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@CornwallMädel: Weiß jemand, welche Bands beim Festival auftreten? @PorthmellowGirl #Sommerfestival
@MetallicaFan: Scheißegal. Die Bands sind eh alle Mist. Da hört sich mein Hund besser an. #Scheißmucke #MetalRules
Sam verließ den Friseursalon und machte sich auf den Weg nach Hause. Nach der Arbeit bei Stargazey war sie zu ihrer Friseurin gegangen und hatte sich dort während der Wartezeit endlich erlaubt, im Internet zu recherchieren, ob Gabe gegenwärtig eine Partnerin hatte.
Ob das Ergebnis ihr gefiel oder nicht, war ihr selbst nicht ganz klar. Aus Blogs und Zeitungsberichten ging hervor, dass er seit der Eröffnung seines ersten Restaurants mit unterschiedlichen Frauen »gesehen« worden war. Mit einer glamourösen Kochbuchautorin hatte er ein paar Jahre zusammengelebt, aber laut Wikipedia war die Beziehung im vergangenen Jahr in die Brüche gegangen. Gegenwärtig tauchte nirgends eine Partnerin auf. Und Troy hätte bestimmt auch eine Bemerkung darüber gemacht, wenn Gabe liiert gewesen wäre.
Als Sam mit Haareschneiden dran war, plauderte sie wie immer angeregt mit ihrer Friseurin und vergaß vollkommen, zu Anfang »Nur nachschneiden bitte« zu sagen. Als es ihr wieder einfiel, sah der Boden ringsum schon aus wie in Bryonys Hundesalon, und beim Anblick des coolen, aber ungewohnt kurzen Bob entfuhr ihr ein erschrockenes Quietschen.
Die Stunde beim Friseur war einziger Ruhepunkt in einem extrem anstrengenden Tag gewesen. Sam hatte nonstop gebacken für eine Konferenz über Außerirdische, die am nächsten Abend in Tehiddy stattfand. Jetzt genoss sie auf dem Heimweg die warme Frühlingssonne, während sie die steile Treppe hinaufstieg, die zur Stippy Stappy Lane führte. Obwohl Sam den Aufstieg gewohnt war, keuchte sie ziemlich, als sie auf der schmalen Straße mit den pastellfarbenen Reihenhäusern ankam, zu denen auch Wavecrest gehörte. Ihr Häuschen war allerdings nicht mal annähernd zu sehen, weil ein Umzugslaster, der sich offenbar komplett verkeilt hatte, den Weg blockierte. Hinter dem Wagen stand ein Mann in braunem Overall, die Hände in die Hüften gestützt, und betrachtete ratlos sein Fahrzeug.
»Was ist passiert?«, fragte Sam, als sie näher kam, obwohl sie die Antwort bereits kannte. An dieser Stelle strandeten öfter mal größere Fahrzeuge.
Der Fahrer kratzte sich am Kopf. »Das verdammte Navi hat mich hierhergeschickt, und jetzt steck ich fest.«
»Jemand hätte Ihnen sagen müssen, dass Sie hier mit so einem großen Laster nicht durchkommen. Vorwärts geht gar nicht, das Haus da vorne hat ein weit vorstehendes Erkerfenster, damit kollidieren Sie dann.«
»Hab ich gesehen. Ich wollte rückwärts wieder raus, aber mit der scharfen Kurve da ist das ein Alptraum. Ich hab Angst, dass ich die Terrasse von dem weißen Haus frisiere. Mein Boss macht mich ’nen Kopf kürzer, das können Sie glauben.« Er beäugte Sam hoffnungsvoll. »Ich brauche jemanden, der mich lotsen kann. Aber nicht mal mit Hilfe bin ich mir sicher, ob ich rückwärts durch diese Kurve komme.«
Sam blickte zwischen dem Laster und dem verzweifelten Fahrer hin und her. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Wo wollen Sie überhaupt hin?«
»Großes Haus am Ende der Straße, ich hoffe, da kann man vernünftig anfahren. Clifftop House, kennen Sie das?«
Sam starrte den Fahrer fassungslos an. In diesem Laster befanden sich die Sachen von Gabe.
»Das ist doch hoffentlich hier, oder?«, fragte der Fahrer unsicher, weil er ihre Miene nicht deuten konnte.
