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Elf Jahre später, Anfang Mai

ZEHNTES PORTHMELLOW

STREETFOOD-FESTIVAL

29.  30. Juni, am Hafen von Porthmellow

Kult! So groß und lecker wie nie!

Über 100 Stände und Foodtrucks

Nonstop Live-Musik

Kochshows, u. a. mit

Starkoch Kris Zachary

von der BBC Weekend Kitchen Show

»Coolstes Foodevent von Cornwall« The Sunday Times

Sam wischte Regenwasser von dem laminierten Plakat, das sie in Händen hielt. Zehn Jahre. Das war ein Drittel ihres gesamten Lebens, und wie schnell war das vergangen.

Sie musste sich noch immer kneifen, wenn sie daran dachte, wie rasend schnell sich das Festival nach der ersten verrückten Idee vor dem Smuggler’s Inn entwickelt hatte. Jetzt blinzelte sie, weil ihr Tropfen in die Augen rannen, und versuchte, nicht nach unten zu schauen. Die Trittleiter, auf der sie stand, war keine zwei Meter hoch, aber für jemanden mit Höhenangst war das dennoch kein Pappenstiel. Und dazu bei diesem Wetter. Sturm und Regen tobten wüst, seit sie um sechs Uhr morgens aus dem Haus gegangen war, um die Plakate nach Möglichkeit alle aufzuhängen, bevor sie mit dem Backen für Stargazey Pie anfing. Dass es Anfang Mai sein sollte, konnte man kaum glauben.

Sam biss die Zähne zusammen und schlang die Schnur um ein Halteverbotsschild am Hafenbecken. Eine falsche Bewegung, und sie würde auf dem Kopfsteinpflaster landen oder durch die Abdeckplane der Marisco fallen. Ein Sam-förmiges Loch in seinem kostbaren Boot würde Drew sicher nicht zu schätzen wissen. Ihre Finger waren glitschig vom Regen und starr vor Kälte, aber sie wollte, dass die Plakate endlich hingen, weil der Frühling – angeblich jedenfalls – begonnen hatte und bald Scharen von Menschen in Porthmellow auftauchen würden. Und die sollten bitteschön allesamt Ende Juni zum Festival wiederkommen.

Als plötzlich ohrenbetäubendes Gebell zu vernehmen war, rutschte Sam vor Schreck mit einem Fuß ab und musste das Plakat loslassen, um sich mit beiden Händen festzuhalten. Es fiel in eine ölige Pfütze. Während Sam sich an die Leiter klammerte, wandte sie den Kopf und sah hinter sich einen sabbernden Rottweiler, der auf und ab sprang, um an ihren Füßen zu schnüffeln oder vielleicht auch einen Happen abzubeißen.

Wuff! Wuff! Wuffwuffwuff!

Eine Frau mit langem Ledermantel und Megadeth-T-Shirt versuchte das Tier zu bändigen und starrte mit finsterem Blick zu Sam hinauf.

»Morgen, Bryony«, sagte Sam. »Ziemliches Pieselwetter heute, wie?«

Bryony stupste das Poster mit der Spitze ihrer Doc-Martens-Stiefel an. »Ich hatte ja gehofft, ihr macht mal ein Jahr Pause mit dem Festival.« Der Hund bellte erbost weiter, worauf auch Bryony die Lautstärke steigerte. »Mein Sascha kann die Gerüche und den Krach auf den Tod nicht ausstehen.«

Sie tätschelte den Kopf des Rottweilers, und Sam versuchte unterdessen die Bemerkung zu verdauen. Cornwalls selbsternannter Hundeexpertin und sonderbarstem Heavy-Metal-Fan unter der Sonne zu widersprechen, empfahl sich nicht. Wehe jenen, die es wagten, Bryonys Meinung über Hunde oder Musik zu kritisieren … das Gleiche galt für ihre Ansichten über das Festival, Touristen, das Wetter und so weiter und so fort. Wäre Professor Stephen Hawking jemals nach Porthmellow gekommen, dann hätte Bryony wohl auch seine Theorien angezweifelt. Sie wohnte in einem kleinen Haus kaum fünfzig Meter vom Wavecrest Cottage entfernt, und Sam hörte Sascha oft wie verrückt bellen.

