Nico

E r lag schlaflos auf dem Bett, als er das Klopfen an der Tür hörte. Er blickte auf die Uhr, entschied, dass es unmöglich wichtig sein konnte, und schloss sofort die Augen. »Geh weg, Tristan«, murmelte er.

Da fühlte er einen scharfen Stich in seinen Gedanken, und ein merkwürdiger, unerklärlicher Reflex sorgte dafür, dass er auf die Füße sprang. Als hätte ihm jemand gegen das Knie geklopft, nur dass jemand gegen sein Gehirn geklopft hatte und sein ganzer Körper deswegen angespannt wie eine Bogensehne war.

»Heilige Scheiße«, sagte Nico und öffnete seine Schlafzimmertür, vor der Parisa wartete. »Ich wusste nicht mal, dass du das überhaupt kannst …«

»Es ist was passiert.« Sie schob sich unruhig und mit wildem Blick an ihm vorbei. In ihrer Hast stolperte sie, was für sie ungewöhnlich war. Ihr Kleid war zerknittert. Ein Träger rutschte ihr über die Schulter. Nico hatte Parisa noch nie so aufgelöst gesehen.

»Alles klar?«, fragte er und sah zu, wie sie vor seinem Kamin auf und ab ging. Langsam wurde aus den Elementen ihres Auftritts ein beunruhigendes Gesamtbild. Ihr Haar war merkwürdig ungebürstet. Ihr Kleid war verschwitzt, unter ihren Armen zeichneten sich dunkle Flecken ab. Ihre Haut schimmerte grünlich, als hätte sie gerade ein Fieber überstanden.

Leider fand er sie immer noch sehr attraktiv, und das half gerade überhaupt nicht.

»Dein Freund Gideon.« Parisa hielt inne, um Nico anzufunkeln. »Du hast mir nicht gesagt, dass er ein mächtiger Medäer ist.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Nico die Tragweite ihrer Worte verstand.

»Du … hast Gideon getroffen?«, fragte er ungläubig. Oder wütend. Oder zutiefst lethargisch. Oder als hätte er schreckliche Verdauungsbeschwerden.

»Ich dachte, du würdest dir Sorgen um ihn machen.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Du machst dir immer Sorgen um ihn. Ich hab verdammt noch mal gedacht, der wäre irgendwie behindert oder so ’n Scheiß!«

»Ich verstehe nicht, was hier gerade los ist«, sagte Nico, und Parisa murmelte etwas Französisches darüber, dass er ein hoffnungsloser Idiot sei, während sie sich die Schuhe auszog. »Hey«, sagte Nico. »Das ist nicht nett. Es stimmt zwar«, gab er mit einem kleinen Seufzer zu, »aber ich behalte mir vor, das nicht in meinem eigenen Zimmer hören zu müssen.«

»Ich bin schon viel zu lange hier«, brauste Parisa auf. »Es ist mir …« Sie hielt inne, um Nico den vernichtendsten Blick zuzuwerfen, den er je von jemandem bekommen hatte – vielleicht war es sogar der vernichtendste Blick der Welt. »… wichtig«, murmelte sie.

»Wer … Gideon?« Nico konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, woher das kommen sollte, und trotzdem schien es genau so zu sein. Parisa wirkte merkwürdig klein, wie sie da barfuß vor dem Kamin stand. Diese Erkenntnis war nicht hilfreich. Nico hatte Parisa immer für überlebensgroß gehalten, die genauso wenig zögern würde, ihm eine reinzuhauen, wie jeder Mann.

»Ja. Nein. Keine Ahnung.« Wieder funkelte sie ihn an, und ihm fiel – mit einiger Verspätung – auf, dass er wohl weitere Fragen stellen sollte.

»Sorry, willst du mir sagen, dass mit Gideon etwas nicht stimmt?« Der Gedanke, dass Gideon in Gefahr schweben könnte, war Nico in letzter Zeit öfter gekommen, als er zugeben würde. Er hatte ihn wegrationalisiert, hatte sich für selbstgerechte Genervtheit anstatt für mögliche Hysterie entschieden, doch etwas in Nico verkrampfte sich jetzt vor Panik.

