18

In seinem Haus zog Drew als Erstes die Stiefel aus, und Chloe bückte sich, um ihre Sneakers aufzuschnüren.

»Du kannst die Schuhe ruhig anlassen«, sagte Drew. »Ich will nur hier drin meine Arbeitsstiefel nicht anhaben, da klebt immer Motorenöl dran und Teer.«

Chloe richtete sich auf und sah sich um, fasziniert davon, in Drews privaten Räumen zu sein. Das kleine moderne Doppelhaus lag in einer stillen Gasse gegenüber vom Gemeindezentrum. Sie hatte den Segler bislang nur im Ambiente der Marisco erlebt und musste sich an die bürgerliche Umgebung erst gewöhnen.

Eine kirschrote Regenjacke an der Garderobe stach ihr ins Auge. Das war wohl kaum Drews Farbe, und die Jacke war auch viel zu klein. Vielleicht gehörte sie der geheimnisvollen Caitlin, über die Drew sich noch immer mit keinem Wort geäußert hatte.

»Ich check mal die Getränkevorräte«, sagte er. »Fühl dich wie zu Hause.«

Chloe ließ sich auf dem Sofa nieder, während Drew hinter ihr einen Barschrank durchstöberte. Das Wohnzimmer war spärlich möbliert, an den magnolienfarbenen Wänden hingen einige moderne Gemälde von Porthmellow und der Küste. Chloe nahm an, dass Drew sich nicht gezielt »minimalistisch« eingerichtet hatte, sondern einfach wenige Dinge zum Leben brauchte.

Auf dem Kaminsims und einem Beistelltisch standen einige gerahmte Fotos. Drew mit dem Team des Rettungsboots, auf dem er früher im Einsatz gewesen war, und mit seinen Eltern – die Chloe bei einem Spendenfest für das Festival kennengelernt hatte – vor dem Smuggler’s Inn. Und ein Bild, auf dem Drew den Arm um die Schultern eines großen Jungen legte, der bestimmt Connor war. Er hatte jedenfalls die gleiche Haarfarbe wie Drew, und auch das Lächeln war ähnlich.

Drew tauchte wieder auf und präsentierte einige Flaschen. »Also, hier hab ich Gin – ziemlich gewöhnlichen allerdings –, einen Zitronenlikör, den ich nicht empfehlen kann, und einen Single Malt Whisky, den ich durchaus empfehlen kann. Bier wäre auch im Angebot.«

»Der Whisky klingt verlockend.«

»Gute Wahl«, sagte Drew und stellte die Flasche auf den Tisch. »Den nehm ich auch. Bin gleich wieder da.«

Kurz darauf kehrte er mit zwei schlichten Whiskygläsern und einem Krug Wasser zurück. »Möchtest du ein bisschen Ingwer in dein Glas?«

»Nur einen Schuss Wasser«, sagte Chloe.

Drew goss ihnen beiden großzügig Whisky ein und gab einen kleinen Schluck Wasser dazu. Dann hob er sein Glas. »Auf … alles Mögliche.«

»Auf alles Mögliche«, wiederholte Chloe. Schon beim ersten Schluck durchströmte sie wohlige Wärme. Dennoch war ihr mulmig bei der Vorstellung, Drew ihr Herz auszuschütten.

Sie trank noch einen Schluck. »Ist das Connor?«, fragte sie dann und deutete auf das Foto mit dem Jungen. Es fiel ihr leichter, über Drews Leben zu sprechen, als über ihr eigenes.

Er nickte, nahm das Foto vom Kaminsims und reichte es Chloe. Aus der Nähe sah sie, dass die Gesichtszüge des Jungen feiner waren als die seines Vaters. Beide hatten eine Angel in der Hand und strahlten.

»Sieht aus, als hättet ihr viel Spaß gehabt.«

»Wir waren Makrelenangeln und hatten gute Beute gemacht. Connor liebt Angeln. Wir fahren immer mit der Marisco raus, wenn ich in der Nähe von Brixham bin.«

»Und du glaubst wirklich, dass Katya nach Polen ziehen wird?«, fragte Chloe.

