21
Es duftete köstlich im Crow’s Nest, als Chloe am Samstagabend Teller auf den Klapptisch stellte und in Papierservietten gewickeltes Besteck dazulegte. Sie hatte sich den vorigen Tag freigenommen, um das Fest vorzubereiten. Es hatte ihr immer schon Freude gemacht, Gäste zu bewirten. Gastfreundlichkeit hatte in der chinesischen wie auch in der walisischen Tradition ihrer Familie eine große Rolle gespielt, und zu jedem Anlass war reichlich Essen aufgetischt worden.
Chloe hatte walisische Kekse gebacken und Jiaozi vorbereitet und erledigte jetzt letzte Kleinigkeiten. Die Wohnküche mit der Kochinsel war ein schöner Raum, aber mit acht Leuten mochte es etwas eng werden. Deshalb war Chloe froh, dass es nicht regnete und sie die Terrasse mit einplanen konnte. Wenn Wolken vorüberzogen, wurde es allerdings rasch kühl, also stattete sie für Evie den großen Sessel noch mit Kissen aus und legte Fleecedecken zurecht.
In zwei Wochen war das Festival, dann würde sie nicht mehr wissen, wo ihr der Kopf stand, aber jetzt war erst mal Party angesagt. »Gemischte Gefühle« war allerdings gar kein Ausdruck für Chloes Zustand; sie machte sich Vorwürfe, dass sie noch immer keine der Gelegenheiten genutzt hatte, um ihr wahres Alter zu offenbaren. Sie hätte das gleich zu Anfang bei Troys Bemerkung klären können. Oder bei Drew zu Hause oder bei der letzten Sitzung. Aber jedes Mal hatte sie sich unter irgendeinem Vorwand darum gedrückt. Vor Drew wollte sie sich nicht blamieren; das Komitee nicht von der Arbeit abhalten …
Aber heute Abend gab es kein Entrinnen mehr. Sie musste den anderen sagen, wie alt sie wirklich war. Auf die Gefahr hin, dass man glauben würde, sie hätte bislang vorsätzlich gelogen. Chloe nahm eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und goss sich ein großes Glas ein, dann überprüfte sie das Büffet. Fehlte noch etwas? In eisgefüllten Kühlern wartete der kornische Champagner, im Kühlschrank lagerte reichlich Bier und auch etliche Flaschen eines sehr guten Pinot Gris aus Neuseeland.
Rasch stopfte sie alle Geburtstagkarten mit den verräterischen Aufschriften in eine Schublade. Fraser hatte geschrieben, aber von Hannah hatte Chloe nichts gehört.
Um sich abzulenken, legte sie Musik auf – Kylie Minogue, warum auch nicht. Im selben Moment klingelte es, und ihr Herz tat einen Sprung. Jetzt ging es zur Sache.
»Hallo, wir sind’s!«, hörte sie Evie fröhlich rufen.
Beim Gedanken an diese liebenswerte Frau fühlte Chloe sich noch erbärmlicher. »Komme!«, rief sie und eilte nach unten, um die Tür zu öffnen.
Evie hielt einen schimmernden Luftballon mit Smiley und der Aufschrift »Du bist 40!« in der Hand und rief: »Alles Liebe zum runden Geburtstag!«
Chloe zwang sich zu einem strahlenden Lächeln und umarmte Evie, kam sich dabei aber wie Judas vor.
»Danke! Wie süß von euch!«
Troy hielt mit seiner unversehrten Hand eine Kühltasche hoch. »Hier drin ist was zu futtern«, verkündete er.
Evie sagte, ihr Gericht sei eine Überraschung und müsse frisch zubereitet werden. Oben verstaute Chloe die Zutaten in dem ohnehin schon überfüllten Kühlschrank.
»Kommt Hannah auch?«, erkundigte sich Evie. »Wäre schön, sie mal kennenzulernen.«
»Ach, sie hat furchtbar viel zu tun. Die Gelegenheit ergibt sich bestimmt ein anderes Mal.«
»Ich bin mir sicher, dass sie mit ihrer Mama feiern will. Bestimmt steht sie später noch mit einem Blumenstrauß vor der Tür.«
Chloe lächelte. »Warten wir’s ab. Was möchtet ihr trinken?«
Während sie Evie Schampus einschenkte, klingelte es erneut, und Drew stand vor der Tür, in Händen eine weiße Styroporschachtel. Darin lagen zwei Dutzend Jakobsmuscheln auf Eis.