Bedeutete Gideons Schweigen etwa, dass er …?

»Nein.« Parisa schnaubte. »Im Gegenteil. Ihm geht es blendend.«

»Oh.« In dem Fall ging es Nico alles andere als blendend. »Und was ist dann das Problem?«

»Nichts. Es gibt kein Problem.« Sie versuchte tapfer, unbeteiligt zu wirken, doch ihre Aufmachung ließ das Gegenteil vermuten. »Ich dachte …«

Sie brach ab, und Nico zog eine Augenbraue hoch. »Ja?«

»Nichts.« Sie wandte sich frustriert ab, und Nico, der nicht wusste, was er mit seinen Händen, seinem Gesicht oder irgendeinem anderen Teil seines Körpers tun sollte, setzte sich auf die Bettkante und wartete.

Parisa sagte nichts mehr. Und da Gideon sich offenbar bester Gesundheit erfreute (wenn man von seiner allgemeinen Blödheit absah), war Parisas Erregung Nicos unmittelbarste Sorge.

»Geht’s dir gut? Du siehst … erschüttert aus«, bemerkte er und fragte sich, was ihr jemand angetan hatte. »Hat Callum etwas getan? Dalton?«

»Nein. Du.« Sie warf ihm einen giftigen Blick zu. »Ich habe ihn fast umgebracht. Ich wollte ihn umbringen. Fast hatte ich ihn so weit, und dann …«

Sie presste die Lippen aufeinander.

»Wie ist er so?«, fragte sie. »Gideon?«

»Gefährlich«, sagte Nico sofort. »Der beste Mensch, den man sich vorstellen kann«, erklärte er, als sie die Stirn kraus zog. »Was genauso schlecht ist, wie es klingt.«

»Natürlich ist es das.« Sie seufzte und ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen. »Du«, sagte sie vernichtend und wandte sich ihm zu. »Mit dir stimmt etwas nicht.«

»Nicht mehr als sonst auch«, erwiderte Nico. Er legte sich so hin, dass sie einander direkt ins Gesicht sahen.

»Nein, du baust ab«, sagte Parisa und blickte stattdessen zur Decke hoch. »Etwas zehrt an dir.«

»Nö.« Doch. Auf jeden Fall. Er hatte überall Schmerzen. Kleine Zipperlein. Normale Sachen. Sachen, die andere Menschen hatten, wenn sie älter wurden oder Stress ausgesetzt waren. Dinge, mit denen sich die besten medäischen Physiker normalerweise nicht herumschlagen mussten. Und genau so einer sollte er sein. Was ihm immer leicht von der Hand gegangen war, kostete ihn jetzt Anstrengung. Er beschwerte sich nicht darüber, dass er jetzt nachdenken musste, bevor er etwas tat – es dauerte nur eine Sekunde, einen Moment länger –, doch er fühlte sich trotzdem, als würde sein Körper nicht ganz ihm gehören. »Mir geht’s gut.«

»Vermisst du sie?«, fragte Parisa leise.

Sie mussten ihren Namen nicht aussprechen.

»Manchmal.« Er vermisste Libby Rhodes, wie er Elektrizität vermissen würde. Oder seine linke Hand. Er wusste nicht, wie er ohne sie funktionieren sollte.

»Und ihn vermisst du auch«, stellte Parisa fest.

Wieder kamen sie ohne Namen aus. Was bedeutete, dass Parisa vermutlich schon wusste, dass er Gideon wie sein Bewusstsein vermissen würde, oder die Fähigkeit, einen Faustschlag auszuteilen. Er wusste nicht, wer er war, wenn Gideon weg war.

»Echt seltsam«, sagte Nico. »Diese Bibliothek. Alles, was wir haben können.«

»Ja«, sagte Parisa.