»Ja, klar. Man kann das Haus nicht sehen, weil es nur über einen Fußweg zugänglich ist. Sie hätten mit einem kleineren Wagen kommen müssen. Geben Sie mir die Schlüssel.«
Er schnaubte. »Das soll wohl ein Witz sein.«
»Warum? Weil ich eine Frau bin?«
»Nein, weil Sie nicht qualifiziert und nicht versichert sind.«
»Erstens: Ich fahre einen Pick-up mit einem zum Imbisswagen umgebauten Pferdetransporter quasi täglich auf Straßen, die noch wesentlich schmaler und kurviger sind als diese hier. Zweitens: Ich wohne in dieser Straße, und meine Schwester kommt bald nach Hause – zumindest, wenn sie hier nicht stecken bleibt. Sie halten uns davon ab, gleich gemütlich bei einem schönen Gin Tonic zusammenzusitzen.« Sam streckte die Hand aus. »Schlüssel, bitte.«
Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. »Das kann ich nicht machen.«
Sam stieg auf der Fahrerseite ein.
»Sie … ich … das darf ich wirklich nicht, Sie sind doch nicht versichert«, wiederholte der Mann aufgeregt.
»Und was wird Ihr Chef sagen, wenn er einen Kollegen schicken muss, damit der Ihr Fahrzeug befreit? Und währenddessen kommt von den Bewohnern niemand ins Dorf. Hier wohnen Senioren und eine Frau, die in einer Woche ein Kind erwartet. Nicht mal ein Krankenwagen kommt jetzt hier durch. Los, geben Sie mir die Schlüssel.«
Der Mann reichte sie ihr. »Ich muss wahnsinnig sein.«
»Halten Sie hinten den Verkehr auf, falls jemand kommt.«
Der Mann verschwand hinter dem Laster, immer noch vor sich hinmurmelnd. Sam sah ihn im Außenspiegel und begann zurückzustoßen. Es war wirklich verdammt eng, aber sie kannte die Straße wie ihre Hosentasche und wusste genau, wann sie einschlagen musste, um nicht mit Garners Terrasse zu kollidieren. Als sie daran vorbei war, fuhr sie noch ein Stück rückwärts, bremste und öffnete die Fahrertür.
»Steigen Sie ein!«, rief sie dem Mann zu. »Ich fahr Sie auf anderem Wege hin.«
Er starrte sie argwöhnisch an. »Sie haben doch gesagt, das sei die einzige Straße.«
»Die einzige Straße zu Clifftop House, ja, aber nicht der einzige Weg.«
Kopfschüttelnd stieg der Fahrer ein.
»Anschnallen«, befahl Sam, bevor sie noch ein paar Meter rückwärts fuhr und auf einen Schotterweg zwischen zwei Häusern einbog. Der war auch ziemlich eng und führte zu einem asphaltierten Weg an den Garagen hinter den Häusern.
Der Mann stützte sich am Fenster ab, während der Laster vorwärtsholperte. »Großer Gott, ist das überhaupt eine Straße?«
»Nicht so ganz. Hat keinen Namen, ist aber der einzige Weg, Clifftop House mit dem Wagen zu erreichen.«
»Ich habe strikte Anweisung, die Straßen nicht zu verlassen …«
Sam lachte. »Waren Sie noch nie in Cornwall?«
Sie behielt die Gartenausgänge scharf im Auge und bog am Ende der Strecke auf einen von Bäumen gesäumten unbefestigten Weg ab.
»Heiliges Kanonenrohr«, wetterte der Fahrer. »Das ist doch ein Fußpfad!«
»Naturnahe Route eben«, bemerkte Sam trocken, während Äste am Dach schabten. »Aber schauen Sie, da ist schon Clifftop House in Sicht.«
Sie kamen aus dem Schatten der Bäume hinaus auf ein Stück Heidelandschaft, und plötzlich war auch das Meer zu sehen. Sam fuhr noch ein Stück weiter und hielt dann am Küstenweg. Zu nah ans Haus heranfahren wollte sie nicht, um nicht womöglich Gabe zu begegnen.
»Sie müssen am Tor klingeln«, sagte sie zu dem Fahrer. »Und wenn Sie ein Stück auf dem Küstenweg fahren, achten Sie auf Fußgänger und Hunde. Ist übrigens auch nicht erlaubt.«
»Großer Gott, wie soll ich denn hier wieder wegkommen?«, fragte der Mann entsetzt.
»Da kann ich Ihnen jetzt nicht mehr helfen. Fragen Sie Ihren Auftraggeber, vielleicht chauffiert der Sie raus. Wenn er’s noch kann.«
Im selben Moment, als sie aus dem Laster sprang, hörte Sam eine Stimme.
