Das Tal wirkte wie eine lichtgrüne Kapelle, mit seinen steilen, von dichtem Buchenwald bewachsenen Hängen zu beiden Seiten der Straße. Ganz unten schlängelte sich das Flüsschen Fyleån entlang, das sich in mehrere Richtungen verzweigte.
Lundberg hatte die Adresse von Franks Hütte im Grundbuch gefunden, und laut Navi mussten sie bald da sein. Überrascht stellten sie fest, dass die Straße in einem Wendehammer endete.
Tess schlug resigniert mit beiden Händen auf das Lenkrad und hielt an. Kerstin Jacobsson rief an.
»Seid ihr schon da?«
»Nein, wir suchen immer noch, wir müssen uns verfahren haben.«
»Wir haben einen Wagen in Brantevik, der das Haus dort überwacht, ein anderer ist unterwegs zu euch nach Fyle. Ich müsste mit meiner Kollegin ebenfalls bald da sein.«
Sie habe versucht, Franks Frau Frida auf der Arbeit zu erreichen, aber auch sie habe heute frei. Auch mit der Schule der Kinder habe sie Kontakt aufgenommen.
»Frank Ögren hat die Kinder anscheinend gegen Mittag abgeholt und behauptet, die Familie wolle zelten gehen. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen oder etwas von ihnen gehört. Alle ihre Handys sind ausgeschaltet.«
»Irgendwelche Freunde, die wissen könnten, wo sie sind? «
»Die Kollegen in Brantevik befragen gerade die Nachbarn.«
Tess wendete und gab noch einmal die Adresse ins Navi ein. Zelten, dachte sie. Was bedeutete das?
Nach ein paar Hundert Metern zeigte das Navi an, dass sie nach links abbiegen mussten. Eine große Wiese mit grasenden weißen Kühen breitete sich vor ihnen aus. Und ganz hinten, am Waldrand, entdeckten sie ein blaues Holzhäuschen, vor dem ein schwarzer Kombi parkte.
Tess hielt an und setzte in einen kleinen Waldweg zurück. Lundberg nahm ein Fernglas zur Hand, stieg aus und verbarg sich zwischen den Bäumen. Kurz darauf nickte er Tess zu und hob den Daumen. Das Kennzeichen gehörte zu Frank Ögrens Kombi.
Lundberg packte sein Fernglas wieder ein.
»Ansonsten sieht es verlassen aus.«
Das Gewitter war weitergezogen, und obwohl der Regen ausgeblieben war, roch es hier im Tal feucht nach Erde und Buchenwald.
Helle Sonnenstrahlen fielen zwischen den Baumstämmen hindurch. Lundberg rückte die Pistole im Holster zurecht, dann schloss er das Auto ab. Tess fiel ein, dass er die jährliche Schießübung immer so lange wie möglich vor sich herschob.
»Fühlst du dich sicher damit?«, fragte sie und rückte selbst ihre Waffe zurecht.
Lundberg nickte.
Um nicht gesehen zu werden, näherten sie sich der Hütte geduckt und indem sie hinter der Steinmauer Schutz suchten. Über Funk stand Tess mit Kerstin Jacobsson in Kontakt. Sie und die Kollegen würden in zehn Minuten da sein. Abgesehen von der Streife, die ohnehin schon unterwegs war, hatte sie einen weiteren Wagen sowie einen Krankenwagen angefordert .
Etwa zwanzig Meter von der Hütte entfernt blieben Tess und Lundberg stehen. Die blaue Farbe blätterte an mehreren Stellen von den Wänden ab. Auf der Wiese vor dem Haus wuchsen hohe Margeriten, und ein großer Raubvogel flog über das Dach. Tess blickte sich um, konnte aber in der näheren Umgebung keine weiteren Häuser entdecken.
Schweiß rann ihr in den Nacken, hier unten im Tal schien es noch wärmer zu sein als ohnehin schon.
Der laute Schrei einer Frau zerriss die Stille. Tess und Lundberg sahen sich an. Das musste aus der Hütte gekommen sein.
Tess nickte Lundberg zu und lief um die Hütte herum.
Lundberg näherte sich von der anderen Seite. Als er an dem schwarzen Kombi vorbeikam, warf er einen Blick hinein und gab Tess ein Zeichen, dass er leer war. In der Hütte war es wieder still geworden.
