5

@PieKing: Is doch Scheiße, dises Festiwal. Haufenwaise blöde Turis. #Sommer-Foodfestival #vergisses

Sam verdrehte die Augen, als sie ihren Twitter-Feed durchsah. Irgendwer aus dem Dorf war immer schlecht auf das Festival zu sprechen. Es nahm tagelang den Ort in Beschlag, man fand weit und breit keinen Parkplatz mehr, und die Straßen waren vollgestopft mit Touristen aus dem ganzen Land. Aber wenn man schon Troll-Kommentare abgab, sollte man doch zumindest die Rechtschreibung beherrschen, fand Sam.

Sie stopfte ihr Handy in die Tasche, fest entschlossen, für den Rest des Tages keine weiteren Social Media-Posts zu lesen, und betrat mit einem Seufzer der Erleichterung ihr Cottage. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen.

Im Wohnzimmer war Zennor gerade damit beschäftigt, den Käfig der beiden Meerschweinchen zu säubern, die unterdessen vergnügt quietschend durch das Zimmer wuselten. Sam lächelte, weil Zennors Outfit so gar nicht zu ihrer Tätigkeit passte: Doc-Martens-Stiefel, Leder-Leggings, Tütü und der alte weiche Filzhut ihrer Mutter.

Zennor, gertenschlank und zierlich, kleidete sich in einem Stil, der immer ein bisschen nach Altkleidersammlung aussah. Aber ihre kleine Schwester hätte sogar in einem Müllsack cool ausgesehen, dachte Sam, und ließ sich aufs Sofa plumpsen.

»Wie geht’s denn Harry und Gareth heute so?«, fragte sie, legte ein Kissen auf ihren Bauch und schnappte sich Gareth, um das weiche schwarzweiße Fell des Meerschweinchens zu streicheln. Gareth war eher schüchtern und zartbesaitet, schien die Zuwendung aber zu genießen, und quiekte entzückt.

Zennor lächelte. »Ganz okay. Harry ist lebhaft, aber Gareth scheint ein bisschen down zu sein.«

Sam strich mit dem Zeigefinger über Gareths Kopf. »Was ist denn los, Kerlchen?«

»Harry fand plötzlich, dass er jetzt doch auf Blumenkohlblätter steht und Gareths Portion auch noch haben muss. Hat ihm das Blatt vor der Nase weggeschnappt. Gareth hat geguckt, als sei er überfallen worden. Stimmte ja auch. Und dann hat Harry das Blatt nicht mal gefressen. Das war echt nicht nett von dir«, sagte Zennor anklagend zu dem Nagetier. »Super unhöflich. Keine Ahnung, wie Gareth das verkraften soll.«

»Der Arme. Du bist einfach zu lieb, um dich zur Wehr zu setzen, oder, Schätzchen?« Sam hob Gareth vor ihr Gesicht und pustete ihm sachte ein Küsschen auf die Nase. Zennor beobachtete ihre Schwester mit zufriedenem Lächeln. Sam schimpfte nämlich oft, dass die Tiere zu viel Schmutz und schlechte Gerüche verbreiteten, hing aber in Wirklichkeit sehr an ihnen. Nach ihren langen Arbeitstagen fand Sam es immer wieder erstaunlich entspannend, ihnen zuzuschauen, wenn sie durchs Zimmer flitzten oder Möhren nagten. Wäre ihr eigenes Leben doch auch nur so einfach … Sam war immer noch völlig verstört, weil Gabe beim Streetfood-Festival auftreten würde, und hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie das Zennor mitteilen sollte.

»Ich bring schnell den Müll raus, dann mach ich uns Mojitos«, verkündete Zennor, als sie frische Streu im Käfig verteilt hatte. »Nach diesem Tag brauch ich dringend einen.«

Aber bestimmt nicht so nötig wie ich, dachte Sam, während Gareth zufrieden auf ihrem Bauch fläzte und sein Bruder Harry, ein schmucker goldblonder Bursche, durch den Spieltunnel sauste. Meist verstanden die beiden sich prächtig. Dazu hatten sie auch guten Grund, denn im Vergleich zum Rest des Hauses war ihr Gehege das reinste Paradies. Die Brüder waren bereits die sechste Meerschweinfamilie, die hier seit Roz’ Tod lebte.