»Hey, wie haben Sie’s geschafft, mit diesem Riesenwagen hier raufzukommen?«
Als Sam am Boden landete, stand Gabe vor ihr.
Er starrte sie stirnrunzelnd an, als erkenne er sie nicht, fand jedoch dann seine Stimme wieder. »Sam? Was machst du denn hier?«
Der Fahrer rief aus der Kabine: »Ich hab ihr gesagt, dass sie nicht fahren darf! Ich wusste, dass es verboten ist, aber sie wollte einfach nicht auf mich hören!«
Gabes Augen funkelten amüsiert. »Das kann ich mir denken.«
»Nun reicht’s aber«, protestierte Sam. »Der gute Mann ist selbst schuld, dass er sich an der Stippy Stappy Lane verkeilt hat. War kurz davor, das Cottage von Old Man Garner zu demolieren und hat die gesamte Straße blockiert. Es war meine Bürgerpflicht, das Ding da wegzuschaffen. Ich meine, wer braucht denn auch schon einen so riesigen Umzugswagen? Doch nur jemand, der zu viel Zeug hat!«
Gabe starrte sie mit offenem Mund an, während der Fahrer in bedröppeltes Schweigen verfiel. Sams Herz pochte wie wild. Sie hatte sich Gabes Kochshows angeschaut und wusste, wie er inzwischen aussah. Aber als er jetzt so vor ihr stand, fand sie ihn regelrecht umwerfend – und ärgerte sich furchtbar darüber.
»Ich wollte nur helfen«, fügte sie hinzu. »Muss jetzt auch nach Hause, hab alle Hände voll zu tun.«
»Ich dachte, Sie wollten Gin Tonic trinken?«, murmelte der Fahrer.
»Das auch. Tschüss.« Sie marschierte los.
Gabe lief ihr nach. »Sam, warte doch. Können wir kurz reden?«
Sam ging unbeirrt weiter. »Ich habe dir nichts zu sagen.«
»Also …«
»Ich bin Leiterin des Festivals und werde absolut professionell mit dir umgehen, wenn es so weit ist«, sagte Sam schroff. »Auch wenn die Idee, dich zu fragen, nicht von mir kam. Meine Stellvertreterin wusste nichts von unserer … einstigen Verbindung, sonst hätte sie das niemals vorgeschlagen.«
»Verstehe. Ich muss gestehen, dass ich mich auch gewundert habe über die Anfrage. Vor allem nach so langer Zeit.«
»Für mich ist das alles, als sei es gestern gewesen.«
Gabe schüttelte den Kopf und hielt hilflos die Hände hoch. »Sam. Ich freue mich, dich zu sehen. Willst du nicht reinkommen, und wir trinken einen Tee?«
Sam schluckte schwer. Sie wusste, dass sie bis zehn, zwanzig oder sogar bis hundert zählen sollte, hatte aber das Gefühl, dass nichts sie beruhigen konnte. Dass dieser Moment kommen würde, hatte sie geahnt und versucht, sich allerlei höfliche Plattitüden dafür zurechtzulegen. Doch die nützten ihr jetzt nicht das Geringste. Gabe gegenüberzustehen brachte sie völlig durcheinander.
»Nein, danke«, sagte sie und ging weiter.
»Schade. Vielleicht ein andermal?«
»Mal sehen.«
»Hey! Ich bin vorhin Troy Carman begegnet«, sagte Gabe und trottete neben ihr her den Weg entlang.
»Schön für dich. Er ist übrigens im Komitee. Evie auch.«
»Ja, das hat er mir gesagt.«
»Ich muss jetzt weiter.«
Gabe berührte sie am Arm, nur ganz leicht. Sie blieb stehen und verschränkte die Arme.
Oh Gott, das wird alles grauenvoll, dachte Sam.
Gabe sah sie so ernsthaft an, dass sie unwillkürlich Gänsehaut bekam.
»Möchtest du, dass ich den Auftritt wieder absage?«, fragte er. »Ich weiß nicht, ich – ich kann doch nicht alle im Stich lassen.«
»Wäre ja nichts Neues«, murmelte Sam.
Damit wandte sie sich abrupt ab und eilte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Gabes Abschiedsgruß wurde übertönt vom Kreischen der Möwen und dem Dröhnen der Wellen, die weit unten auf den Strand brandeten.