»Zum besonderen Anlass. Ich hoffe, du magst Jakobsmuscheln?«, fragte Drew.
»Ja, sehr. Wow, vielen Dank!«
»Ich hab sie ganz frisch in Helford gekauft. Wenn du magst, mach ich sie auf und bereite sie zu.«
»Na klar.«
Drew trug ein weißes Hemd und eine coole Weste und sah umwerfend aus. Chloe hatte Schmetterlinge im Bauch wie ein verknallter Teenager, als er in der Küche die Muscheln auspackte und dabei versehentlich ihre Hand berührte.
»Ich brauche ein Geschirrtuch und ein Brett«, sagte er. »Und wenn wir dann essen wollen, brate ich sie mit Zitronensaft und Weißwein kurz an. Dauert nicht lange.«
»Danke.« Chloe fand ihn hinreißend, aber selbst wenn Drew vielleicht doch gerade Single sein sollte – sobald er ihr Alter erfuhr, würde er garantiert kein Interesse mehr an ihr haben. Ihr Magen zog sich zusammen.
»Hallo-ho!«, trällerte Zennor, als sie hereinkam.
»Wir haben vegane Pizza mitgebracht«, verkündete Ben. »Die muss nur kurz im Ofen gewärmt werden.«
»Großartig, was für ein Festmahl«, sagte Chloe, dankbar von Drew und dem stressigen Altersthema abgelenkt zu werden.
»Ist Gabe schon da?«, fragte Zennor.
»Nein.« Chloe spürte die Dramatik hinter der Frage, und überlegte, dass Zennor ihn möglicherweise bei dieser Party zum ersten Mal wiedersah. Angesichts der Spannungen zwischen den Lovells und Gabe konnte das schwierig werden, und Chloe versuchte sich innerlich zu wappnen.
»Die Pizza riecht wahnsinnig lecker«, sagte sie munter.
Kurz darauf traf Sam ein, die kleine kornische Beerentörtchen und zwei Gläser Streichrahm überreichte. »Hab ich selbst gebacken, ich hoffe, alle mögen Beeren.«
Evie quietschte vor Begeisterung. »Die werden den Abend nicht überstehen!«, rief sie aus.
Alle brachten nicht nur Essen, sondern auch Geschenke und Glückwunschkarten mit, die Chloe auf ihr Sideboard legte. Sie würde mehr als nur ein Glas Wein brauchen, um die später aufzumachen.
Bald war das Crow’s Nest erfüllt von Lachen, dem Klirren von Gläsern und Stimmengewirr, weil alle durcheinanderredeten, während sie ihre Speisen auf dem Tisch platzierten, anderweitig verstauten oder vorbereiteten. Chloe musste an das Sprichwort mit den vielen Köchen denken und beauftragte Troy, die Drinks auszuschenken, damit wenigstens er aus dem Weg war. Ben war mit dem Motorrad gekommen und trank nichts Alkoholisches.
Gabe traf als Letzter ein. Als er mit einer großen Kiste voller Essen den Raum betrat, warf Zennor Sam einen bedeutungsvollen Blick zu. Alle bis auf Zennor begrüßten Gabe freundlich, aber das fiel ihm wahrscheinlich nicht auf, weil die anderen so einen Radau veranstalteten.
»Oho, hier kommt der Profi«, tönte Troy. »Jetzt sind wir aber gespannt. Oder gibt’s Fish and Chips?«
Alle lachten, und Gabe verdrehte grinsend die Augen. »Ich hab diverse schlichte Vorspeisen mitgebracht und hoffe, es ist für jeden was dabei.« Er begann auszupacken. »Hummus und Zaziki. Taramosalata nach einem Rezept meiner Großmutter, nur Edelfisch, Zwiebeln, Semmelbröseln und Petersilie. Nicht diese übliche rosa Pampe. Das da sind Riesenbohnen und Oliven von meiner Mum. Hummus, Bohnen und Oliven sind vegan, Ben, wie du wahrscheinlich weißt.«
Ben lächelte. »Ich liebe Riesenbohnen. Du doch auch, Zennor, oder?«
Zennor zuckte die Achseln. »Geht so.«
»Ich krieg davon Blähungen«, erklärte Troy.