Zuerst hatte es Brad und Angelina gegeben, zwei wunderhübsche langhaarige Wesen, die man aber getrennt halten musste, weil sie sich entweder dauernd besprangen oder erbittert bekämpften. Darauf folgten Dr Jekyll und Mr Hyde, die in schönster Harmonie miteinander lebten. Beide verstarben im Abstand von zwei Tagen, was für die Schwestern zwar sehr traurig, für Jekyll und Hyde aber vermutlich ein Segen gewesen war.

Nach jedem Todesfall trauerte Zennor heftig, und Sam hob im Garten hinter dem Haus ein weiteres Grab auf dem Meerschwein-Friedhof aus. Jede Ruhestätte wurde von Zennor entsprechend der Persönlichkeit des entschlafenen Tiers mit einem Muschelschmuck versehen. Sie hatte bereits angedroht, sämtliche Skelette zu exhumieren, sollte jemals ein Umzug anstehen. Doch Sam hatte keinerlei Absichten, Wavecrest Cottage jemals zu verlassen. Zu viele Erinnerungen, schmerzhafte und glückliche, waren mit diesem Haus verbunden. Wavecrest war für die Schwestern wie ein Teil ihres eigenen Körpers.

Als Zennor zurückkam, in jeder Hand ein Glas, und sich zwischen Harry und dem Meerschwein-Spielplatz hindurchschlängelte, strahlte Sam.

»Danke, Schwesterherz.«

»Mit frischer Minze aus Mums Kräuterbeet«, sagte Zennor. »Und zum Essen gibt’s Fajitas. Gemüse und Salat hab ich schon vorbereitet. Dachte mir, nach deinem langen Tag bei Stargazey willst du bestimmt nicht kochen.« Sie warf einen Blick auf Sam. »Alles okay mit dir?«

»Ja, schon, und bei dir?«

Zennor machte es sich neben ihr auf dem Sofa bequem, trank einen Schluck und seufzte tief. »Tag war furchtbar. Unser wichtigster Kunde hat x-mal seine Wünsche fürs neue Firmenlogo geändert. Wir haben das verdammte Ding fünfzehnmal umgestaltet, bis der Oberboss es sich endlich angeguckt und dann beschlossen hat, dass er die erste Version doch am besten fand.«

Sam merkte, dass sie sich konzentrieren musste, um Zennor wirklich zuzuhören und nicht gedanklich abzuschweifen.

»Dann hatten wir drei Stunden lang kein Internet«, fuhr Zennor fort. »Drei geschlagene Stunden, und dabei hätten wir dringend die Gartencenter-Website testen müssen, an der wir endlos gebastelt haben. Und als ich bei der Bank angerufen hab, um was wegen unserem Konto zu klären, hat mich der Vollpfosten vom Callcenter viermal meinen Namen buchstabieren lassen und dann gefragt, ob ich nach einem Abführmittel benannt sei. Keine Ahnung, was der für ein Problem hatte, aber ich fand das ungefähr so witzig, wie in Hundekacke zu treten.«

»Krass«, kommentierte Sam im Jargon ihrer Schwester. Gareth wurde unruhig, er wollte sich offenbar auch auf dem Teppich tummeln. Sam setzte ihn behutsam ab, worauf die beiden Meerschweinbrüder sofort anfingen, einen Ball herumzuschubsen.

Zennor lehnte sich zurück und saugte an ihrem Strohhalm. »Warum kann ich nicht einen stinknormalen Namen wie Emma oder Kelly haben? Wieso musste es so was krass Ausgefallenes sein?«

»Du bist immerhin nach einer wunderschönen Meerjungfrau benannt worden«, wandte Sam ein. »Besser, als nach einer Pflanze. Bist du jemals einer anderen Samphire begegnet?«

»Nee. Aber du passt prima zu einem leckeren Fischgericht.«

Sam lachte. »Wir sollten lieber dankbar sein, dass unsere Mum so viel Fantasie hatte. Sie war nie konventionell. Dad auch nicht, weshalb er wohl auch mit dieser exotischen Tänzerin abgehauen ist.«

Sam hatte kaum Erinnerungen an ihren Vater. Auf den Fotos aus den Achtzigern sah er mit seinen langen Haaren und dem Schnurrbart ziemlich attraktiv aus. Aber niemand aus der Familie hatte Kontakt zu ihm, und Sam hatte nicht die Absicht, an diesem Zustand etwas zu ändern.