»Ich vermute schon, ja. Sie ist Buchhalterin und könnte in Krakau in der Firma ihres Bruders arbeiten. Connor hat bereits beide Staatsbürgerschaften, und ich würde meinem Sohn niemals die Erfahrung nehmen wollen, ein neues Land zu erkunden. Der Flug von Bristol aus dauert nur zweieinhalb Stunden, aber es ist eben doch eine Reise. Es setzt mir furchtbar zu, offengestanden, aber ich will vor allem, dass es Connor gut geht. Meine Bedürfnisse sind zweitrangig.«

Chloe spürte fast körperlich, wie Drew unter der Vorstellung der Trennung von seinem Sohn litt. »Ja, ich weiß, wie schwer das ist. Als Fraser und ich uns scheiden ließen, bin ich relativ schnell darüber hinweggekommen. Aber Hannah hat es immer noch nicht verkraftet, glaube ich.«

Drew sah sie aufmerksam an. »So ein Bruch im Leben wirkt ganz lange nach, wie große Wellen. Irgendwann erwischt einen immer noch ein Ausläufer …«

»Das stimmt«, bestätigte Chloe. »Die Trennung selbst war grausam, Fraser fehlte mir zu Anfang furchtbar. Irgendwie vermisse ich ihn auch immer noch, aber … inzwischen ist mir klar geworden, wie unglücklich ich vorher war. Armer Fraser«, fügte sie hinzu. »Hört sich gerade an, als sei er ein altes Sofa gewesen, das ich ausrangieren wollte.«

Drew lachte. »Und, war er so?«

»Nein, nein, überhaupt nicht. Er ist ein gutaussehender, charmanter Typ. In seiner Jugend Surreys begehrtester Junggeselle. War sogar mal in einem Regionalmagazin abgebildet, hat sich für wohltätige Zwecke engagiert. Das war noch vor unserer Zeit, aber ich glaube, Publicity mag er immer noch gern.« Chloe stellte zum ersten Mal fest, dass sie Fraser tatsächlich nicht mehr zurückhaben wollte, selbst wenn es möglich gewesen wäre.

Drew verdrehte die Augen. »Verzeih mir bitte, wenn ich jetzt nicht beeindruckt bin.«

»Na klar. Aber ich will dir nichts vormachen – ich hab es lange sehr genossen, mit diesem tollen Mann verheiratet zu sein, der nur Augen für mich hatte. Glaubte ich jedenfalls.«

»Fremdgegangen?«

»Ja.« Chloes Lächeln geriet bitter. »Manchmal hat er sie mit nach Hause genommen, während ich auf irgendwelchen Events war. Dann musste er nicht fürchten, dass ich auf irgendwelche Hotelrechnungen stoße.«

Drew fluchte leise. »Wie mies ist das denn. Haben die Nachbarn nichts bemerkt?«

»Vielleicht schon, aber die hätten mir ohnehin nichts gesagt. Wir haben in einer Villengegend mit großen Gärten und hohen alten Bäumen gelebt. Das Haus auf einer Seite stand leer, im anderen lebte sehr zurückgezogen eine Schriftstellerin. Als die einzog, hatte ich ihr vorgeschlagen, meinem Buchclub beizutreten. Aber als sie mitgekriegt hat, dass wir spaßeshalber ›Fifty Shades of Grey‹ als Buch des Monats ausgesucht hatten, wollte sie nichts mehr von uns wissen. Wir hätten Drogen verhökern oder jede Nacht wilde Orgien feiern können, ohne dass jemand was gemerkt hätte.«

Drew lachte, sagte aber sofort: »Entschuldige, es ist ja kein witziges Thema.«

»Doch, irgendwie ist es schon auch komisch. Vor allem aus der Distanz betrachtet.« Chloe trank einen Schluck Whisky. »Ich bin froh, dass ich hierher gezogen bin. Ich muss mit weniger Geld auskommen, bin aber glücklicher als früher. Und muss mir nicht dauernd Gedanken über die Affären meines Mannes machen. Ich lebe ganz gern alleine und liebe Porthmellow. Finde es wunderbar, hier mit den Leuten ins Plaudern zu kommen, sobald ich auch nur ein paar Briefmarken kaufe.«

»Aber?«, fragte Drew und betrachtete sie forschend über den Rand seines Glases hinweg.