Evie piekte ihn mit ihrem Stock. »Jetzt hör mal auf, den Leuten das Essen zu vergällen, Troy!«
»Wird ihm nicht gelingen«, sagte Drew und deutete auf den mit Schüsseln, Boxen und Platten überladenen Tisch. »Schaut euch das an. Ein regelrechtes Bankett.«
»Absolut fantastisch«, bekräftigte Chloe. »Ihr verwöhnt mich. So, wollen wir mit Champagner und den Jakobsmuscheln anfangen, die Drew mitgebracht hat?«
Zennor riss erschrocken die Augen auf.
»Veggies müssen die natürlich nicht essen«, sagte Chloe angesichts ihrer entsetzten Miene lachend.
Gabe und Sam verteilten die Vorspeisen in Schälchen, während Drew die Muscheln zubereitete und sie dann in ihrer Schale servierte. Gabe, Troy und Evie stürzten sich mit Begeisterung darauf, und Chloe selbst fand sie schmackhafter, als sie erwartet hatte.
Sam verputzte auch einige. »Ich esse die viel lieber als Austern, die find ich immer so schleimig.«
»Dann solltest du sie mal gegart probieren«, schlug Gabe vor. »Schmecken köstlich in einer Buttersoße mit Kräutern. Ein paar Semmelbrösel obendrauf, dann in den Ofen.«
»Das klingt nicht schlecht«, sagte Sam und trank einen Schluck Champagner.
»Kann ich gerne mal für dich zubereiten …«
»Wenn Drew mal wieder welche ranschaffen kann.«
Drew zwinkerte ihr zu. »Kein Problem, sagt mir einfach Bescheid.«
»Und das Tröpfchen hier ist ja auch köstlich.« Sam leerte ihr Glas. »Gibt’s noch Nachschub, Chloe?«
»Na klar. Ich bring die nächste Flasche und die Vorspeisen auf die Terrasse raus.«
»Ich räume ab«, erbot sich Drew.
Als Chloe zum Kühlschrank ging, wechselten Drew und sie einen Blick. Drew wies leicht mit dem Kopf auf Sam und Gabe, die sehr dicht beieinander an der Terrassentür standen und mit Troy und Evie plauderten. Sams Lachen klang froh und entspannt, und sie berührte Gabe immer wieder so beiläufig am Arm, als bemerke sie es selbst gar nicht. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie kicherte. Sogar Zennor schien sich nach anfänglicher Muffeligkeit entschieden haben, Gabe keine vernichtenden Blicke mehr zuzuwerfen, sondern lieber die Party zu genießen.
Chloe war recht sicher, dass Sam und Gabe sich ihrer Ausstrahlung gerade gar nicht bewusst waren. Bei ihrer Ausbildung zur Eventmanagerin hatte Chloe auch einen Kurs über Körpersprache gemacht und kannte sich ein wenig damit aus. Den Zustand der beiden konnte man allerdings auch ohne Vorwissen erkennen. Sie fühlten sich unwiderstehlich zueinander hingezogen, das war ziemlich offensichtlich.
Gabe hatte Sam gerade indirekt zu einem Essen bei sich zu Hause eingeladen, und sie hatte nicht abgelehnt. Die beiden verstanden sich sichtlich besser als bei dem Treffen im Pub neulich. Sam hatte erzählt, dass Gabe ihr bei der scheußlichen Sache mit dem vandalisierten Wagen zur Seite gestanden hatte; vielleicht war die Stimmung dabei umgeschlagen. Oder gaben die beiden sich bloß für die Party besondere Mühe?
Oh Gott. Dieser Gedanke beförderte Chloe mit einem Schlag in ihre eigene Realität zurück. Und zu ihrem Hauptproblem.
Drew nahm die Tüte aus dem Mülleimer. »Ich bring das rasch raus in den Müll, sonst riecht es hier ganz schnell wie im Fischladen.«
Chloe lächelte. »Ja, super. Die Tonnen sind in dem Schuppen hinterm Haus. Danke, dass du dir so viel Arbeit gemacht hast.«
»Da bin ich Schlimmeres gewöhnt.« Er hielt grinsend den Sack mit den Schalen hoch, und Chloe konnte nicht umhin, seine muskulösen sonnengebräunten Arme zu bewundern. Drew schien sich gar nicht darüber bewusst zu sein, wie umwerfend sexy er war. Ganz im Gegensatz zu Fraser, der sein gutes Aussehen immer zur Schau getragen hatte wie eine Rolex.