»Sie bedeutetet einem alles, bis sie nichts bedeutet«, murmelte Nico. Damit meinte er: Warum hatte er alles aufgegeben, wenn er einfach zu Hause hätte bleiben können, ohne je zu erfahren, wie wenig er wirklich wusste?

»Ja«, wiederholte Parisa.

Nico drehte sich auf die Seite und blickte sie an. Sie tat es ihm gleich. Sie lagen auf seinem Bett und sahen einander an.

Er war ihr noch nie so nahe gewesen. Ihre Knie berührten sich beinahe. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass es ihr lieber wäre, wenn er auf Distanz blieb. Also hatte er das getan. Erst jetzt fühlte er sich, als wäre eine Tür geöffnet worden. Als ob Parisa Kamali für einen Moment des Friedens ihre Verteidigung heruntergefahren hätte.

Eines ihrer langen Haare kitzelte ihn an der Stirn, und er rieb seinen Kopf am Kissen, bevor er sie wieder anblickte.

Sie schaute ihn an, als wüsste sie, dass er gleich etwas Dummes sagen würde. »Was ist los?«

Was hatte er schon zu verlieren? »Ich hab irgendwie gedacht, du würdest nach Rosen riechen«, gab er zu, und zu seiner Überraschung entlockte ihr das ein ehrliches Lachen. Es klang erstaunlich mädchenhaft und irgendwie süß. Melodisch.

»Wonach rieche ich wirklich?«

»Ähm …« Er schnüffelte, bis sie ihm einen Knuff versetzte. »Schweiß?«

»Hör auf.«

»Und nach … Jasmin?«

»Mein Shampoo.« Sie verzog das Gesicht. »Sag es keinem, aber es ist ein Nova-Produkt.«

»Das muss ich allen erzählen«, sagte Nico sofort. »Ich überlege schon, wie ich das Memo an das ganze Haus formuliere.«

»Du bist kindisch.« Sie seufzte.

»Bin ich nicht.« Er rutschte näher zu ihr. Ihre Knie stießen aneinander. »Falls du dich das fragst.«

»Oh, Nicolás.« Er verbuchte es als Sieg, dass sie immerhin nicht darüber gelacht hatte. »Das hatten wir doch ad acta gelegt.«

»Ich weiß. Aber ich dachte, ich packe die Akte noch mal auf den Tisch, falls sie im Papierstapel untergegangen ist.« Er blickte nach unten auf ihre Finger. Sie waren lang und ohne Ring.

»Bist du wirklich verheiratet?«, fragte er, als ihm einfiel, was Callum bei ihrem kleinen Walzer durch ihre emotionalen Traumata gesagt hatte.

»Ja«, erwiderte sie achselzuckend. »Aber nicht so, dass es zählt.«

»Rechtlich?«

»Okay, das zählt.« Sie legte den Kopf auf ihre Hände. Er tat es ihr gleich. »Aber reden wir nicht darüber.«

Wenn sie bleiben wollte, war ihm das Motivation genug, mit den Fragen aufzuhören.

»Nicolás«, murmelte sie warnend.

Er seufzte. »Sorry. Hab vergessen, dass du in meinem Kopf bist.«

»Das passiert sonst keinem.«

»Oh.« Na, das war mal enttäuschend.

»Nein, ich find’s süß.« Sie lächelte leise. »Du bist süß.«

Aus ihrem Mund klang das wie eine Beleidigung. »Ach ja?«

»Ja.«

Er rutschte noch näher. Einige Zentimeter vielleicht. »Wie süß denn genau? «

Sie stupste ihn wieder weg.

»Ich weiß, was ich tue«, rief sie ihm in Erinnerung. Vielleicht auch das eine Warnung.

»Gut. Ich würde gerne von dir lernen«, erwiderte er unbekümmert.