»Ich habe ganz viel Glück gehabt.«

»Danach hab ich nicht gefragt, Madame«, sagte er, gespielt machomäßig wie in einem alten Western, und Chloe kicherte. Der torfig schmeckende Laphroaig war ein köstlicher Stoff und so entspannend wie eine exzellente Massage.

»Fraser vermisse ich nicht, aber Hannah dafür umso mehr. Manchmal so schlimm, dass es richtig körperlich in der Brust schmerzt«, gestand Chloe. »Was du vorhin gesagt hast, wegen Connor … ich wollte auch nur das Beste für Hannah … aber ich fürchte, das hat uns entzweit.« Sie umklammerte ihr Glas und versuchte ruhig zu atmen.

Drew ließ ihr Zeit, sich zu fassen. Das hatte Fraser nie getan, er hatte sie ständig zu irgendetwas gedrängt.

»Das klingt schlimm«, sagte Drew sanft. »Meinst du, deine Probleme mit Hannah haben dich und deinen Mann entzweit?«

»Nein. Fraser und ich waren schon auseinander, als es mit Hannah schwierig wurde. Dass wir versucht haben, das Beste für unsere Tochter zu tun, hat den Bruch zwischen Hannah und mir herbeigeführt. Wir … haben sehr selten Kontakt zurzeit.«

Drew zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Aber … ich dachte, ihr telefoniert fast täglich?«

»Schön wär’s.« Chloe seufzte und wünschte, sie hätte sich ihren neuen Freunden früher anvertraut. Es war eine große Erleichterung, endlich mit jemandem über all das sprechen zu können. »Seit über einem Jahr schottet sich Hannah mir gegenüber ab. Meine Enkelin, Ruby, hab ich noch nie gesehen.«

»Oje, ich hatte ja keine Ahnung. Du Arme, das ist eine üble Situation.«

»Ich wollte es euch nicht erzählen, weil ich manchmal selbst kaum damit klarkomme und auch nicht recht weiß, wie ich es überhaupt erklären soll. Mit seinen Kindern soll man sich schließlich gut verstehen, oder? Sam und Zennor sind sich so nah und haben außerdem ihre Mutter verloren, die beiden will ich nicht mit meinen Themen belasten. Evie und Troy scheinen ein so schönes Verhältnis zu ihrer Tochter zu haben … Und ich bin ja auch noch relativ neu hier und will bei der Organisation fürs Festival gut organisiert und professionell wirken, nicht wie ein Jammerlappen.«

Drew blieb einen Moment stumm. Dann streckte er die Hand aus und berührte Chloes Arm. »Mir gegenüber musst du dich nicht verstellen oder eine Fassade aufrechterhalten. Aber ich weiß, wie schwer es ist, über schmerzhafte Themen zu reden. Ich versuche ja selbst, mein Privatleben unter Verschluss zu halten, obwohl das in einem Dorf wie Porthmellow quasi unmöglich ist. Aber jetzt hast du schon angefangen, dann kannst du auch weitermachen.«

