D as Schloss hat etwas Exzentrisches, dachte Gideon, während er mit zusammengekniffenen Augen die Geländer betrachtete. Ein bisschen zu märchenhaft für seinen Geschmack, doch Nico würde das bestimmt lustig finden. Eigentlich sollte Gideon in diesem Augenblick nicht an Nico denken, denn es war schon herausfordernd genug, hier zu sein, wenn er nicht an Nico dachte und an alles, was das in ihm auslöste. Hauptsächlich Bedauern. Doch Gideon war – ebenfalls bedauerlich – ein Mann, der zu seinem Wort stand, egal, wie dämlich es sein mochte, und er hatte seiner Mutter einen Gefallen versprochen. Einen einzigen.
Neben Gideon winselte Max.
(Damals hatte sich alles so unverfänglich angehört.)
»Kannst du das Ding da nicht ruhigstellen?«, fragte Eilif, die nicht eingeladen worden war. Das würde Gideon zumindest Nico erzählen, denn der würde auf jeden Fall fragen, warum Gideons Mutter überhaupt dabei gewesen war. (Vorausgesetzt, dass Gideon diesen merkwürdigen Horrorspielplatz im Bewusstsein eines anderen überlebte. Was nicht selbstverständlich war.)
»Max tut, was er will. Und sei nett zu meinen Freunden«, sagte Gideon, bevor er ein laxes »Mom« hinzufügte.
»Ich verstehe nicht, warum du ihn mitgebracht hast«, murmelte Eilif, die Säugetieren allgemein misstrauisch gegenüberstand. Warmes Blut war ihr suspekt. »Ich habe dir gesagt, dass es einfacher wird, wenn wir das alleine machen.«
»Wir«, sagte Gideon, »machen überhaupt nichts. Und einfach war es auch nicht.« Er hatte mit telepathischen Schutzzaubern gerechnet, doch sich hier Zugang zu verschaffen, fiel ihm fast so schwer wie das Durchbrechen der Alexandrinischen Schutzzauber. Um das Schloss herum erstreckte sich ein Labyrinth voller Dornen und sich bewegender Zypressen, und manchmal kam eine Art Traumkreatur vorbei, die aus einem Albtraum stammen musste. Wenn Gideon noch nicht an die Wesen gewöhnt wäre, die sich in den Traumreichen herumtrieben, wäre er nicht unbeschadet so weit gekommen. »Du hast gesagt, das wäre eine leichte Sache.«
Vermutlich war er selbst schuld, da er seiner Mutter geglaubt hatte. Er war sich nicht sicher, wie lange er hier schon gestrandet war, doch es fühlte sich an wie Wochen, wenn nicht Monate. Es war kein Traum. Er befand sich nicht auf einer Ebene des Unterbewusstseins, was Gideon zwar gewusst, aber nicht verstanden hatte, als er den Auftrag angenommen hatte. Wer auch immer das Schloss geschaffen hatte, hatte im Prinzip Fliegenpapier für Gideon eingebaut, von dem er sich nicht losreißen konnte. Gideon hatte nach dem Ausweg aus dem Labyrinth gesucht, konnte ihn jedoch nicht finden, also blieb neben einem erfolgreichen Einbruch, der mit jedem Tag unwahrscheinlicher wurde, nur noch die erzwungene Rückkehr in seinen Körper. Er musste sich dazu bringen, aufzuwachen, was unmöglich war, denn seine Mutter würde ihm folgen, und dann wäre er ihr in einer weiteren Dimension ausgeliefert.
Schon wieder.
Er seufzte, als ihn eine weitere Welle der Selbstverachtung überkam. Warum hatte er zugestimmt? Um Nico in einem kindischen Streit zu übertrumpfen? Ihm war wirklich langweilig gewesen, aber war das hier besser? Er war so kurz davor gewesen, Libby zu finden. Und jetzt steckte er in einem Auftrag fest, der bloß ein paar Minuten hätte dauern sollen – und das nur, weil er dummerweise gedacht hatte, seine Mutter könnte ihn schneller ans Ziel bringen.