»Warte mal, du musst den Schuppen aufschließen.« Chloe reichte Drew den Schlüssel mit dem Holzpinguin, den Hannah ihr einmal geschenkt hatte.
»Bin gleich wieder da«, sagte Drew. Seine blauen Augen funkelten, und Chloe spürte einen heftigen Anflug von Verlangen. Ausgesprochen ungünstig bei einem Mann, den man sich eigentlich aus dem Kopf schlagen wollte. Sie sagte sich erneut, dass er wohl doch eine Freundin hatte und dass sie selbst in wenigen Stunden über ein Jahrzehnt älter sein würde als er. Aber sogar diese unerfreulichen Gedanken konnten gegen ihre Sehnsucht nichts ausrichten.
»Ich bring inzwischen die Vorspeisen raus«, sagte sie.
Nachdem Gabes Häppchen verspeist waren, war es an der Zeit, die Hauptgerichte aufzuwärmen oder fertigzustellen, und ein herrliches Gemisch aus köstlichen Düften entstand.
Chloe hatte die Jiaozi vorgekocht. Die kleinen halbmondförmigen Teigtaschen waren mit Schweinefleisch, Lauch, Frühlingszwiebeln und Sellerie gefüllt. Sie waren ein wenig unförmig und nicht identisch in der Form, wie immer, aber Chloe hatte auch nicht mehr viel Übung. Hannah hatte die Täschchen früher mit Begeisterung geformt und das auch überraschend gut gemacht. »Mini-Stegosaurus« hatte sie immer dazu gesagt. Sie war so stolz gewesen auf ihre chinesisch-walisische Herkunft … vielleicht würde Ruby das eines Tages auch sein.
Chloe briet die Teigtaschen kurz an und verteilte sie dann mit Sams Hilfe unter Beifallsrufen auf einer Platte.
Evies Beitrag war ein kreolisches Gericht mit Garnelen, das sie von ihrem Vater gelernt hatte. Da es frisch zubereitet werden musste, trat Gabe in Aktion. Unter Evies Aufsicht briet er Zwiebeln, Paprika und Sellerie an, gab dann Lorbeerblätter, scharfe Soße und eine kreolische Gewürzmischung dazu.
»Ich kann kaum glauben, dass ich hier einen Spitzenkoch rumkommandieren darf«, sagte Evie grinsend, als Gabe fangfrische Garnelen hinzufügte. »Aber ich kenne ihn ja auch noch als den frechen kleinen Kerl vom Imbiss.«
Bald zog das köstliche Aroma würziger Tomatensoße durch den Raum, und Chloe lief das Wasser im Munde zusammen. Das Gericht wurde aufgetragen und mit Reis serviert.
Troy wartete schon begierig und deutete mit der Gabel auf Gabe, der den Arm um Evies Schultern legte. »Meine Evie macht das beste kreolische Shrimpstew unter der Sonne, Bursche, da musst du dich echt ins Zeug legen.«
»Ganz entspannt, mein Bester«, erwiderte Gabe und reichte Troy einen Teller mit dampfendem Reis und Stew.
Troy machte sich darüber her und kaute schon begeistert, während Gabe alle anderen bediente.
Schmatzend verkündete Troy schließlich: »Nicht schlecht. Gar nicht schlecht für einen Lehrling, möcht ich mal meinen.«
»Nicht schlecht? Bei dir piept’s wohl, Troy Carman!«, empörte sich Evie. »Es schmeckt absolut fantastisch, das darf ich ja wohl auch mal sagen! Du bist jederzeit in meiner Küche willkommen, Gabe. Bist nützlicher als Troy.«
»Hey, ich hab die Garnelen besorgt!«, protestierte Troy.
Alle lachten und scharten sich um den Tisch, kosteten andere Gerichte oder nahmen eine zweite Portion. Dabei unterhielt man sich angeregt über die Speisen und versprach, Rezepte auszutauschen. Evie erzählte Geschichten von ihrem Vater, der aus dem Süden von Louisiana stammte und sowohl Französisch als auch Englisch gesprochen hatte.