Chloe lächelte unwillkürlich. »Danke. Hannah lebt mit dem Vater der Kleinen zusammen, einem Mann namens Jordan Rees. Er ist ein attraktiver Typ, der auch nett sein kann, wenn er will. Aber Fraser und ich konnten ihn schon vom ersten Moment an nicht leiden. Er behandelte Hannah nicht gut, machte sarkastische Bemerkungen über ihre Kleidung und ihre Frisur und ließ sich abfällig über unser ›Luxusleben‹ und die ›herrschende Klasse‹ aus. Hat Hannah irgendwie heruntergemacht, nur weil sie unsere Tochter war. Um ihretwillen habe ich versucht, ihn zu verstehen. Sie hat ihn angehimmelt, sah in ihm wohl so eine Art Che Guevara.« Chloe verdrehte die Augen. »Eine Zeit lang lief er sogar mit so einer Mütze rum. Was natürlich kein Verbrechen ist.«

»Was für ein Idiot«, bemerkte Drew.

»Klar, ist er. Aber eben nicht auf den Kopf gefallen.«

»Hmm. Und dann ging’s weiter bergab?«

»Ja, genau. Fraser fand, wir sollten uns nicht einmischen, und hat gehofft, dass Hannah irgendwann genug von Jordan haben würde.«

»Aber so war’s nicht.«

»Nein, im Gegenteil«, seufzte Chloe. »Sie ist mit ihm zusammengezogen. Und der Clou der Geschichte: Fraser hat herausgefunden, dass Jordans Vater Multimillionär ist. Jordan besitzt einen eigenen Fonds. Und er heißt auch in Wahrheit gar nicht nur Jordan Rees, sondern Gideon Jordan Rees-Carew.«

»Herr im Himmel«, schnaubte Drew.

»Natürlich kann er sich nennen, wie er will. Aber wenn er nicht mit Hannah zusammen ist, führt der zu Hause bei seinen Eltern wirklich ein Luxusleben. Hannah hockt mit Ruby in einer miesen Einzimmerwohnung, während der Herr zu Regatten und Pferderennen fährt und an Pokerturnieren teilnimmt.« Chloe hielt inne. »Tut mir leid, dass ich mit alldem über dich hereinbreche. Und ich habe auch ein schlechtes Gewissen, weil ich mich Sam nie anvertraut habe. Sie ist so eine gute Freundin, aber sie hat ja auch ihre Probleme und … Vielleicht sollte ich jetzt einfach den Mund halten.«

»Mach dir keine Gedanken. Sam hätte sicher volles Verständnis. Aber sag mal, woher weißt du denn das alles über diesen Jordan?«

»Über eine dritte Person haben wir überhaupt erst gehört, dass Hannah schwanger war. Wir hatten uns so furchtbare Sorgen gemacht.« Chloe zögerte. Was sie jetzt gestehen musste, fiel ihr nicht leicht. »Und deshalb haben wir … einen Privatdetektiv beauftragt, mehr über Jordan herauszufinden.«

»Uff«, sagte Drew etwas schockiert.

Mit dieser Reaktion hatte Chloe fast gerechnet.

»Wir waren absolut verzweifelt, weil Hannah psychisch und physisch so kaputt wirkte, als sie uns mal besucht hat. Fraser arbeitete damals wie ein Wilder, kam immer später nach Hause und gestand mir schließlich, dass er eine Affäre mit der Barista des Cafés in seinem Unternehmen hatte. Wir waren quasi schon getrennt, haben aber wegen Hannah zusammengehalten. Wir lieben sie beide so sehr und wollten ihr unbedingt helfen. Über einen Geschäftskontakt, der Jordans Vater kannte, hat Fraser die ganzen Hintergründe erfahren. Daraufhin haben wir den Detektiv engagiert, damit er Beweise heranschafft. Wir hatten Fotos und Videos von Jordan bei seinem Luxusleben und sogar die Höhe der Summe, die er bei Wetten und Poker verspielte.«