Jetzt witterte sie eine Pause in Bryonys Tirade und nutzte sie. »Das Festival führt viele Leute her, die sonst niemals nach Porthmellow kommen würden. Menschen aus der Region genauso wie Touristen, und wir haben uns damit einen Namen in der Food- und Kulturszene gemacht.«

Bryony schnaubte verächtlich. »Kulturszene? Die Touris sind doch das Grauen, und die Musik ist der reinste Alptraum. Ich überleg mir sogar, ob ich nicht in der Zeit zumachen und verreisen soll.«

»Soll das eine Drohung oder eine frohe Botschaft sein?«, murmelte Sam vor sich hin, bereute aber auf der Stelle, in die Falle getappt zu sein. Sie konnte es sich in ihrer Position als Festivalleiterin nicht erlauben, Leute gegen sich aufzubringen. Deshalb zwang sie sich zu einem entschiedenen, aber höflichen Tonfall. »Du weißt aber doch, dass die Leute während des Festivals viel Geld in den Geschäften der Stadt lassen.« Inklusive deinem Hundesalon, hätte sie gerne hinzugefügt, weil sie wusste, dass dort während des Festivals der Irrsinn tobte. Und tatsächlich drohte Bryony alljährlich in diesen Tagen zu schließen, hatte es aber noch nie getan.

»Im letzten Jahr ist Sascha fast an einer hölzernen Pommes-Gabel erstickt«, sagte sie jetzt anklagend. »Hat wahrscheinlich einer der Idioten weggeschmissen, die sich diese jämmerliche Folkband angeschaut haben.«

»Tut mir leid, dass Sascha krank war, aber die Gabel kann von sonst woher gestammt haben, und wir bemühen uns wirklich nach Kräften, alles so schnell wie möglich aufzuräumen. Du weißt ja, dass das Team aus ehrenamtlichen Helfern besteht …« Bryony verzog höhnisch das Gesicht, und Sam gab auf. »Könntest du mir vielleicht das Plakat hochreichen?«

»Sorry. Muss den Laden aufmachen. Gibt ja Leute, die einen echten Beruf haben.« Bryony streichelte den Rottweiler. »Komm, Schätzlein. Wir müssen heute einen Pudel und zwei Cockerspaniels zurechtmachen.«

Und damit stapfte sie mit Sascha davon. Sam kannte Bryony seit ihrer Schulzeit und war mit ihrer Griesgrämigkeit vertraut. Es gab zwar diverse Leute, die etwas gegen das Festival hatten, aber Bryony tönte grundsätzlich am lautesten von allen. Im Großen und Ganzen waren die Einwohner von Porthmellow unterstützend, aber es war so, wie Roz ihr immer gesagt hatte: Man konnte es nicht allen recht machen. Im Laufe der Jahre hatte es auf der Facebook-Seite des Festivals und in letzter Zeit auch auf Instagram und Twitter etliche abfällige Kommentare gegeben. Beim ersten Mal war Sam gekränkt und aufgebracht gewesen, aber inzwischen hatte sie sich eine dickere Haut zugelegt. Es war ihr einerlei, was die Leute redeten. Das Festival auf die Beine zu stellen war damals die Rettung für Sam gewesen, weil sie eine Aufgabe brauchte. Und es hatte wieder Leben in den Ort gebracht, was genauso wichtig war.

Der Regen prasselte auf ihre Jacke und drohte das Plakat in den Hafen zu schwemmen. Hastig stieg Sam von der Leiter, um es noch rechtzeitig zu erwischen, aber eine Gestalt in scharlachroter Öljacke, weißer Jeans und geblümten Gummistiefeln stürzte sich bereits darauf. Chloe. Sam lächelte. Ein freundliches Gesicht war genau das, was sie nach ihrer Begegnung mit dieser Schreckschraube brauchte.