Sie seufzte. »Du bist viel zu problembeladen.«

»Parisa.« Er hob den Kopf. »Ich muss deine Gedanken nicht lesen können, um zu wissen, dass du heute Nacht nur hergekommen bist, weil irgendwas wirklich schiefgegangen ist.«

»Ah, ja. Süß und clever. Mein Verderben.« Sie schloss die Augen. »Mir geht’s gut.«

»Wirklich?«

»Ja. Aber ich …« Sie hielt inne. »Ich glaube, vielleicht entwickle ich eine Schwäche.«

Das wollte er doch hoffen.

»Lass das«, sagte sie erneut.

»Was? Darf man nicht hoffen?«

»Manche Menschen schon. Du nicht.« Sie öffnete ein Auge und blinzelte ihn an. Sehr unsexy, und doch war er sich sicher, dass er nie etwas Sinnlicheres gesehen hatte. »Sag mir was, was dich verletzlich macht, damit mir wieder einfällt, wie man angeekelt ist.«

»Ich steh meinem Vater nicht nah«, sagte Nico aufgeräumt. »Meine Mutter unterschreibt meine Geburtstagskarten für ihn.«

»Oh, abstoßend. Erzähl mir von deiner Mutter«, forderte Parisa sofort.

»Sie ist sehr speziell. Hat im Restaurant immer Extrawünsche. Ich glaube, für sie ist das ein Spiel. Sie will immer etwas Besonderes haben, damit sie beim Abendessen ihre Dominanz klarstellen kann.«

»Schrecklich. Sonst noch was?«

»Sie hat mir beigebracht, wie man kocht. Und wie man tanzt.«

»Und wie man kämpft?«

»Nein, das war mein Onkel. Ich war immer klein«, erklärte er. »Zumindest für mein Alter. Ich wurde gemobbt.«

»Nein«, flüsterte Parisa. »Wirklich?«

»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht daran.«

Ihre Augen waren wieder geschlossen. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Das freut mich für dich.«

»Sagt Gideon auch.« Der Name kam ihm ungebeten über die Lippen. »Er sagt, meine beste Eigenschaft ist meine kurze Aufmerksamkeitsspanne, und ich sollte mir bloß nichts anderes einreden lassen.«

»Da hat er recht.« Parisa schien auf mehr zu warten, also fuhr Nico fort.

»Seinetwegen bin ich überhaupt hier. Um ein Problem zu lösen, um ihm zu helfen. Aber seit ich angekommen bin …« Er holte langsam Luft und atmete genauso langsam wieder aus. »Ich hab’s versucht. Aber die Bibliothek hat nichts. Sie hat keine Antworten auf meine Fragen. Und ich habe so viele davon, ich will so viel wissen. Das Universum ist so groß – so weit –, und egal, wonach ich recherchiere, es ist irgendwie immer für Gideon, weil ein so großes Universum keine Fehler machen kann.« Er schluckte. »Es macht keine Fehler. Gideon kann kein statistischer Unfall oder das Ergebnis eines Würfelspiels sein. Er kann kein … er ist kein Fehler.«

Parisa sagte nichts.

»Wenn ich ehrlich bin, war ich ziemlich selbstsüchtig«, sagte er und räusperte sich. »Weil ich … weil ich über diese Macht nachgedacht habe. Die Macht und alles, was ich bin. Wenn ich wirklich ehrlich bin, will ich sie verwenden. Wenn Gideon kein Fehler ist, und ich auch kein Fehler bin, dann gibt es einen Grund für uns, einen Sinn. Warum existiere ich? Aus demselben Grund, aus dem es auch Goldfische gibt? Nur, um Teil eines Ökosystems zu sein, um in Beziehung zu allem anderen in der Natur zu existieren, oder … oder ist es etwas anderes?« Er zögerte, bevor er fortfuhr. »Weil wenn ich … wenn etwas, das ich besitze … wenn das Leben hervorbringen kann. Wenn es Universen hervorbringen kann …« Eine weitere Pause. »Wenn ich zu so etwas fähig bin, sollte ich es dann auch tun …? Also … habe ich eine Verpflichtung …«

»Er hat an dich gedacht«, sagte Parisa leise. »Gideon. Als er starb. Da hat er an dich gedacht.«

»Oh«, sagte Nico und atmete aus.