»Und das habt ihr Hannah gezeigt?«

Chloe trank einen großen Schluck Whisky, bevor sie antwortete. »Ja.«

»Ging wohl nicht so gut aus?«

Mit Grauen erinnerte sich Chloe an die Szene, die sich damals abgespielt hatte. »Hannah ist vollkommen ausgerastet. Sie hat behauptet, sie hätte das alles gewusst, und es würde ihr nichts ausmachen. Schrie, wir hätten ihr nachspioniert und sie immer unterdrückt, und wir würden ihre Entscheidungen nicht respektieren. Wir seien kleinliche und geldbesessene Spießer, und sie würde sich unserer schämen.« Chloes Stimme zitterte, als sie weitersprach. »Sie sagte auch, sie hätte Bescheid gewusst über Jordans Herkunft, die sei ihm selbst peinlich, aber er müsse diesen Lebensstil wegen seiner Eltern mitmachen, seine Mutter sei todkrank.« Chloe seufzte tief. »Die Mutter hat zwar eine Krankheit, ist aber keineswegs sterbenskrank.«

Drew verzog angewidert das Gesicht. »Na, der Typ ist doch der reinste Alptraum. Ein Glück musste ich den bislang nicht kennenlernen.«

»Ich hab mich wirklich bemüht, mich einzufühlen und mir zu sagen, dass er sicher auch schwierige Themen hat im Leben. Aber manche Menschen sind eben einfach nur unangenehm. Fraser war deutlicher, der hat Jordan mit allen möglichen Schimpfwörtern bedacht und Hannah gesagt, es sei naiv und kindisch, mit dem zusammenzubleiben.«

»Autsch.«

»Ja, und ich war wiederum wütend auf Fraser, weil er Hannah damit endgültig vertrieben und die Fronten verhärtet hatte. Sie sagte, sie wolle nie wieder von uns hören. Ich bin dann auch ausgeflippt und habe gesagt, es wäre mir lieber, wenn sie mit einem mittellosen Obdachlosen zusammen wäre als mit diesem manipulativen skrupellosen Reichensöhnchen.« Chloe schloss die Augen, weil sie das Drama wieder vor sich sah. »Und ich bin mir sicher, Hannah wusste selbst genau, dass die Bezeichnung zutraf«, fuhr sie fort. »Deshalb hat sie so heftig reagiert. Die Wahrheit ist eben schmerzlich. Manchmal so schmerzlich, dass man sie lieber ruhen lassen sollte. Ich wünsche mir inständig, dass ich das alles über Jordan nie erfahren hätte. Oder dass ich es jedenfalls Hannah verschwiegen hätte. Dann wäre sie vielleicht selbst im Laufe der Zeit zu sich gekommen. Aber so haben Fraser und ich die Beziehung zu unserem heiß geliebten Kind zerstört – vielleicht für immer.«

Drew hatte Chloe nicht unterbrochen, nur zugehört. Jetzt sagte er: »Ich weiß auch nicht, was in dieser Lage das Richtige ist – oder gewesen wäre. Aber eines weiß ich: Du solltest dich auf keinen Fall schämen, dass du deine Tochter liebst und getan hast, was du für richtig hieltest. Und auch nicht, wenn du mir, Sam oder anderen Menschen, zu denen du Vertrauen hast, davon erzählst.«

»Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll«, erwiderte Chloe. »Hannah will nichts mehr mit uns zu tun haben. Fraser ist wütend darüber und meint, es sei jetzt an ihr, den ersten Schritt zu machen. Aber ich denke eher, dass wir den Frieden mit ihr suchen müssen, auch wenn wir abgelehnt werden.«

»Wann hast du es zuletzt versucht?«, fragte Drew.