»Es ist leicht«, beharrte Eilif, die im Licht, das sich in den schimmernden Schlossmauern brach, silbrig-blau aussah. »Ich habe dir gesagt, dass ich nur eine Botschaft an den Prinzen überbringen muss, und dann …«
»Darum geht es hier doch gar nicht«, unterbrach Gideon sie, beschattete die Augen mit der Hand und blickte zum Schloss auf. Es war im gotischen Stil erbaut, mit vielen schlanken Türmen und klaren Linien. »Über Botschaften sind wir hinaus, Mutter. Offensichtlich müssen wir hineingebeten werden. Aber ich dachte, es ginge darum, ihn dort rauszuholen?«
»Natürlich«, sagte Eilif. Ihrem Tonfall zufolge war das eine Lüge. Doch genau konnte er das nicht sagen, denn Gideon wusste nicht, wie sie klang, wenn sie die Wahrheit sprach. Das kam so selten vor, dass er es mit etwas ganz anderem verwechseln würde. Einem Engelschor oder dem göttlichen Leuchten zum Weltfrieden.
»Vielleicht könntest du rausgehen«, schlug Gideon zum hundertsten Mal vor »und irgendwie anders mit dem Prinzen Kontakt aufnehmen, um ihm zu sagen, dass wir vor seiner Haustür stehen, ob es ihm vielleicht etwas ausmachen würde, uns zu öffnen …?«
»Blödsinn, ich bleibe hier«, sagte Eilif und warf Max einen Seitenblick zu. »Wenn nur dieses grausige Ding verschwinden würde.«
»Sein Name ist Max, und er ist kein Ding«, verbesserte Gideon sie, während Max einen leisen, genervten Laut ausstieß. »Und …«
Vom Schloss her kam plötzlich ein Licht. Als wäre es vom Blitz getroffen worden.
»Hast du das gesehen?«, fragte Gideon stirnrunzelnd.
Max antwortete mit einem Bellen.
»Oh, wunderbar«, sagte Eilif. »Besuch.«
Sie klang nicht besorgt, woraufhin Gideon doppelt so besorgt war. »Besuch?«, wiederholte er. »Du meinst … außer uns? Aber …«
Der Boden erbebte, so dass Max gegen Gideon stolperte und die beiden auf dem sehr überzeugend festgestampften Boden landeten. Für einen Augenblick vergaß Gideon fast, dass er sich auf einer Astralebene befand – der Boden sah aus wie Erde und roch wie Erde. Frisch und nach der leisen Erinnerung an Regen. Wer auch immer diesen Boden geschaffen hatte, wusste genau, wie er riechen musste.
»Nun«, sagte Eilif und blickte in den sich rasch verdunkelnden Himmel. »Lass mich wissen, wenn du das hier geregelt hast, ja?«
Nein!, dachte Gideon voller Panik. Nein, sie war vielleicht gefährlich, aber wenn sie ging, gab es eine Magiequelle weniger in einem Traumreich, das er nur deuten, nicht bändigen konnte. Wenn dieser Sturm eine ernste Bedrohung darstellte oder – was wahrscheinlicher war – jemand seine Gegenwart bemerkt hatte und nach ihm suchte …
»Mom, bitte nicht … Eilif! «, rief Gideon ihr nach, doch sie war schon verschwunden.
Natürlich. Na ja. Immerhin bedeutete das, dass er auch gehen konnte, wenn er nur …
Er hörte ein lautes Bellen, gefolgt von einem Winseln. Der Blitz, der über den Himmel zuckte, blendet ihn, und der Boden unter seinen Füßen bebte unkontrolliert. Durch die plötzliche Bewegung der tektonischen Platten wurde Gideon schwindelig, er stolperte nach vorn und kam hart auf Händen und Knien auf. Mühsam rappelte er sich wieder hoch.