Ihre Mutter dagegen war ihr so präsent, als stünde sie jetzt vor ihnen. Roz Lovell war auch Ende vierzig noch schlank und sehr hübsch gewesen, immer im Hippie-Stil gekleidet; die Kleider hatte sie in Second-Hand-Läden oder auf Festivals erstanden. Sie war Kunstlehrerin an der örtlichen Oberschule gewesen, und es hatte nicht viel Geld in Wavecrest gegeben, aber nie an Fröhlichkeit und Kreativität gemangelt.

Zennor ähnelte ihrer Mutter sehr. Sam hatte von ihr bloß den rostroten Lockenschopf geerbt, vom Vater jedoch die Gesichtszüge, wie Roz immer betont hatte. Da Barry Lovell die Familie verlassen hatte, als Sam erst acht gewesen war, fiel es ihr schwer, das anhand der wenigen Fotos, die es von ihm gab, zu beurteilen. Und ihr Bruder Ryan glich wiederum der Mutter. Vielleicht kam das Sam aber auch nur so vor, weil sie nicht wollte, dass er Ähnlichkeit mit dem unzuverlässigen Vater hatte.

Zennor sah Ryan sehr ähnlich, von ihren neuerdings mojitogrünen Haaren abgesehen. Jetzt hielt sie eine Strähne hoch.

»Gefällt’s dir?« Zennor schüttelte ihre Locken. »Sieht doch voll nach Meerjungfrau aus, oder? Ben meint, es sei cool. Ich musste ihn nicht mal auffordern, sich dazu zu äußern.«

»Wow, das ist ja echt mal was.«

Der schlaksige, fast zwei Meter große Ben verlieh dem Wort Schweigsamkeit in der Tat neue Bedeutung. Ben war so schüchtern, dass man ihm nur mit Mühe und Not überhaupt irgendwelche Äußerungen entlocken konnte. Es hatte Sam sehr erstaunt, als er sich freiwillig fürs Festival-Komitee gemeldet hatte. Vermutlich wegen Zennor.

»Sag mal, ist Ben eigentlich in dich verliebt?«, fragte Sam.

Zennor seufzte. »Keine Ahnung. Kann nicht behaupten, dass er sich irgendwas anmerken lässt. Wir kennen uns schon so ewig, ich geb die Hoffnung allmählich auf. Aber ich mag ihn echt. Er ist ein genialer Webdesigner, als Geschäftspartner hab ich hundert Prozent Vertrauen zu ihm, und auf seine nerdige Art sieht er super aus, ohne die geringste Ahnung davon zu haben.«

»Ist das nicht immer am besten?« Sam erinnerte sich daran, wie sie Gabes Uneitelkeit früher enorm attraktiv gefunden hatte. Äußerlichkeiten waren ihm einerlei gewesen, als er noch im Imbiss gearbeitet hatte, obwohl er sich immer wieder abfällige und diskriminierende Bemerkungen anhören musste.

»Sam?«

»Huch!« Sam quiekte wie die Meerschweinchen, weil Zennor ihr das eiskalte Glas an den Arm gedrückt hatte.

»Wo warst du denn gerade in Gedanken?«, erkundigte sie sich.

»Äh …« Sam blickte auf ihre Hände. »Zennor, ich … Gabe kommt nach Porthmellow.«

Zennor ließ fast ihr Glas fallen. »Was? Wieso das denn? Wann?«

»Kris Zachary musste seinen Festival-Auftritt absagen, weil er bankrott ist. Gabe springt für ihn ein.«

»Was? Wieso um alles in der Welt ausgerechnet Gabe

»Weil Chloe ihn angefragt hat.«

»Was? Weiß sie denn nichts über dich und ihn? Und die ganze Geschichte mit Ryan?«

»Nein, woher denn auch? Als sie gehört hat, dass Kris nicht teilnehmen kann, hat sie bei ihren Kontakten in London rumtelefoniert. Jemand kannte Gabe, und den Rest kannst du dir denken.«

»Wie absurd ist das denn. Du bist doch bestimmt fast in Ohnmacht gefallen, oder?«

»Allerdings. Ich war natürlich völlig verdattert, aber was soll ich machen? Chloe kennt unsere Geschichte ja nicht. Ich hab erst mal so getan, als fände ich es toll. Aber ich muss sie auf jeden Fall einweihen, bevor sie es über den Dorftratsch erfährt.«

»Hammer. Bin fassungslos. Ich meine … Gabe weiß doch garantiert, dass du das Festival leitest. Wie kann er so dreist sein, sich hier blicken zu lassen?«

»Vielleicht hat er sich verpflichtet gefühlt, als er so direkt gefragt wurde.«

Zennor pfiff laut, und die Meerschweinbrüder kamen angeflitzt. »Stellt euch mal vor, Jungs, Gabe Mathias taucht demnächst wieder hier auf! Er war die große Liebe eurer Tante Sam. Die hat früher immer gesagt: Ach, er ist ja so schüchtern, tut nur so selbstsicher. Und er hat keine Ahnung, wie toll er aussieht …«

»Das ist ewig her!«, protestierte Sam.