»Letzte Woche. Sie ging an ihr Handy – was schon mal einem Wunder gleichkam –, und wir fingen an zu reden, aber dann kam Jordan ins Zimmer, und sie hat das Gespräch abgebrochen. Ich habe ihr noch geschrieben, dass sie sich jederzeit melden kann, dass ich immer für sie da bin. Ich hatte gehofft, sie würde sich noch mal melden, wenn sie alleine ist.«

»Glaubst du, dieser Typ übt Druck auf sie aus?«

»Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht emotionalen. Ich hoffe, er misshandelt sie nicht körperlich.« Chloe schauderte. »So oder so kostet es mich enorme Überwindung, nicht hinzufahren und ihn zur Rede zu stellen.«

Drew nickte mitfühlend. »Das kann ich gut nachvollziehen. Aber Hannah ist kein Kind mehr. Glaubst du, dass sie Jordan aus Stolz nicht verlässt oder dass sie wirklich Angst vor dem Kerl hat?«

»Kann ich nicht einschätzen«, antwortete Chloe. »Sie ist in einer schwierigen Lage. Wenn sie ihn verlässt, ist sozusagen bewiesen, dass wir recht hatten – obwohl ich das nie sagen würde. Ich will ja nur, dass es Hannah und der kleinen Ruby gut geht.«

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie mir zumute wäre, wenn ich Connor nicht mehr sehen dürfte«, sagte Drew. »Meinst du, Hannah kommt vielleicht zu deinem Geburtstag? Ist ja ein besonderer.« Er lächelte. »Bei mir ist es auch bald so weit, und man wird schließlich nur einmal vierzig, du solltest dein Fest genießen.«

»Glaub ich kaum, dass Hannah kommt«, murmelte Chloe und leerte ihr Glas. Der Whisky brannte im Hals, und sie hustete.

»Man soll niemals nie sagen. Vielleicht ist das genau der Vorwand, den Hannah braucht.« Drew hielt die Flasche hoch. »Noch einen Schluck?«

»Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich das erste Glas so schnell ausgetrunken habe.«

»Geht mir genauso.«

Alkohol war wohl nicht die beste Methode, den Flüssigkeitsverlust vom Zumbakurs auszugleichen. Und noch dazu ohne Abendessen. Wenn sie weitertrank, sagte sich Chloe, würde sie bestimmt noch mehr ausplaudern. Drew fand es sicher erstaunlich, dass sie so jung schon Großmutter geworden war, schien aber zu diskret zu sein, um nachzufragen.

»Ich muss jetzt los.« Als Chloe aufstand, schwankte sie. Es war unbedingt an der Zeit, aufzubrechen. »Vielen Dank fürs Zuhören.«

»Dir auch. Ich spreche nicht oft über Connor. Oder mein Liebesleben.«

Dabei hatten sie darüber gar nicht geredet, nur über Ex-Beziehungen und Familie. Was sowohl eine Erleichterung als auch bedauerlich war. Denn obwohl Chloe angeschlagen aus der Trennung mit Fraser hervorgegangen war, hatte sie doch das Interesse an Männern nicht verloren. Gabe war grandios, aber tabu. Drew hatte eine Ex-Frau und offenbar auch eine Freundin. Chloes Leben hier geriet anscheinend nicht weniger kompliziert als in Surrey.

»Du kannst jederzeit mit mir über alles reden«, fügte Drew hinzu. »Ich bin Onkel Drew, dein Kummerkasten.«

»Ich glaube kaum, dass du dir ständig meine Sorgen anhören willst.«

»Das bin ich von den Segeltörns gewöhnt, wenn diese Stadtmenschen aus ihrer abgeschirmten Welt rauskommen und plötzlich ihre ganzen Tricks und Kniffe keinen Pfifferling mehr wert sind. Dann sind diese Typen allein mit den Elementen, und die Masken fallen. Dafür lebe ich.«

Chloe lächelte. Wieso merkte sie eigentlich erst nach so vielen Monaten, was für ein toller Typ Drew war? Er konnte vielleicht manchmal ein bisschen direkt sein, aber das steigerte seine Attraktivität noch.

»Und die meisten von diesen Männern«, fügte Drew hinzu und stand auf, »haben weitaus weniger Kümmernisse als du. Also ruf mich an oder komm vorbei, wann immer dir danach ist.«

»Ich danke dir. Tschüs.«

Chloe wollte ihn spontan auf die Wange küssen, aber er drehte den Kopf so, dass sie seine Lippen küsste, und er schien den Kuss auch zu erwidern. Chloe schlang Drew spontan die Arme um den Hals. Und wünschte sich dann auf der Stelle, im Erdboden zu versinken.