Ihm fiel erst auf, dass er leer über Parisa hinwegstarrte, als sie die Augen öffnete und ihn anblickte.

Sanft berührte sie mit einem Finger seine Schläfe, und er atmete erneut aus, bis seine Lungen ganz leer waren. Schwerelos.

Aufgeladen.

Er spürte, wie sie den Kopf von der Matratze hob und sich ihm näherte. Er war so bereit, dass es fast schon peinlich war, drehte sich nur zu gern auf den Rücken, damit ihre Hüfte auf seiner zum Liegen kam. Das Haar fiel ihr wie ein Vorhang über die Schulter, die dunklen Spitzen strichen ihm leicht über die Brust. Er nahm eine Strähne und wickelte sie sich vorsichtig um den Finger.

Er wusste, dass ihm das Herz wie verrückt in der Brust hämmerte. Diesen Effekt hatte sie auf ihn, hatte das Gewicht all dessen, was er mit sich trug. Die Leere dieses Lebens, das er so verzweifelt mit etwas zu füllen versucht hatte. Bücher. Macht. Geh einfach, hatte er sich so oft geraten, geh einfach, aber er konnte nicht. Er wusste, dass er es nie können würde.

Ich habe eine Theorie, wollte er ihr sagen. Eine Theorie, dass wir Türen in andere Welten öffnen können, dass wir sie erschaffen können. Dass wir Risse in Raum und Zeit öffnen können. Ich glaube, ich soll diese Gaben wie ein Werkzeug verwenden, dass ich mir aus einem bestimmten Grund solche Gedanken mache. Ich habe mich mit einem Träumer angefreundet, damit ich davon träumen kann.

Stattdessen hob er leichtsinnig den Kopf, um sie zu küssen. Sie erwiderte den Kuss, und in diesem Moment wollte er keine tolle Show. Er verstand jetzt, was sie gemeint hatte. Als sie sagte, dass er sie aus vollem Herzen vögeln würde. Denn es war süß und gut und genug. Das hier, was auch immer es war, war genug.

Sie löste sich von ihm, und er hielt mit den Fingern in ihrem Haar inne. »Mache ich es dir unerträglich?«, fragte er mit einem Hauch Scham in der Stimme.

Sie sah ihn einen langen Augenblick an.

Mehrere Augenblicke.

»Tatsächlich nicht«, sagte sie und küsste ihn wieder.

Wenig überraschend war Parisas Kuss auf eine Art sinnlich, die Nico schläfrig-berauschend fand. Seine Finger fuhren langsam den Saum ihres hochgerutschten Kleides entlang – mit einer Trägheit, als hätte er in diesem Moment nichts zu tun, als ihren Körper zu kartografieren. Er befreite seinen Geist von allem, außer den langsamen Bewegungen ihrer Hüfte und dem Gefühl ihres Kleides, das ihm über die Beine glitt. Er hatte Parisas Sinn für Mode immer bewundert, wie die Seide sich dem Schwung ihrer Hüfte anpasste. Er fuhr an ihrem Oberschenkel empor, drückte die Fingerspitzen in die Kuhlen ihres Rückens, legte den Kopf ihrer Hand folgend mit einem Stöhnen in den Nacken. Der Boden unter ihnen erbebte, ein dunkles Grollen, das zu dem lustvollen Geräusch aus seiner Kehle passte.