Wer bist du?
Die Stimme erklang in Gideons Kopf, grub sich tiefer, je näher sie kam. Der Druck in seinen Ohren und hinter seinen Schläfen stieg. Es dauerte einen Augenblick, bis sein Schädel sich erholt hatte und er nach oben blicken konnte. Er sah nur verschwommen, Tränen der Anstrengung standen ihm in den Augen und Regen benetzte seine Wangen.
Ja. Wer auch immer dieses Gefängnis geschaffen hatte, kannte sich mit Regen aus.
»Ich möchte zum Prinzen«, sagte Gideon mit aufeinandergepressten Zähnen und zuckte zusammen, als sein Kopf schmerzhaft pulsierte. Es war wie eine Migräne, als ob sein Kopf kochen würde, mit Lava gefüllt wäre. Ihm fiel auf, dass er nicht wusste, wo Max hin war, dass in den Traumreichen Schmerz Konsequenzen hatte, wenn sein Körper einen Schlaganfall erlitt, und dass er sich nicht verabschieden könnte, wenn er starb, was allgemein inakzeptabel war. Gideon hob stur das Kinn und zuckte zurück, als ihn aus einer unbekannten Richtung ein Schlag traf.
Wer hat dich geschickt?
»Der Prinz!« Dieses Mal schrie er. Etwas stimmte mit den Geräuschen nicht, sie wurden verschluckt. »Der Prinz, er will mich sehen, ich …«
Mit einem Peitschenknall ließ der Druck nach. Wer konnte so etwas tun? Nur ein Telepath. Vermutlich der Telepath, der den Prinzen hierhergebracht hatte, der ihn auf dieser Astralebene gefangen hielt. Das bedeutete, dass Gideon hier um sein Leben kämpfte. Nein, nicht um sein Leben. Schlimmer, sein Bewusstsein, seine Luzidität. Er kämpfte gegen jemanden, dessen Magie unvergleichlich viel mächtiger war als seine eigene.
Er versuchte erneut, den Blick zu heben, um zu sehen, mit wem er es zu tun hatte. Nicht, dass er im Kampf irgendeine Chance hätte. Sein größtes Talent war seine Überlebensfähigkeit. Soweit er wusste, konnte man ihn auf nur ein oder zwei spezifische Weisen wirklich töten. Hier drin konnte man ihm genug Schmerzen zufügen, um in seinem Körper ein Aneurysma platzen zu lassen. Oder ihn ausreichend traumatisieren, um sein Nervensystem auszuschalten, was von der Wirkung her einer Überdosis gleichkäme – flache Atmung, schwacher Puls, irgendwann Krämpfe oder Koma. Sein Tod war nicht leicht herbeizuführen, aber Schmerzen konnte man ihm ganz einfach hinzufügen. Und wenn jemand es schaffen konnte, ihn zu töten, dann war es zweifelsohne genau dieser Telepath.
Wer ist der Prinz?
»Er ist im Turm! Er ist …« Gideon tastete über die Erde nach etwas, an dem er sich festhalten, woran er sich aufrichten konnte. Dass der Schmerz nur in seinem Kopf existierte, war alles in allem ziemlich fies. Dass er hier nicht physisch existieren konnte und doch das Gefühl hatte, jemand risse ihm die Haut auf, zeigte einen kosmischen Sinn für Humor. »Sag ihm … sag ihm, dass ich hergeschickt wurde …«
Von wem? Dem Forum?
So kamen sie nicht weiter. Also konzentrierte sich Gideon, der nicht viel mehr aushalten würde, auf sich selbst. Der Schmerz ist nicht real, rief er sich ins Gedächtnis. Er ist nur ein Gefühl. Eine Illusion. Er muss nicht existieren. Ja, du bist in einem Traum, aus dem du nicht aufwachen kannst. Aber hier gelten keine physikalischen Gesetze, es gibt überhaupt keine Regeln. Du musst nicht so existieren, wie sie dich geschaffen haben.