»Oh mein Gott … entschuldige …«, stammelte sie.

Drew lächelte. »Da gibt’s nichts zu entschuldigen. Hat sich schön angefühlt, aber ich glaube, zurzeit wäre das nicht so eine gute Idee. Ich mag dich wirklich sehr, Chloe, aber ich denke, für uns beide ist das kein passender Zeitpunkt.«

»Absolut, du brauchst gar nicht weiterzusprechen. Ich hab mich furchtbar blamiert. Muss jetzt los.« Es war wirklich schrecklich. Weniger der Kuss als die Tatsache, dass Drew eine Freundin hatte und außerdem über zehn Jahre jünger war als Chloe. Als sie in ihrer Jugend Partys gefeiert hatte, war er noch auf der Grundschule gewesen. Wie wäre ihm wohl zumute, wenn er das erfahren würde?

Das würde sie ihm jedenfalls jetzt nicht auch noch auf die Nase binden. Genug Offenbarungen für einen Abend.

»Du musst nicht so abrupt aufbrechen. Magst du nicht noch einen Kaffee?«

»So betrunken bin ich nicht«, platzte Chloe heraus.

»Das meinte ich damit gar nicht. Sondern eher: Lauf doch nicht einfach so weg. Bitte.«

»Aber ich muss jetzt wirklich unbedingt nach Hause. Schau mal, wie spät es schon ist.« Sie deutete auf die Wanduhr im Flur und griff nach dem Türknauf.

»Halb zehn? Das ist doch nicht spät«, wandte Drew ein.

»Finde ich schon«, murmelte Chloe, bekam aber die Tür nicht auf und rüttelte am Knauf.

Drew griff an ihr vorbei. »Man muss gleichzeitig den Schlüssel drehen«, sagte er lächelnd.

Chloe war rot angelaufen. »Danke.«

»Kein Problem.«

»Also dann.« Sie murmelte irgendetwas und rief sich dann zur Ordnung, als sie aus dem Haus trat. Es ging nicht an, dass sie abends um halb zehn überstürzt aus Drew Yellands Haus rannte – vor allem, da gerade die Stadtkapelle aus dem Gemeindezentrum kam und die Damenrudermannschaft vom Training zurückkehrte.

Chloe bemühte sich, auf dem Rückweg durchs Dorf möglichst gelassen zu wirken. Erst als sie zu Hause war, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf und knallte ihre Schlüssel so heftig auf den Küchentresen, dass er wahrscheinlich eine Delle bekam.

Dann sah sie ihr Spiegelbild in dem Backofen auf Augenhöhe und wünschte sich, sie hätte ihn nicht auf Hochglanz poliert. Denn so sah sie jetzt leider genau, dass ihr Mascara verschmiert war und dass sie insgesamt völlig aufgelöst wirkte. Was war das nur für ein Tag gewesen. Sie hatte die Geschichte über die Trennung von Fraser und über Hannah ausgeplaudert. Hatte einen wesentlich jüngeren Mann angebaggert, der eine Freundin hatte. Und der Chloe nur so behutsam behandelt hatte, weil er nun mal ein sehr netter Mensch war.

Sie fühlte sich einsam und vollkommen durcheinander. So ging das nicht weiter. Sie beschloss, sich von nun an auf keinen Mann mehr einzulassen, so charmant, sympathisch oder sexy er auch sein mochte. Ihre Ziele waren, ihre Beziehung zu ihrer Tochter wiederaufzubauen und das Festival zu managen. Und nur darauf würde sie sich ab jetzt konzentrieren. Davor galt es noch, den runden Geburtstag zu bewältigen. Der auch schon unter einem schlechten Stern stand, weil ihre Freunde keine Ahnung hatten, wie »rund« dieser Geburtstag tatsächlich war.