Seine rechte Hand fand ihre linke. Sie verschränkten die Finger, Lust pulsierte durch sie hindurch. Sie knabberte an seinem Nacken, und er knurrte, bewegte die Hüfte unter ihr, fügte sie in einer ganz bewussten, genießerischen Wellenbewegung zusammen. Er wusste nicht, wie lange sie zwischen Ebbe und Flut verharrten, ohne dass einer von ihnen vorpreschte oder sich zurückzog. Es war rein körperlich, und es war das erste Mal seit Monaten, dass Nico an gar nichts dachte. Er fühlte etwas von ihr, etwas wie ein Echo in sich selbst, als ob ihre Bewegungen eine fließende Unterhaltung wären. Eine reflektierte Verzweiflung, oder etwas Ruhigeres, zwar tiefgreifend, doch dauerhafter. Als ob er sie etwas Dummes, Unwichtiges fragen konnte, zum Beispiel, ob sie je den Mond betrachtet und sich leer gefühlt hatte, oder ob sie wusste, wie es war, in ein Land zu reisen, dessen Sprache sie nicht sprach, und sie würde ihm gar nicht antworten müssen, weil er die Antwort schon kannte. Er kannte sie einfach.

Seine freie Hand fand den Weg in ihren Nacken, er griff ihre Haare und zog sie für einen weiteren Kuss zu sich herab. Wieder. Und wieder. Tiefer, näher, mehr. Er hatte die Augen geschlossen, und ihre Haut war warm, zum Dahinschmelzen. Einschläfernd. Er seufzte an ihren Lippen, hielt die Luft an. Er spürte, wie das Bett unter ihm nachgab, ihn schluckte wie ein tiefes Loch, während er vor sich hin murmelte, Peinlichkeiten voller unratsamer Sanftheit und mitteilsamer Verzweiflung.

Querida mía. Quédate conmigo. Bleib, bleib bei mir.

Die Küsse wurden langsamer. Süßer. Wie das Rinnen von goldenem Honig, das gemächliche Tropfen der Sommersonne. Ja, ja. Dort. Er hielt ihre Hand immer noch fest. Sie war ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte – hatte sich vorstellen können  –, sie war eher wie ein Traum. Sehnsucht lastete schwer auf seiner Brust, lähmende Schwärmerei, eine träge, schwelgerische Erinnerung, die nie Realität gewesen war. Ihre samtene Sanftheit. Er vermisste sie schon jetzt, als wäre sie schon fort.

Er fragte sich, was sie in seinem Kopf wohl sah. Ob er leer war, ohne Gedanken, oder ob er voller Empfindungen war. Vermutlich nahm die Freude viel Raum ein. Er stellte sich vor, wie der Moment sich kaugummigleich in die Länge zog, als würde er auf einer Wolke davongetragen. Er fühlte sich nachgiebig, schwach unter ihr, doch sicher gehalten von ihren Fingern, die mit seinen verschränkt waren.

In Wahrheit nahm ihm dieses Haus etwas. Dieses Ökosystem. Dieses Netzwerk der Antworten, die nur mehr Fragen hervorbrachten. Er konnte das mysteriöse, sich wiederholende Muster nicht greifen, wie alle, die vor ihm hier gelebt hatten. Er spürte, wie er langsam Teil von ihm wurde, und vermochte nicht mehr zwischen seinen Gedanken und denen des Hauses zu unterscheiden. Einst konnte er jedes Atom seines Körpers bestimmen, doch nun war es ihm unmöglich, seine Grenzen auszuloten, herauszufinden, wo die Macht der Bibliothek seine ersetzte, wo sein Hunger endete und der des Archivs begann. Er war voller Bissstellen, fühlte sich menschlicher und weniger menschlich zugleich, doch immerhin hatte er das hier. Berührungen. Geschmack. Befriedigung. Etwas, das man ihm nicht stehlen konnte. Etwas, das er weder willentlich noch unwillentlich aufgeben konnte. In Gedanken hörte er einen Rhodes’schen Klassiker, der zu seinem Leben gehörte wie Last Christmas zur Weihnachtszeit: Ehrlich mal, Varona.

Ja, dachte er mit einem innerlichen Lachen, einem Schluckauf der Erleichterung. Ja, Rhodes, ich weiß.