Mit äußerster Beherrschung richtete er sich auf, stolperte durch das ohrenbetäubende Dröhnen in seinem Geist und dachte an etwas anderes, irgendetwas anderes als seine brennenden Muskeln, seinen schmerzenden Kopf. Pastete. Ja, süße Pastete. Pasteten mochte er. Als Dessert waren sie größtenteils unterschätzt. Was gab es Besseres, als mit dem Löffel eine buttrige Kruste zu durchbrechen? Nichts. Er mochte Sonntage. Und Montage fürchtete er nicht. Er fürchtete nichts, Furcht war denjenigen vorbehalten, die zwei-, dreimal leiden wollten. Die meisten Leute hielten Gideon für einen Pessimisten, weil hallo, es war offensichtlich (alles war beschissen), aber eigentlich war er das nicht, weil er gern am Leben war. Er liebte es, wach zu sein. Er vermisste es, wach zu sein. Er vermisste Pfannkuchen. Er vermisste schlechten, billigen Kaffee. Er vermisste es, von Nico in aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf gerissen zu werden, noch bevor die Sonne aufgegangen war. Er vermisste Nicos nervigste Angewohnheiten, und dass er es nie schaffte, einen nicht zu unterbrechen. Er vermisste es, Nico und Max anzuschauen und festzustellen, dass sie extra für ihn Raum in ihrem Leben geschaffen, dass sie ihm ein Zuhause gegeben hatten. Er vermisste Orte, an denen es nicht regnete, aber er vermisste auch die Orte, an denen es regnete. Wirklich regnete. Er vermisste es, den Bus zu verpassen, weil es regnete. Er vermisste den nassen, widerwärtigen Geruch der U-Bahn. Er vermisste sein erstes Fahrrad, das offensichtlich gestohlen worden war, und sein zweites Fahrrad, das ebenfalls gestohlen worden war. Er vermisste es, mit Nico zu Fuß zur Uni zu laufen, weil sein Fahrrad gestohlen worden war. Er vermisste es, mit Nico zu reden. Er vermisste es, so zu leiden, aber den Schmerz zu wollen, weil Nico auf der anderen Seite wartete. Er vermisste Nico. Er vermisste Nico. Er vermisste …
Na also. Der Schmerz ließ nach. Gideon konnte wieder etwas sehen, er konnte etwas anderes als Qualen spüren. Er blickte auf seine Hände hinab, dachte an Feuerbälle, und zack, ein Feuerball erschien. Zauberei! Traumzauberei! Es ergab keinen Sinn, und es musste auch keinen Sinn ergeben. Hier gab es nur Vibes, keine Naturwissenschaft. Blindlings schleuderte er den Feuerball, und jemand duckte sich, teleportierte sich weg.
Er erhaschte einen Blick auf eine stilisierte schwarze Rüstung, gefolgt von langem, schwarzem Haar wie dem einer rachsüchtigen Johanna von Orleans. Okay, also war der Telepath eine Frau.
Das wäre nicht seine erste Vermutung gewesen, doch die Stimme in seinem Kopf war wohl weiblich gewesen. Wollte er sie in Brand stecken? Eigentlich nicht. Er wollte seine Aufgabe erledigen, und das hieß, ins Schloss einzubrechen. Den Prinzen aus dem Turm zu befreien.
Hier rauszukommen und Nico wiederzusehen.
Gideon bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp, teilte die Dornen wie das Meer. Warum hatte er das nicht schon vor Ewigkeiten getan? Jetzt war es leichter, als wäre eine Wolke weitergezogen. Er war blind gewesen, doch jetzt konnte er sehen. An sich war es einfach, das Einfachste der Welt. Aus dem Augenwinkel sah er wieder die schwarze Rüstung, die Telepathin wollte vor ihm am Turm sein. Er dachte Tornadohände, und ein Windstoß kaum auf. Kugeln regneten vom Himmel, tödliches Sternenlicht, explosive Tautropfen. Schöner Träumer, erwache!