Zennor streichelte Harry und sah Sam von der Seite an. »Ich wünschte, er käme nicht her. Weiß noch genau, wie schlecht es dir ging, als er Ryan verraten hat. Ich hab Gabe damals auch total gehasst. Aber was du erst durchgemacht hast! Ich war ja noch so jung und wusste überhaupt nicht, wie ich dir hätte helfen können.«

Sam wurde die Kehle eng. »Mir hätte ohnehin niemand helfen können. Wie soll man mit so einer Situation auch umgehen? Ich schätze, Gabe hat eben getan, was er für richtig hielt. Es stand mir nicht zu, ihn zu bitten, Ryan nicht zu verraten. Heute wünschte ich sogar, ich hätte es nicht getan.« Sie schluckte, als sie unwillkürlich wieder die Szene an jenem verhängnisvollen Abend vor sich sah. Gabe war kreideweiß im Gesicht, als er stammelte, es täte ihm leid, und er hätte die schwierigste Entscheidung seines Lebens treffen müssen.

Noch immer lief es Sam kalt den Rücken hinunter, wenn sie an diesen Abend dachte. Sie hatte geschrien und geweint und Gabe angefleht, Ryan nicht zu verraten. Dann packte sie ihn und versuchte, ihn zu erpressen: »Wenn du mich wirklich liebst, tust du das meiner Familie nicht an …« Und sie klammerte sich an ihn, um ihn am Weggehen zu hindern, aber er riss sich los und verschwand.

Danach versuchte Sam Ryan anzurufen, erreichte ihn aber nicht. Ryan wurde mit zwei Komplizen auf frischer Tat ertappt.

»Sam?« Zennor legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich bin zwar wütend auf Gabe, aber um dich mache ich mir richtig Sorgen. Jetzt kommt die ganze Geschichte wieder hoch, oder?«

Sams spürte, wie angespannt sie war. Sie hatte nämlich an jenem Abend damals nicht nur Gabe und Ryan zugleich verloren, sondern auch ihren Stolz und ihr Selbstwertgefühl. Was sie allerdings noch niemandem je eingestanden hatte, auch ihrer Schwester nicht.

»Ein bisschen«, sagte sie, »obwohl es doch schon so lange zurückliegt. Aber ich konzentriere mich auf das Festival. Wenn Gabe dazu beiträgt, dass es ein Erfolg wird, dann kann ich mich damit arrangieren.« Sam zwang sich zu einem Lächeln. »Lass uns keine Zeit und Kraft mehr auf Vergangenes verschwenden. Mach doch jetzt das Essen fertig, dann verstaue ich die Jungs.«

Die Meerschweinchen hockten wieder behaglich in ihrem Gehege, als Zennor die Fajitas auftrug. Die Schwestern aßen an dem kleinen Küchentisch und nahmen sich Paprika, Zwiebeln, Bohnen und die anderen Beilagen aus den Schälchen. Trotz des anstrengenden Tages hatte Sam keinen rechten Appetit, bemühte sich aber Zennor zuliebe, ordentlich zuzugreifen.

Es war nun einmal nicht zu ändern: Selbst wenn Chloe den größten Teil der Kommunikation mit Gabe übernahm, würde Sam ihm unweigerlich begegnen. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie reagieren würde. Als er weit entfernt gewesen war, hatte sie sich einreden können, dass sie ihn vergessen hatte. Wie mochte er sich in diesen elf Jahren verändert haben? Aus seinen Kochshows wusste sie zwar, dass er fantastisch aussah, und mit seiner Gelassenheit und seinem trockenen Humor wirkte er sehr sympathisch. Doch das mochte nur seine Rolle fürs Fernsehen sein. Wie um alles in der Welt sollte sie damit umgehen, wenn er dann leibhaftig vor ihr stand?