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Gabriel Mathias’ Assistentin Suzy kam in das Büro über seinem Restaurant in London marschiert und schwenkte dabei ein Tablet.
»Hey, Gabe. Was steht hier denn plötzlich in deinem Terminplan?«
Gabe wappnete sich innerlich. Suzy war eindeutig auf dem Kriegspfad, und er wusste auch genau, warum.
»Wieso hast du mit dem Vermerk ›Porthmellow Streetfood-Festival‹ einen ganzen Monat geblockt?«, verlangte sie zu wissen.
»Ich werde nicht den ganzen Monat weg sein, nur an dem Wochenende des Festivals. Wollte nur darauf hinweisen, dass du vielleicht ein bisschen umplanen musst.«
»Gabe. So was musst du doch mit mir besprechen, bevor du es zusagst. An dem Wochenende hast du ein Treffen mit einem Verleger in Schottland.«
»Das Festival ist mir wichtiger.«
»Im Ernst jetzt? Ein winziges Provinzfest?«
Gabe lächelte. »Erstens ist es nicht winzig, zweitens findet es in meinem Heimatort statt. Und drittens hatten die sich Kris Zachary als Starkoch gebucht.«
Suzy öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sagte dann schließlich: »Aha, verstehe. Du willst also auf deinem weißen Rappen als Retter angaloppieren?«
Er grinste. »So ähnlich. Der Anruf kam von der Freundin einer Freundin. Das konnte ich nicht ablehnen.«
»Mit Absagen hast du doch sonst keine Probleme. Ich dachte, du hättest keine Bindung mehr an deinen Heimatort. Und ich hatte auch den Eindruck, dass du dich dem nicht verpflichtet fühlst. Du fährst doch nicht mal mehr dorthin, wenn du deine Eltern besuchst.«
Das stimmte. Seit seine Eltern den Imbiss verkauft hatten, wohnten sie zwar nur fünfzehn Kilometer entfernt von Porthmellow, aber Gabe war nicht mehr im Ort gewesen, obwohl er die Eltern regelmäßig besuchte. Es schmerzte ihn zwar, und er hätte Sam gerne wiedergesehen, doch sie hatte seine Gefühle für sie sehr wirkungsvoll zerstört, indem sie ihn am Abend von Ryans Verhaftung aus dem Haus geworfen hatte. In den Wochen danach war Gabe von einigen Dorfbewohnern geschnitten und als »Petze« beschimpft worden. Die Leute wussten eben nichts von der absurden Entscheidung, die er hatte treffen müssen, und er konnte es ihnen auch nicht erzählen.
Nach über elf Jahren hatte Gabe geglaubt, dass ihn das alles nicht mehr berühre. Doch der Anruf von dieser Chloe hatte ihn aus der Bahn geworfen. Sie hatte zwar nicht erwähnt, dass Sam ihn als Ersatz für Kris Zachary vorgeschlagen hatte, aber Gabe wusste, dass sie das Festival leitete, und fragte sich, ob sie ihm auf diese Weise vielleicht ein Friedensangebot machte.
»Was ist denn so Besonderes an diesem Festival?« Suzy riss ihn aus seinen Gedanken.
»Wie gesagt: Ich wollte diese Freundin nicht enttäuschen«, antwortete Gabe, ohne Namen zu nennen. »Außerdem ist mir alles willkommen, womit ich dem blöden Zachary eins auswischen kann. Man hört, dass zwei seiner Lieferanten pleite sind, weil er die Bücher frisiert hat, und ich hatte schon Anfragen von Angestellten von ihm, die jetzt arbeitslos sind. Die meisten in der Branche wussten doch, dass der krumme Dinger dreht, es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihn erwischt. Ich möchte nicht, dass die Leute, die dieses Festival veranstalten, auch noch unter dem Typen leiden müssen. Das ist meine kleine Geste, denen zu helfen.«
Suzy zog eine ihrer gepflegten Augenbrauen hoch. »Aha, du hast also doch ein Herz und bist nicht so ein skrupelloser Koch-Superstar, wie alle glauben.«
»Ich bin ein ganz gewöhnlicher Typ aus Cornwall, der Essen mag. Liest du meine PR-Texte nicht?«
Suzy lachte. »Die hab ich doch selbst geschrieben, Gabe.« Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. »Also schön. Ich rufe diesen Verleger in Edinburgh an und versuche, den Termin zu verschieben.«
Nachdem Suzy gegangen war, tigerte Gabe ruhelos im Büro umher. Als er das Anliegen dieser Chloe Farrow gehört hatte, war er im ersten Moment entschlossen gewesen, die Anfrage abzulehnen. Porthmellow Festival. Seit Jahren hatte Gabe beobachtet, wie das Event immer größer und renommierter wurde, und hatte sich auch schon gefragt, warum er nie dorthin eingeladen wurde. Doch dann hatte er sich die Frage selbst beantwortet. Er galt wohl kaum als einer der geschätzten Söhne des Ortes, und vor allem würde er ganz gewiss nicht zu einem Event gebeten werden, das Samphire Lovell organisierte.