Gideon lief über den Steinweg, der das Schloss umfasste. Die Rüstung der Telepathin blitzte nur einen halben Schritt hinter ihm auf, während er über die Steine schlitterte und sich einen Weg nach oben überlegte. Okay, Weinreben. An denen er hochklettern konnte. Sie wuchsen aus dem Turmfenster, und Gideon sprang, katapultierte sich hoch in die Luft, um die Reben zu erreichen. Hier gibt es keine Schwerkraft, Nicolás!
Eine Axt sirrte durch die Luft und durchtrennte die Reben, die Gideon geschaffen hatte. Er lehnte sich zurück und fiel, verwandelte die Schlossmauern in Wasser, in Marshmallow-Masse. Ja, dies war sein Territorium, denn sie befanden sich in einem Traum, und Gideon war ein Träumer. Er war ein Optimist, ein idiotischer Prinz. Er hatte den drohenden Untergang gesehen, ihm »Heute nicht, du Arsch!« entgegengerufen, den Schicksalsschwestern den Mittelfinger gezeigt, während er mit einem Rückwärtssalto in die Hölle gesprungen war.
Die Telepathin war darauf nicht vorbereitet. Sie war mächtig und schnell, aber was sollte man schon mit Marshmallow-Masse anfangen? Die war echt klebrig. Gideon sprang wieder an den Turm, hielt sich wie ein Fruchtgummifrosch an den Steinen fest. Die Telepathin nahm den Turm Stein für Stein auseinander, dekonstruierte Gideons Weg, während er kletterte. Doch er ersetzte sie durch Duplosteine, übergroße Balken, pastellfarbene Kaubonbons. Wenn Nico das sähe, würde er Gideon bis an sein Lebensende mit dieser Spielzeugstrategie aufziehen.
Er hatte es fast bis nach oben geschafft, als er spürte, wie die Telepathin näher kam und nach seinen Fersen griff. Er trat nach ihr, einmal, zweimal, doch sie war stärker, als sie aussah, und offenbar hatte er mit all seiner Magie nicht viel ausrichten können. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, wie ein stechender Schmerz, den er schon einmal gespürt hatte. Als wäre sie ein Déjà-vu oder als habe er sie schon mal in einem Traum getroffen. Er spürte, wie sich ihr Griff um seine Wade schloss und sie ihn durch das Turmfenster warf. Interessant, dachte er. Ich bin ziemlich sicher, dass ich hier schon mal gewesen bin.
Sie war wirklich stark, oder wenigstens war es die Version von ihr, die auf dieser Astralebene die Kontrolle hatte. Sie rang ihn mit Leichtigkeit zu Boden, mit telepathischen Tricks und höllischen Schmerzen. Gideon lachte. War’s das? War das das Ende, die Moral der Geschichte: dass er seine Mom nie um Hilfe bitten durfte?
Sie hielt etwas in der Hand. Ein Schwert. Natürlich. Die Telepathin würde ihn umbringen – sie wusste, wie man jemanden umbrachte, neigte zu drakonischer Härte –, also waren Nicos Nachforschungen jetzt nutzlos. Wenn Nico überhaupt Nachforschungen angestellt hatte. Wenn er nicht schon vergessen hatte, dass es Gideon je gegeben hatte. Gideon, du bist mein Problem, du bist mein kam Nico leicht über die Lippen. Zu leicht. Nico könnte Zuneigung für einen Windstoß empfinden, aber nicht für Gideon, der sich mit Haut und Haar hingab. Wenigstens würde es Nico nichts ausmachen, wenn Gideon starb. Nico de Varona verweilte nicht lange.