»Hier. Hab gesehen, wie Bryony dich angeknurrt hat. War sie wieder unausstehlich?«

Sam nahm das Plakat in Empfang. Chloe Farrow wohnte erst seit dem vergangenen Herbst in Porthmellow, sie war nach ihrer Scheidung aus Surrey hierher gezogen. Sie war Eventmanagerin und arbeitete noch immer gelegentlich als Freelancerin für ihre frühere Firma. Klein und zierlich, war Chloe dennoch ein Energiebündel, das ständig vor Ideen sprühte. Insgeheim war Sam überzeugt, dass Chloe von einer Art innerem Atomreaktor angetrieben wurde.

»Hat mich wieder angemotzt wegen des Festivals«, antwortete Sam, »und wollte nicht mal das Plakat aufheben. Die hat doch den falschen Beruf. Sie sollte Alcatraz leiten.«

Chloes dunkelbraune Augen funkelten amüsiert. Die glänzenden schwarzen Haare waren kunstvoll hochgesteckt, was ihre zarten Gesichtszüge betonte. Ihre Mutter stammte aus Hongkong, der Vater war Waliser, und Chloe hatte von den chinesischen und den keltischen Genen in puncto Aussehen das Beste mitbekommen. Obwohl ihr trotz des Schirms immer wieder der Regen ins Gesicht peitschte, war ihr dezentes Make-up nicht verwischt, und sie sah elegant und makellos aus. Sams krause rostrote Locken waren von der Kapuze platt gedrückt, und sie trug die Klamotten, auf die ihr Blick am Morgen zuerst gefallen war: Jeans vom Stuhl im Schlafzimmer, ein langärmliges T-Shirt direkt aus dem Trockner und die alte Regenjacke vom Haken auf der Veranda.

Chloe dagegen sah aus wie eine wandelnde Werbung für die Designer-Boutiquen am schickeren Ende des Kais. Seit es das Streetfood-Festival gab, hatten bereits drei Boutiquen neu eröffnet, außerdem eine renommierte Kunstgalerie, ein stilvoller Einrichtungsladen und ein Biocafé. Inzwischen gab es kaum noch Leerstand in Porthmellow, und sogar der Imbiss bot neben Fish and Chips oder Brühwurst auch Salate und Wraps an.

Sam hielt das nicht für Zufall – sie war der Überzeugung, dass die neuen Geschäfte durch die Besucherscharen angelockt worden waren, die im Sommer zum Festival kamen. Auch Stargazey Pie profitierte davon. Vor ein paar Jahren hatte Sam sich statt der winzigen Küche in der Seitengasse eine modern ausgestattete Backstube am Ortsrand mieten können und einen Verkaufswagen angeschafft, in dem sie jetzt in ganz Cornwall auf Märkten und bei Festen ihre Pies anbot. Es war harte Arbeit, und reich würde sie damit nicht werden, aber sie fand es wunderbar, unabhängig zu sein und von etwas leben zu können, das sie gerne machte.

»Ich hab gestern die meisten Plakate und Flyer in den Geschäften verteilt«, sagte Chloe. »Du hast wohl den Kürzeren gezogen, weil du sie draußen aufhängen musst. Wollte gerade Nachschub holen. Ich schätze mal, bis heute Nachmittag hab ich alle Läden bestückt. Soll ich dir erst mal hier helfen? Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich durch die Geschäfte spaziere, während du hier dem tosenden Atlantik trotzen musst.«

»So schlimm ist es noch nicht.« Sam lächelte. »Wenn die Wellen über den Uhrturm hereinbrechen … dann kannst du anfangen, dir Sorgen zu machen.«

»Großer Gott. Ich hab Fotos von dem gewaltigen Sturm von vor ein paar Jahren gesehen.« Chloe schauderte und beäugte argwöhnisch die gischtenden Wogen hinter den Wellenbrechern, die den Hafen vor dem Meer schützten. »So was droht uns doch wohl hoffentlich nicht während des Festivals, oder?«

Tatsächlich hatte Sam schon dreißig Meter hohe Wellen erlebt, die Gischt war höher gewesen als der Glockenturm. Bei extremen Stürmen wurde sogar im Fernsehen darüber berichtet, aber die Dorfbewohner waren stets gut vorbereitet. Nur hirnlose Touristen gerieten in Schwierigkeiten, wenn sie sich trotz des Schilds, das auf Lebensgefahr hinwies, bei solchen Unwettern am Hafen herumtrieben. Was leider immer wieder vorkam.