»Mein Vater ist nicht wie die meisten schwarzen GIs nach dem Krieg wieder in die USA zurückgekehrt. Er hat meine Mutter nicht sitzenlassen, sondern hat sie geheiratet. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie das bei meinen kornischen Großeltern ankam. In den vierziger und fünfziger Jahren gab es in dieser Gegend noch kaum schwarze Kinder, ich war eine absolute Außenseiterin.«
»Krass«, sagte Zennor mit großen Augen, und auch Ben hörte gebannt zu.
»Er nannte meine Mum und mich immer ›Chérie‹«, fuhr Evie fort. »Ich wünschte, ihr alle hättet ihn noch kennenlernen können. Er war ein wundervoller Mann, und es war sehr mutig von ihm, nach dem Krieg hierzubleiben. Und meine Mum war mutig, weil sie damals einen sogenannten ›farbigen‹ Mann geheiratet hat. ›Gens des couleurs‹ nannte man Menschen anderer Hautfarbe dort, wo er herkam.«
Troy strahlte stolz und drückte seine Frau, und Chloe merkte, wie ihre Augen feucht wurden.
Nun wurde die vegane Pizza aus dem Ofen geholt und verputzt, und sogar Troy futterte zwei Stücke und lobte sie über den grünen Klee. Jetzt war nicht mehr viel übrig, und Chloe fragte: »Möchte noch jemand was nachnehmen?«
Zennor schüttelte den Kopf. »Bin total satt.«
»Es war alles extrem köstlich«, bemerkte Gabe.
»Also hat keiner mehr Lust auf Nachtisch?«, fragte Sam. »Ich hab außer den Beerentörtchen auch noch einen veganen Schokokrem-Kirschkuchen mitgebracht.«
Bens Augen leuchteten auf. »Schokokrem-Kirschkuchen?«, rief er aus. »Den nehm ich mit nach Hause, falls keiner ihn will!«
Zennor starrte ihn verblüfft an, und auch Chloe war verdattert. So leidenschaftlich hatte sie Ben noch nie zuvor erlebt.
Gabe rieb sich die Hände. »Das kannst du vergessen, mein Freund, der Kuchen bleibt hier.«
Evie hielt sich den Bauch und ächzte: »Können wir vielleicht vorher ein Päuschen machen?«
»Gute Idee«, sagte Chloe. »Dann kann ich ein bisschen aufräumen.«
»Lass mal, das machen wir später zusammen«, erwiderte Sam. »Ich wollte ohnehin ein paar Worte sagen. Das ist ein guter Zeitpunkt dafür.«
Sechs Augenpaare richteten sich auf Chloe, und alle blickten so erwartungsvoll, dass eindeutig irgendetwas bevorstand. Chloe versuchte sich innerlich gegen eine Torte mit der Aufschrift »40« zu wappnen; wie schrecklich, wenn all ihre Freunde Geld für eine Lüge ausgegeben hätten. Sie musste sich endlich ein Herz fassen und mit der Wahrheit herauskommen.
In ihrer Rede lobte Sam Chloes unermüdlichen Einsatz fürs Festival und sagte, dass alle sich riesig freuten, sie im Komitee und in Porthmellow zu haben. Ben war indessen hinausgeschlichen und kehrte nun mit einem großen rechteckigen Paket zurück, das in Geschenkpapier verpackt und mit einer gigantischen Rüschenschleife verziert war. Eindeutig keine Torte, aber Chloe wäre dennoch gern im Erdboden versunken vor Scham und leerte in einem Zug ihr Glas.
»Ich weiß, du hattest gesagt, keine Geschenke, aber wir wollten den Anlass doch würdigen«, erklärte Sam.
»Oh, das hättet ihr nicht tun sollen!«
»Haben wir aber.« Sam grinste. »Nun mach es schon auf.«
»Ich hoffe, es gefällt ihr«, murmelte Evie, und Chloe fühlte sich von Sekunde zu Sekunde schlechter.
»Ganz bestimmt.« Chloe ließ die Hände auf dem Geschenk ruhen. Es war so liebevoll verpackt …
»Nun spann uns nicht auf die Folter, Mädchen«, brummte Troy.
Mit zittrigen Fingern löste Chloe das Geschenkpapier und stieß als Erstes auf eine Schicht Luftpolsterfolie. Darunter war ein Bilderrahmen erkennbar.
»Oh, ein Bild!«, rief Chloe erleichtert aus.