Seine Sprache war undeutlich, seine Lider schwer, sein Körper entspannte sich nach und nach. Seine Beine sanken in die Matratze, seine Hüfte, seine Schultern, sein Rücken. Er zog Parisa enger an sich, näher zu sich, erzitterte vor Zufriedenheit, bis es sich anfühlte, als wäre sie mit ihm verschmolzen, als fiele sie tiefer in ihn. O fuck, dachte er zu spät, das war es, was sie gemeint hatte, mein Herz, mein Herz, es schlägt, der Puls, so rhythmisch und beruhigend und sicher. Sein Rhythmus war ihm so bekannt. Der Boden erbebte, und er dachte: Verzehr mich. Na los, verschling mich.

Als er sich umsah, erkannte er, wo er sich befand. Das Licht, das durch das Fenster hereinfiel, tauchte die kleine Küche in goldenes Licht, Kaffee mit Sahne, das alte Gefühl der Sicherheit. Von oben kam ein Schimmer, Sonne aus dem Augenwinkel, wie eine Welle sandfarbenen Haares.

»Gideon«, sagte Nico, und das Licht brach sich, sein Herz stolperte vor Freude.

»Nein.«

Er spürte Parisas Stimme, bevor er sie sah. Jetzt war sie weniger panisch. Vermutlich, weil es sich um einen Traum handelte. »Sorry«, sagte sie und lehnte sich gegen die Wand von Nicos Wohnung. »Aber ich dachte, du könntest etwas Schlaf gebrauchen.«

»Oh.« Er blinzelte. »Bedeutet das, dass ich …«

»… dass du eingeschlafen bist? Ja. Gern geschehen.« Sie grinste ihn an. »Aber keine Sorge, davor hatte ich Spaß.«

Ihm fiel nicht zum ersten Mal auf, dass Dinge, die zu gut schienen, um wahr zu sein, es auch oft waren. »War irgendwas davon real?«

»Wer kann schon sagen, was real ist und was nicht?« Sie zuckte mit den Schultern.

Nico überkam das merkwürdige Gefühl, dass er ihr danken sollte. Oder vielleicht sollte er sie auch heiraten.

Sie verdrehte die Augen. »Immer langsam mit den jungen Pferden, Nicolás«, sagte sie und wandte sich ab. »Genieß deine Erholung.«

Erst als sie sich umdrehte, erkannte er, dass es real gewesen war – real gewesen sein musste. Die wichtigen Sachen zumindest. Zwischen ihnen hatte es Gemeinschaft gegeben, etwas Ehrliches, Unübersehbares, Geteiltes. Keine Mahlzeit, kein Geheimnis; es ähnelte eher geteilter Trauer.

Und es war tatsächlich Trauer. Es war ein Verlust, wenn auch ein unkonventioneller. Die Aufgabe eines zukünftigen Selbst, als trennte er sich von einem Liebhaber, den er nie treffen würde. Nico wusste, dass er von etwas Großem verschluckt wurde – wusste, dass er mehr und mehr von seiner Macht gegen die Möglichkeit eintauschte, zu wissen, was es zu wissen gab –, doch mit jedem Tag, der verging, war er sich sicherer: Weder seine Macht noch seine Trauer kannten Grenzen. Seine Leere kennzeichnete ihn auf eine Art und Weise, die Parisa nur zu leicht hatte lesen können.

»Warte.« Er schoss vor und griff nach ihrer Hand. »Willst du nicht mit mir hierbleiben?«

Sie schien überrascht. Oder misstrauisch. Beides stand ihr gleich gut, also konnte er es unmöglich sicher sagen. »Was?«

»Na ja, du hast mich hereingelegt und mich zum Schlafen gebracht«, erklärte er. »Und wie ich mich erinnere, warst du auch nicht in der besten Verfassung.« Das musste ihr aufgefallen sein, denn auf dieser Ebene oder in seinem Kopf oder wo auch immer sie waren, sah sie makellos aus. »Obwohl ich damit gerechnet habe, mich besser zu erinnern«, bemerkte Nico und blickte sich in seiner Wohnung um. »Diese Ebene verändert vieles, oder?«

Eine Sekunde lang blickte sie ihn stumm an. »Was denn?«

»Oh, keine Ahnung. Alles eben.« Plötzlich vermisste er die quietschende Tür des Schranks in der Ecke. Eine scharfe, schmerzhafte Sehnsucht nach den Krallenspuren auf dem Boden überkam ihn. Eine Sehnsucht nach allem, was verhindern würde, dass sie die Kaution zurückbekamen. »Es stimmt eben nicht so ganz, das ist alles. Ich dachte, in meinem Kopf wäre es besser.«

Parisa holte Luft, als wollte sie etwas sagen, hielt dann aber inne.