»Na ja, in Porthmellow weiß man nie so genau, was vom Ozean zu erwarten ist«, sagte Sam, die Chloes entsetzte Miene ziemlich amüsant fand. »Aber keine Sorge, im Juni ist das eher unüblich. Und zumindest die Leute aus der Region kommen auch bei Regen. Wir sind ein zähes Völkchen.«

Chloe seufzte erleichtert, doch bevor sie etwas erwidern konnte, summte ihr Handy. Als sie die Nachricht las, trat ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht.

»Kris Zacharys Assistentin schreibt, ich soll sie anrufen. Will wahrscheinlich die Ausstattung checken. Kris zu buchen war eine echt geniale Idee, obwohl er eine Menge Geld kostet. Wir haben schon viel Presse deshalb, vor allem wegen … ähm, seines Privatlebens in letzter Zeit. Diese funkelnden blauen Augen … und wie er durch die Küche wirbelt! Das ist ein echter Hingucker.«

»Hmm. Ja, medienwirksam ist der im Moment auf jeden Fall, wenn auch aus den falschen Gründen«, erwiderte Sam und dachte an die Berichte über die Trennung des Starkochs von seiner Frau und die neue Freundin, die er sich auch gleich zugelegt hatte.

»Dass er überhaupt zugesagt hat, heißt doch, dass Porthmellow inzwischen in der Food-Szene auf nationaler Ebene Rang und Namen hat«, erwiderte Chloe.

»Ich hoffe nur, dass Porthmellow ihm vom Niveau her ausreicht«, sagte Sam. Regenwasser tropfte ihr von der Nase. Die Zeit raste, und sie musste die Plakate noch anbringen und gleich mit dem Backen für Stargazey Pie loslegen.

Chloe spähte unter dem Schirm hervor. »Muss schon sagen, das Festival ist doch erheblich aufwändiger, als ich erwartet hatte. Hab ja schon einige Events organisiert, aber das ist bislang das größte.«

»Ich glaube, ich hab mich noch gar nicht richtig bei dir bedankt dafür, dass du ins Planungskomitee eingestiegen bist«, sagte Sam. »Ohne dich würden wir ja gar nicht mehr klarkommen.«

Chloe freute sich sichtlich über Sams Bemerkung. »Ach, ich wollte das unbedingt. Ich kann nicht rumsitzen und nichts tun, und auf die Art und Weise lerne ich auch viele Leute kennen.«

Sie hatte erzählt, dass sie nach Porthmellow gezogen war, weil sie mit ihrem Ex-Mann und ihrer Tochter Hannah hier so glückliche Urlaube verlebt hatte. Und weil Porthmellow nicht nur Ferienort war, hier lebten und arbeiteten Menschen das ganze Jahr über. Sam stellte es sich aber nicht leicht vor, so weit entfernt von Zuhause zu sein, vor allem da Hannah gerade ihr Studium in Bristol begonnen hatte. Sam hatte sie noch nicht kennengelernt, spürte aber, dass Chloe sehr an ihrer Tochter hing. Da Chloe enorm jugendlich wirkte, musste sie früh Mutter geworden sein.

»Danke dir. Kommt Hannah denn zum Festival?«, fragte Sam.