Diese Chloe, die sich als stellvertretende Festival-Leiterin vorgestellt hatte, schien nicht von dort zu stammen, vermutlich wusste sie also nichts von der Geschichte zwischen ihm und Sam. Die Frau hatte so überzeugend und mitreißend gewirkt, dass Gabe sich kurz entschlossen auf das Angebot eingelassen hatte. Jetzt schüttelte er den Kopf, als ihm klar wurde, dass Sam ihn garantiert niemals um etwas gebeten hätte. Da war eindeutig sein Wunsch Vater des Gedankens.
Und mit dieser Feststellung wurde Gabe auch von einer Welle heftiger Emotionen erfasst: von Zorn, Bitterkeit und dem überwältigenden Wunsch, zu beweisen, dass er sich entwickelt hatte, dass er ein ganz anderer Mensch geworden war. Das Festival bot ihm die perfekte Gelegenheit, das unter Beweis zu stellen.
Er setzte sich an seinen Computer und rief eine Seite auf, die er nach Chloes Anruf markiert hatte. Dann griff er zum Telefon.
»Suzy, ähm … kannst du mir bitte einen Gefallen tun?«
»Dafür bezahlst du mich eigentlich«, erwiderte sie.
Er grinste. »Wie sieht mein Terminplan in den nächsten vier, fünf Wochen konkret aus?«
Kurz darauf sagte Suzy: »Du hast ein paar Treffen hier in London und einen Vortrag in Birmingham.«
»Und sonst? Ist da noch irgendwas extrem Wichtiges?«
»Extrem wichtig nicht, abgesehen natürlich von der Leitung deiner Restaurants. Worauf läuft diese Frage denn hinaus?«
Gabe ging nicht auf ihren sarkastischen Tonfall ein. »Was ist mit diesem neuen Ableger, den ich im Südwesten eröffnen wollte?«
»Du meinst in Brixham oder Salcombe? Die Makler haben gerade nachgefragt wegen des Restaurants in Brixham. Sie haben noch ein weiteres Angebot auf dem Tisch.«
»Sag denen, sie können das annehmen. Ich hab eine andere Idee.«
»Wow. Schon die zweite an einem Tag.«
Gabe lachte. »Bin gerade in Stimmung. Wenn du denen abgesagt hast, suchst du mir bitte eine Unterkunft in Porthmellow für mehrere Monate? Kein Hotel, was Eigenes. Ferienhaus oder so, was ab sofort frei ist. Muss aber mit exzellenter Küche ausgestattet sein.«
Suzy stieß einen Entsetzensschrei aus. »Ein paar Monate? Du willst für Monate nach Cornwall abhauen?«
Gabe grinste in sich hinein. Suzy war eine hervorragende Assistentin, gehörte aber zu den Menschen, die glaubten, an den Stadtgrenzen von London ende die Zivilisation.
»Das meiste kann ich doch per Mail und Telefon erledigen, und wenn was Wichtiges ist, komme ich eben her. Porthmellow ist nicht hinter dem Mond, weißt du.«
»Nee, weiß ich nicht. Ich war da noch nie.« Suzy seufzte tief. »Dürfte nicht leicht werden, mitten in der Saison für so lange was Passendes zu finden. Ich häng mich rein, aber es könnte passieren, dass du im Wohnwagen endest …«
»Hauptsache, ich kann dort kochen und es ist nah am Ort. Preis spielt keine Rolle.«
Gabe legte auf. Er empfand eine Mischung aus Furcht und freudiger Aufregung. Und musste sich die Wahrheit eingestehen. Trotz der dramatischen und unschönen Erinnerungen brachte er es nämlich nicht übers Herz, Porthmellow in einer Notlage im Stich zu lassen. Und ganz gewiss nicht Sam Lovell.