte am Telefon, Frank hätte eine Hütte in Fyledalen, wo er oft hinfahren würde, um zu malen.«
»Fyledalen? Wo liegt das?«
»Ein Naturschutzgebiet weiter landeinwärts, westlich von Tomelilla.«
Tess ging zum Auto zurück.
»Okay, lass uns hinfahren.«