Chloe zögerte. »Ich glaube eher nicht. Sie hat wahrscheinlich in der Zeit Prüfungen und wollte wohl gleich danach verreisen. Und ich hätte ja ohnehin in der Phase keine Zeit für sie.«

»Tja, das stimmt natürlich«, sagte Sam und bereute, gefragt zu haben, denn Chloe klang etwas enttäuscht. In den acht Monaten, seit sie in Porthmellow wohnte, hatte Hannah sich noch nicht blicken lassen. Vielleicht gab es Konflikte in der Familie. Damit kannte Sam sich zur Genüge aus.

»Ich sollte jetzt die Assistentin von Kris anrufen«, sagte Chloe. »Wir sehen uns beim Planungstreffen, ja?«

Als sie gegangen war, hängte Sam weiter Plakate auf und verlor sich dabei unwillkürlich in Erinnerungen. Seit zehn Jahren wurde das Festival von Jahr zu Jahr größer. Aber nicht alles hatte sich in diesen letzten zehn Jahren so gut entwickelt wie das Festival. Sams Liebesleben war quasi nicht existent. Sie war jetzt zweiunddreißig, und es mangelte durchaus nicht an Interesse und Angeboten. Aber ihre ganze Energie floss in die Arbeit für Stargazey Pie, das Festival und Zennor. Und letztlich musste Sam sich auch eingestehen, dass sie noch nicht bereit war, Energie in eine dauerhafte Beziehung zu stecken. So wenig es ihr gefiel – sie hatte die Sache mit Gabe nach wie vor nicht verkraftet.

Als Sam auf die Leiter stieg, um das letzte Plakat zu befestigen, musste sie wieder an diesen Abend vor elf Jahren denken, als Ryan verhaftet worden war. Sie war alleine zu Hause gewesen und hatte sich auf einen kuscheligen Abend mit Gabe gefreut. Als er vor der Tür stand, öffnete sie ihm strahlend und fiel ihm um den Hals.

»Du bist ja spät dran. Ich hab dich schon vermisst«, raunte sie ihm ins Ohr.

Doch er schob sie behutsam von sich weg und sagte: »Sam, ich muss dir was erzählen. Leider nichts Gutes.«

Ihr blieb fast das Herz stehen. Wollte er sich von ihr trennen? Hatte er eine andere Frau?

»Es geht um Ryan«, sagte Gabe.

Sam stockte der Atem. »Oh Gott, was ist denn mit ihm?«

»Er ist wohlauf. Bislang«, antwortete Gabe.

Damit fing alles an.

Doch eigentlich hatten die Probleme schon bald nach dem Tod ihrer Mutter begonnen.

Damals, als Ryan mit Anfang zwanzig die Leitung des Spielsalons übernommen hatte. Wobei »Leitung« eindeutig der falsche Ausdruck war, denn er brachte genauso viel Zeit an den Spielautomaten zu wie die Kunden. Was dazu führte, dass er Schulden machte und sich Geld borgte. Sam war extrem beunruhigt über die schlechte Gesellschaft, in die Ryan geraten war, einen Haufen Tagediebe und Taugenichtse. Aber ihr Bruder tat, als sei alles in bester Ordnung.

Erst als Gabe es ihr sagte, erfuhr Sam, dass Ryan mit Komplizen plante, den eigenen Spielsalon auszurauben. Sie flehte Gabe damals an, nicht zur Polizei zu gehen, aber er hatte es dennoch getan, und die ganze Bande wurde auf frischer Tat ertappt. Sam war schockiert, als ihr Bruder zu einer Haftstrafe von achtzehn Monaten verurteilt wurde, hoffte aber, dass er daraus lernen und das Ganze mit ihrer Unterstützung einigermaßen gut überstehen würde. Doch nach ihrem ersten Besuch im Gefängnis wollte Ryan sie nicht mehr sehen. Er sagte, seine Schwester solle sich nicht an einem solchen Ort aufhalten. Und als er wieder auf freiem Fuß war, wollte er weg von Porthmellow, weil er sich schrecklich schämte, seinen Schwestern so etwas Schlimmes angetan zu haben. Und weil er sich vor der Reaktion der Einheimischen fürchtete.