Dann sagte sie: »Ich habe dir geraten, dir einen Talisman zuzulegen.«

»Was? Warum?«

Jetzt sah sie ungehalten drein. »Weil du wissen solltest, dass wir uns nicht in deinem Kopf befinden.«

»Was?« Dabei hatte er sich gerade an den Gedanken gewöhnt. »Wo sind wir denn dann?«

Sie presste die Lippen aufeinander. »Versuch, nicht durchzudrehen, ja?«

Er runzelte die Stirn. »Wo sind wir?«

»Wir …« Sie schnaubte ungeduldig. »Wir sind in meinem. In meinem Kopf.«

»In deinem Kopf« wiederholte er verständnislos wie ein Papagei.

»Ja. Deiner war …« Sie wandte den Blick ab. »Ich hatte den Eindruck, dass du mal eine Pause brauchst.«

»Parisa Kamali.« Nico wollte sie wütend anstarren. Eigentlich wollte er lachen, doch er hatte das Gefühl, das wäre noch viel schlimmer. Dass sie ihn in ihren Kopf gelassen hatte, war für einen Telepathen intimer, als Sex es je sein konnte. »Dabei hast du mir doch gesagt, ich soll nicht aus vollem Herzen vögeln.«

»Das reicht. Genieß deine Ruhe.« Sie funkelte ihn an, doch jetzt war es weniger effektiv. Eigentlich sogar völlig unnütz.

»Warum?«, fragte er. »Du solltest es mir sagen. Sonst gehe ich nämlich einfach davon aus, dass du ein netter Mensch bist, was vermutlich schlecht für dein Image wäre …«

»Ich hatte einen wohltätigen Moment«, sagte sie. »Und jetzt gehst du mir auf den Geist, also habe ich meine Lektion gelernt. Rhodes hatte recht damit, dich zu hassen.«

»Ach, jetzt erwähnst du sie, um mir eins reinzuwürgen, aber das wird nicht funktionieren«, sagte Nico erfreut. »Wir hassen uns nämlich, wie du weißt, gegenseitig.«

»Ja. Natürlich. Du hast viel Platz für Hass.« Parisa fixierte ihn wissend. »Kannst du eigentlich unbegrenzt viele Leute ’hassen’?«

»Jup.«

Sie verdrehte wieder die Augen. »Schlaf«, sagte sie. »Wenn du aufwachst, bin ich weg.«

»Und doch wird die Erinnerung an diese Nacht weiterleben, Euer königliche Sanftheit.«

Vermutlich hätte er das nicht sagen sollen, denn als er wieder wach wurde – etwa zehn Stunden später, sein Körper fühlte sich träge und erholt an –, stellte er fest, dass sein Lieblingspullover geklaut worden war. An seiner Stelle lag ein Zettel.

Gutes Kaschmir ist so schwer zu finden.

Jetzt stand ihm ein kalter Winter bevor. Doch merkwürdigerweise machte das Nico nichts aus. Er hatte sich seit langem nicht so gut gefühlt – weshalb er plötzlich den Mut verspürte, der ihm so lange gefehlt hatte, und sein Handy herausholte.

Ich bin der dümmste Kerl überhaupt, tippte er.

Gideon antwortete sofort. Da kann ich nichts gegen sagen .

Dann vibrierte Nicos Handy erneut. Ich bin zu lange weg gewesen, Nicky .

Und noch einmal. Ich hab noch eine Sache zu erledigen, aber wir sehen uns bald.