Troy gab sein gackerndes Lachen von sich. »Hast du gedacht, es sei Botox in einem Riesenpaket?«
Evie haute ihm auf den gesunden Arm. »Bist du still, Troy! So was brauchst du gar nicht, Chloe, Schätzchen. Du bist noch so ein junger Hüpfer.«
Sam reichte Chloe eine Schere, damit sie das Klebeband durchschneiden konnte. Alle warteten so gespannt wie eine Schar Hündchen vor dem Futternapf. Chloe wollte unbedingt freudig wirken, auch wenn ihr das Bild nicht gefallen sollte. Sie schnitt das letzte Stück Klebeband durch, faltete die Folie auf … und sog staunend die Luft ein.
»Oh mein Gott, das ist ja fantastisch!«, rief sie aus.
Es war ein Foto auf Leinwand, und zwar vom Hafen von Porthmellow während einer Sturmflut. Eine monströse Welle brach über den Uhrturm und die Kaimauer herein. Einerseits hatte das Bild etwas Bedrohliches. Aber es verdeutlichte zugleich, weshalb Porthmellow so ein außergewöhnlicher Ort war.
»Gefällt es dir?«, fragte Zennor mit hoffnungsvoller Kinderstimme. »Bens Kusine Carla hat das Foto gemacht. Es wurde auch schon im Fernsehen gezeigt.«
»Es ist großartig!«, antwortete Chloe. »Danke euch!«
Alle scharten sich um das Bild, und Ben erklärte, von wo aus seine Kusine das Bild während des berühmten Sturms vor einigen Jahren aufgenommen hatte.
»Oh, da ist ja auch Crow’s Nest zu sehen!«, rief Chloe aus, als sie in der Mitte des Bildes das Dach ihres Hauses entdeckte. Durch die Perspektive sah es sogar so aus, als würde die Welle bis dorthin reichen.
»Aber die Wogen gingen doch nicht bis hier hoch, oder?«, fragte Chloe.
»Nein, der Eindruck entsteht durch den Winkel, aus dem fotografiert wurde«, antwortete Ben. »Das Gelände von Clifftop House hat ein bisschen was abgekriegt, man musste den Küstenweg dort dichtmachen. Und sogar bei Wavecrest hat der Sturm Äste an die Fenster geschleudert.«
»Bei Bryony Cronk ist sogar ein Fenster zerbrochen«, warf Evie ein.
»Ich erinnere mich an die Fernsehberichte über den Sturm«, sagte Chloe.
Gabe nickte. »Ich habe danach meine Eltern besucht, und sie haben mir alles haarklein erzählt. Ich war froh, dass sie da schon nicht mehr am Hafen wohnten. Die Geschäfte waren ja alle überschwemmt, und das Smuggler’s musste die Fenster vernageln.«
»Da hast du allerdings was verpasst«, bemerkte Troy, als sei das Unwetter eine tolle Party gewesen.
»Ich hab vieles verpasst«, sagte Gabe. »An den Sturm 2003 erinnere ich mich, aber 2014 war viel schlimmer, haben meine Eltern gesagt.«
»Der übelste aller Zeiten«, bestätigte Troy. »Und dabei war schon der von 1968 ziemlich stark, als unsere Gemma auf die Welt kam. Da lagen die Boote hinterher auf dem Fußballplatz.«
Chloe starrte entsetzt auf das Bild. »Auf dem Fußballplatz?«
»Ja, man weiß, dass es schlimm ist, wenn die Fischerboote vor dem Postamt landen«, sagte Drew.
»Oder wenn der Müllwagen ins Meer rausgespült wird«, fügte Sam hinzu.
»Jetzt nehmt ihr mich aber auf den Arm!«, rief Chloe aus.
»Nee«, sagten Drew, Sam und Gabe wie aus einem Munde.
»Das mit dem Müllauto ist passiert, als ich noch zur Schule ging«, erzählte Gabe. »Es gibt Aufnahmen davon auf YouTube. Kannst du dir anschauen, wenn du uns nicht glaubst.«
»Und noch Schlimmeres«, ergänzte Drew.
Chloe lachte. »Ihr seid echt alle Witzbolde.«
Doch sie sah den anderen an, dass sie nicht übertrieben. »Okay, also selbst wenn Crow’s Nest eines Tages vom Meer verschlungen wird … Ich liebe dieses Bild. Es ist total eindrucksvoll. Und … ich wollte nicht direkt eine Rede halten, aber …«, begann sie und holte tief Luft. Der Moment war gekommen.