»Ich bin Gift für die Familie«, sagte er damals. »Bitte versteh, dass ich nicht hierbleiben kann. Ich muss anderswo einen Neuanfang machen.«

Danach verschwand er zunächst spurlos. Es war grauenhaft für Sam, nicht zu wissen, ob er überhaupt noch lebte. Sie suchte im Internet nach ihm, rief ihn zweimal am Tag an, bis er seine Nummer änderte. Einmal behauptete jemand, er habe Ryan in einem bestimmten Viertel in Plymouth gesehen, worauf Sam sofort dorthin fuhr und in den Pubs nach ihm fragte. Was natürlich ergebnislos war und sie nur noch mehr bedrückte.

In dieser Zeit ging auch ihre Beziehung mit Gabe in die Brüche. Er hatte versucht, seine Beweggründe begreiflich zu machen, hatte gesagt, dass es auch zu Ryans Bestem gewesen sei. Man hätte nicht nur die Dorfbewohner vor Ryan, sondern auch ihn vor sich selbst schützen müssen.

Sam wusste sehr wohl, dass Gabe recht hatte, doch das änderte nichts an ihren Gefühlen. Ryan war ihr Bruder, und sie konnte Gabe nicht vergeben, dass er ihn verraten hatte. So war Sam letztlich gezwungen, Stellung zu beziehen, und entschied sich für Ryan. Sie hatte ihn mit großgezogen, und obwohl er älter war als sie, hatte sie ihm die Mutter ersetzt. Gabe jedoch hatte gegen ihren Willen gehandelt, und deshalb trennte sie sich von ihm. Er versuchte sie umzustimmen, doch sie blieb bei ihrer Entscheidung, und Gabe nahm eine Stelle als Souschef in London an. Seither hatte Sam nichts mehr von ihm gehört. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie ihre Mutter, ihren Bruder und ihre große Liebe verloren.

Irgendwann meldete sich Ryan, jedoch nur, um zu sagen, dass es ihm so weit gut ging, er aber nicht mehr nach Porthmellow zurückkehren werde. Danach schickte er den Schwestern nur noch Karten zu den Geburtstagen und zu Weihnachten. Sam hatte ihn seit diesem einzigen Besuch im Gefängnis nicht mehr zu Gesicht bekommen und wusste nichts über sein Leben.

Der Skandal schadete auch Zennor und Porthmellow. Einige Leute verdammten Ryan, andere verteufelten Gabe, weil er jemanden aus der Familie verraten hatte. Nach wie vor warf das Ereignis Schatten auf Sams Leben. Ihre wenigen Beziehungsversuche waren von kurzer Dauer gewesen. Seit der Trennung von Gabe konnte sie sich auf niemanden mehr richtig einlassen. Ihr Engagement für das Festival hatte ihr zunächst eine passende Ausrede geliefert, aber allmählich musste sie sich eingestehen, dass sie sich einsam fühlte. Sie wünschte sich Liebe und eine eigene Familie, konnte sich aber gar nicht mehr vorstellen, wie das noch gelingen sollte.

Und dafür konnte sie letztlich nicht Gabe die Schuld geben, sondern musste ihr eigenes Verhalten ändern. Vielleicht konnte sie das zehnte Festival zum Anlass dafür nehmen. Sie sollte sich mal verabreden, etwas riskieren …

Als sie fröstelte, merkte Sam, dass sie bis auf die Haut durchnässt war. Die Regenjacke war inzwischen auch aufgeweicht, und ihre Jeans troff schon vor Wasser.

Nachdem das letzte Plakat aufgehängt war, machte Sam sich schleunigst auf den Weg zu Stargazey. Plötzlich hörte sie hinter sich jemanden rennen und drehte sich um. Chloe kam angehastet und sah so besorgt aus, dass Sam sofort einen Anflug von Panik verspürte.

»Was ist los?«

»Dieser Anruf von Kris Zacharys Assistentin. Keine guten Nachrichten. Er hat abgesagt.«