Mit der Hand an der Waffe schlich Tess sich heran und legte ein Ohr an die Wand. Von drinnen waren gedämpfte Geräusche zu hören, die Stimmen eines Mannes und einer Frau.
Sie duckte sich unter das Fenster und näherte sich dann der Tür, sie ließ sich nicht öffnen. Lundberg stand auf der anderen Seite neben der Tür, und Tess gab ihm ein Zeichen, dass sie durchs Fenster hineinsehen wollte. Sie hatten keine Zeit, auf Verstärkung zu warten. Als sie einen vorsichtigen Blick hineinwarf, sah sie eine dunkelhaarige Frau auf dem Boden liegen, sie war gefesselt und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Das musste Frida Ögren sein.
Auf ihr lag Frank und hielt ihr Kinn fest in der Hand.
Tess duckte sich erneut und legte noch einmal das Ohr an die Wand.
»Beruhige dich«, hörte sie ihn sagen.
»Wo sind sie?«, schrie Frida. »Wo sind meine Kinder? Du hast kein Recht dazu. «
»Unsere Kinder. Sie sind hier, gleich bringe ich dich zu ihnen. Wir gehen alle zusammen.«
Tess schlich vorsichtig um das Haus herum. Wo waren die Kinder? Hinter der Hütte war etwas mit einer grünen Plane abgedeckt. Sie hob eine Ecke an, konnte aber nichts als Holzscheite entdecken.
Sie hätten das Fernglas mitnehmen sollen. Noch einmal sah sie sich um. Log er seine Frau an, waren die Kinder gar nicht in der Nähe?
Sie blieb stehen und blickte sich noch einmal um. Wo konnten sie sein? Sie merkte, wie ihre Anspannung zunahm. Wo sollte sie zuerst suchen?
Vorsichtig ging sie zur Hütte zurück und gab Lundberg ein Zeichen, dass sie die Kinder nicht gefunden hatte.
Als sie sich wieder umdrehte, entdeckte sie etwas Oranges auf einer Anhöhe zwischen den Bäumen, ein paar Hundert Meter weiter hinten im Wald. Sie rannte in diese Richtung.
Oben auf einem Felsplateau stand ein Zelt. Außer Atem näherte sie sich, blieb stehen und lauschte. Sie fürchtete sich vor dem Anblick, der sich ihr möglicherweise bot, wenn sie den Reißverschluss am Eingang öffnen würde. Sie schloss die Augen und betete, dass die Kinder noch lebten.
Der Reißverschluss klemmte, und sie musste ordentlich daran zerren, um ihn aufzubekommen. Drinnen war es unerträglich heiß und stickig. Sie steckte den Kopf hinein.
Auf einer Decke lagen ein etwa zwölfjähriges Mädchen und ein Junge, der etwas jünger war, dicht nebeneinander auf der Seite. Tess kroch hinein, tastete ihre warmen Körper ab und suchte ihren Puls.
Sie lebten! Tess zitterte am ganzen Körper. Die beiden schliefen tief und fest, ihre Haare waren schweißnass. Vorsichtig griff sie nach dem Arm des Mädchens. Als sie ihn losließ, fiel er schwer herab. Neben den Kindern standen zwei leere Limonadenflaschen, ansonsten war das Zelt leer. Tess kroch wieder nach draußen.
Als sie sich aufrichtete, sah sie Blaulicht in der Ferne. Sie zog ihr Handy heraus und rief Lundberg an.
»Schick mir bitte sofort den Krankenwagen hierher. Die Kinder sind oben auf dieser Anhöhe, in einem Zelt. Sie scheinen Beruhigungsmittel bekommen zu haben und sind bewusstlos. Es eilt.«
Sie wollte die Kinder nicht allein lassen, bis die Sanitäter kamen. Vom Hügel aus sah sie, wie die Polizeiwagen ein Stück von der Hütte entfernt hielten. Ein Krankenwagen parkte hinter ihnen.
Sie überlegte, was sich wohl drinnen in der Hütte abspielte und ob Frank bemerkte, was draußen geschah.
Lundberg lief zum Krankenwagen und gestikulierte in Richtung der Anhöhe, wo sie stand. Die Sanitäter, ein Mann und eine Frau, nahmen einen Koffer aus dem Wagen und rannten in ihre Richtung. Tess deutete auf das Zelt mit den Kindern, und die beiden krochen hinein.