»Gideon?« fragte die Telepathin, als Gideon sich gerade mental darauf vorbereitete, dass es vorbei war, dass er am Ende war. Vielleicht war er sogar erleichtert. Okay, er würde sich nicht von Nico verabschieden können, aber das war in Ordnung. Immerhin hatte Nico keinen Grund, sich in Gefahr zu bringen, wenn Gideon nicht existierte – sagte der Traumwandler, der gerade damit beschäftigt war, in Gefahr zu schweben. Und warum? Zum Spaß?
Gott, er war echt ein dummer Arsch.
»Du bist Gideon«, sagte die Telepathin, gab ihn frei, trat zurück, und heilige Scheiße, war sie schön. War das Teil des Traums? War er tot? Gideon hatte sich immer gefragt, wie der Tod wohl aussah, und jetzt war ihm klar, dass er genau so aussah. Wie etwas, auf das man unweigerlich zuging, auch wenn man gar nicht sterben wollte. Sie war ein wunderschöner, rachsüchtiger Engel. Süße, schreckliche Erlösung.
Aus dem Augenwinkel konnte Gideon jedoch auch jemand anderes sehen. Einen Jungen. Einen Mann. Jemanden, der aussah, als würde Nico ihm gern die Nase brechen. Moment, der Prinz! Das war er! Und der Tod, der wegen Gideon hier war, war abgelenkt. Was für ein Glück! So viel zum Thema unrealistisch, dachte er. Ha ha ha, Nicolás! Ich habe dir gesagt, dass sich eines Tages alles auszahlen würde!
Mit letzter Kraft und den Fetzen seines Verstands packte Gideon den Mann, den Prinzen, am Bein und wuchtete ihn sich über die Schulter. Der Prinz war größer als er, aber leider war Gideon ja ein Optimist! Er konnte das Unmögliche erreichen, weil er wirklich fest an sich glaubte! Hinter ihm fluchte die Telepathin; sie hatte ihr Schwert aus der Scheide gezogen und verfolgte ihn, doch Gideon war schneller, unglaublich schnell. Er sprang mit dem Prinzen aus dem Turmfenster, der Boden rauschte ihnen entgegen, schneller und schneller und schneller und …
Gideon erwachte schweißgebadet und keuchend. Seine Lungen schmerzten. Der Boden unter ihm war trocken.
»Fuck. Fuck!«, sagte Max, der, wie immer nackt, neben Gideon auf dem Wohnzimmerboden kauerte und auf ihn hinabblickte. »Du hast seit ner Ewigkeit nicht mehr geatmet. Ich dachte echt, du bist tot.«
»Der Prinz.« Gideon setzte sich so schnell auf, dass ihm schwindlig wurde. »Habe ich ihn rausgeholt? Ist es vorbei?«
»Du bist wach.« Max glaubte wohl, Gideon träumte immer noch. »Gideon, du bist wach. Du bist in unserer Wohnung.«
Ihre Wohnung. Ja, richtig. Die Mukherjee-Brüder schrien ein Stockwerk unter ihnen. Der Chihuahua bellte, draußen fluchte jemand. Zuhause. Er war zu Hause. Er konnte die Ropa vieja fast schmecken, wie sie ihm auf der Zunge zerging.
»Wo ist Nico?«
Max hielt stirnrunzelnd inne, und Gideon blinzelte.
»Warte. Nein. Sorry.« Er war zu Hause. Nico nicht.
Außerdem sabberte er. Ups. Gideon wischte sich über das Kinn. »Hat es geklappt?«
Max verzog mitfühlend das Gesicht. »Keine Ahnung.«
»Oh. Okay.« Wenn er den Auftrag erfüllt hatte, wäre alles in Ordnung. Eilif hätte ihren Teil des Deals bekommen, so dass er ihr nicht mehr verpflichtet wäre. Wenn es ihm nicht gelungen war … Gideon atmete langsam aus und schloss dann die Augen. »Alter, ich bin müde.«
Max lächelte sein gewohntes, gelangweiltes Lächeln.
»Cool«, sagte er und ließ sich neben Gideon auf den Rücken fallen. »Ich könnte echt ein Nickerchen vertragen.«