Tess sah, wie Lundberg sich der Hütte näherte, dicht gefolgt von vier Polizisten mit gezogener Waffe.
Gleichzeitig flog die Tür auf und ein Mann rannte hinaus auf die Wiese, es musste Frank Ögren sein.
»Stehen bleiben!«
Der Ruf hallte durch das Tal, doch Frank rannte weiter. Lundberg, der der Hütte am nächsten stand, nahm die Verfolgung auf.
Einer der Kollegen gab einen Warnschuss ab. Aufgeschreckt durch den Knall, rannten die Kühe ans andere Ende der Weide, Richtung Wald.
Für sein Alter war Lundberg schnell, fast hatte er Frank eingeholt.
Aus der Hütte drang ein Schrei .
»Hier bin ich, helfen Sie mir! Er hat die Kinder.«
Frank kletterte über den Zaun auf die Kuhweide, Lundberg hinterher. Tess sah, wie er Franks Hosenbein packte und ihn zu Boden warf. Doch der riss sich los und war schnell wieder auf den Beinen.
Der Abstand zwischen Frank und Lundberg wurde größer, und Tess rannte den Hügel hinunter, um dem Kollegen zu Hilfe zu eilen. Einer der Polizeiwagen startete den Motor, um Frank den Weg auf der anderen Seite der Weide abzuschneiden.
Ein weiterer Schuss hallte über die Wiese. Tess blieb stehen. Frank Ögren sank zu Boden und hielt sich das Bein. Lundberg musste ihn getroffen haben. Er rannte zu ihm und warf sich auf Frank. Kurz darauf waren auch die Kollegen da und überwältigten ihn.
Frank schrie und versuchte sich aus ihrem Griff zu winden. Tess drehte sich um, zwei weitere Sanitäter halfen Frida aus der Hütte und redeten beruhigend auf sie ein.
»Die Kinder sind hier, wir haben sie. Sie werden überleben.«
Frida zitterte, in eine Decke gewickelt, die Arme um den Oberkörper geschlungen.
»Wo sind sie, ich muss sie sehen!«
Sie führten sie zum Krankenwagen.
»Was hat er mit ihnen gemacht?«, rief sie außer sich, als sie die Kinder erblickte.
Tess trat zu einem der Sanitäter, der gerade in den Krankenwagen steigen wollte.
»Wie geht es ihnen?«
»Der Puls ist okay, sie haben Beruhigungsmittel bekommen, werden aber bestimmt bald wach. Das, was wir drinnen gefunden haben, ist da sehr viel gefährlicher«, sagte er und nickte zur Hütte hinüber .
»Was meinen Sie?«
»Oxycodon. Eine ordentliche Dosis. Hätte ein Pferd töten können. Wir können dankbar sein, dass er ihnen das noch nicht verabreicht hatte.«
Die Türen des Krankenwagens schlossen sich.
Nachdem sie mit Blaulicht abgefahren waren, trat Tess zu Lundberg, der sich mit Kerstin Jacobsson unterhielt. Er kratzte sich Lehm von der Hose, der von der Weide stammen musste, auf der er Frank Ögren zu Fall gebracht hatte.
»Es geht doch nichts über Erfahrung«, sagte sie und klopfte ihm auf die Schulter.
Lundberg grinste zufrieden. Tess konnte sich gut vorstellen, was es für eine Genugtuung für ihn bedeutete, endlich den Fall mit abschließen zu können, der ihn so lange belastet hatte. Es musste eine enorme Erleichterung sein.
Ein weiterer Krankenwagen hielt in der Nähe. Die Polizisten begleiteten den angeschossenen Frank Ögren hinein und fuhren mit ihm davon.
Tess betrachtete Lundbergs Hosenbein und stellte fest, dass der Boden hier ungewöhnlich feucht und hell war. Als sie sich zu der Hütte umdrehte und einmal um sie herumging, entdeckte sie, dass auch dort der Boden eine ungewöhnlich helle, fast schimmernde Färbung hatte.
Sie hockte sich hin und berührte die lehmige Erde. Nahm mit den Fingern etwas davon auf und gab es in eine Plastiktüte.
Sie schaute auf ihren Kalender. Achter Mai.
Von den neunzehn Tagen, die ihnen als Frist gesetzt worden waren, waren dreizehn vergangen.
Auf dem Weg zum Auto rief sie Brännström an.