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Am Morgen nach dem Fest erwachte Chloe mit ausgetrocknetem Mund und schwor sich, nie wieder Alkohol zu trinken, obwohl sie wusste, dass dieser Vorsatz von kurzer Dauer sein würde. Die Last von ihrem »Geheimnis« war sie losgeworden, hatte sich dabei aber eine neue Bürde eingehandelt: ob sie auf Drews Vorschlag eingehen und einen unangekündigten Besuch bei Hannah machen sollte. Im einen Moment beschloss Chloe, Drews Rat zu befolgen; im nächsten sagte sie sich, dass diese Idee eine vorprogrammierte Katastrophe war.

In der folgenden Woche hatte sie aber ohnehin keine Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn die Vorbereitungen für das Festival waren in vollem Gange. Überall in der Stadt waren zwischen Gebäuden und Pfosten Girlanden aufgehängt worden, die Feststimmung erzeugten. Die Schaufenster der Geschäfte waren mit passenden Elementen dekoriert, an allen Lokalen hingen spezielle Speisekarten. Sämtliche hundert Aussteller des Festivals hatten per E-Mail Formulare bekommen, auf denen Standplatz, Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen mitgeteilt wurden. Diese Formulare mussten allesamt unterschrieben zurückgesandt werden. Evie und eine Freundin aus ihrem Bingo-Club hatten es übernommen, das zu beaufsichtigen.

Und im Nu brach auch die letzte Woche vor dem großen Ereignis an. Chloe beobachtete fasziniert, wie sich die kleinen Seitenstraßen in Hafennähe und der Fußballplatz mit Buden füllten. Von heute auf morgen tauchten Umleitungsschilder und Hinweise zu Parkflächen auf. Vor dem Smuggler’s Inn wurde über dem Biergarten eine Zeltplane aufgespannt, beim Tinners’ gab es jetzt von früh bis spät Spanferkel.

Am Donnerstag vor Festivalbeginn war Chloe frühmorgens unterwegs zu einem Treffen mit Troy im Hafenbüro. Zwei Laster fuhren an ihr vorbei, und Chloe ahnte, dass sich darin die großen Zelte befanden. Einer der LKW steuerte das Freizeitgelände am Hafen an, wo das Kochzelt aufgebaut werden sollte, der andere fuhr ein Stück weiter bergauf zu der Rasenfläche, wo das Festzelt stehen würde. Alles lief auf Hochtouren, und die Aufregung erfasste auch Chloe.

Im Büro der Hafenleitung wurden dampfende Becher mit kräftigem Tee verteilt, und der Hafenmeister verkündete, das Wetter für die nächsten Tage sei als »wechselhaft« gemeldet. Am Wochenende selbst sollte es wohl vorwiegend schön sein, einzelne Schauer waren jedoch möglich. Troy verwies unbekümmert darauf, dass sich die Besucher davon nicht abschrecken ließen, solange es keinen Dauerregen gab. Es war sogar besser, wenn es nicht heiß war, meinte Troy, denn dann verzögen sich zu viele Leute an den Strand.

Chloe führte Protokoll, während über Notfälle und Evakuierung im Fall von Bränden, Überflutung oder – grausige Vorstellung – einem Terroranschlag gesprochen wurde. Troy verdrehte dabei die Augen, aber Chloe hatte schon Events in London organisiert und wusste, dass man vorbereitet sein musste.

Man ging noch einmal sämtliche Sicherheitsvorkehrungen durch, dann entspann sich eine hitzige Diskussion über irgendwelche Hafenbelange zwischen Troy, dem Hafenmeister und einer Gemeinderätin.

Chloe versuchte zu folgen, schaltete aber bald ab. Sie warf einen Blick auf ihr Handy, weil sie immer noch hoffte, Hannah würde ihr Glückwünsche schicken, wenn auch mit riesiger Verspätung. Dabei sah sie, dass sie zwei Anrufe von Fraser verpasst hatte.

Die Sitzung war ohnehin fast vorbei, deshalb entschuldigte sich Chloe, ging nach draußen und suchte sich eine relativ ruhige Stelle neben einem Haufen Hummerreusen.

Fraser ging sofort ran. »Hallo, Chloe. Ich versuche seit Stunden, dich zu erreichen. Bin in Österreich bei einer Tagung.«

Er klang angespannt, aber das war für Fraser nichts Ungewöhnliches. Chloe hatte Mühe, ihn zu verstehen. Bei ihm waren Stimmengewirr und Lautsprecherdurchsagen im Hintergrund, bei ihr zankten sich kreischende Möwen um Fischreste.

»Ich hatte das Handy stumm, weil ich in einer Sitzung fürs Porthmellow Streetfood-Festival war.«

»Mellow was?«, schrie Fraser.

»Porthmellow Streetfood-Festival. Ich bin ehrenamtlicher Teil des Organisationsteams.«

»Was, ehrenamtlich? Du arbeitest umsonst?«

Chloe hätte ihn am liebsten angebrüllt. »Ja, Fraser. Was ist los?« Dann wurde ihr schlagartig kalt. »Ist irgendwas mit Hannah?«

»Ja und nein. Keine Sorge, nichts Schlimmes. Könnte sogar eher richtig gut sein. Ich bin bei einem Brunch meiner ehemaligen Kollegin Antonia Craddock begegnet. Sie arbeitet jetzt für ein Konkurrenzunternehmen, aber die ist jedenfalls seit Ewigkeiten mit den Eltern von Jordan befreundet.«

Chloe umklammerte ihr Handy und hörte atemlos zu.

»Antonia hat mir erzählt, dass Jordan nach Hause zurückgezogen ist.«

»Was? Zu seinen Eltern in London? Mit Hannah und Ruby?«

»Nein, alleine.«

Chloe brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. »Dann hat er sie verlassen? Endgültig?«

»Kann sein. Antonia wusste keine Einzelheiten, außer dass Jordan bei seinen Eltern ins Gartenhaus gezogen ist und seine Mutter zum Wahnsinn treibt, weil er von früh bis spät bedient werden will.«

»Und wo sind Hannah und Ruby?«

»Soweit ich weiß, noch in Bristol.« Fraser fluchte. »Am liebsten würde ich mir dieses Arschloch vorknöpfen, sobald ich wieder in England bin.«

»Lass das bloß bleiben, Fraser! Es geht hier nicht um dich und Jordan, sondern um Hannah. Denk doch daran, wie es ihr jetzt geht, wenn er sie mit der Kleinen sitzengelassen hat. Oder vielleicht hat sie ihn ja auch rausgeworfen … Das hoffe ich!«

»Weißt du, ich bin zugleich erleichtert und furchtbar wütend …«, redete Fraser weiter und ließ sich über seine Gefühle aus, während Chloe es kaum erwarten konnte aufzulegen. Schließlich gelang es ihr, ihn zu überzeugen, vorerst alles ihr zu überlassen, und sie versprach, ihn wieder anzurufen, sobald sie mehr wüsste.

Sie musste sich enorm zusammennehmen, bevor sie ins Hafenbüro zurückging, aber die Sitzung war aufgelöst, und sie eilte zurück zum Crow’s Nest, um sich in Ruhe ihre nächsten Schritte zu überlegen.

Chloe trat auf die Terrasse und blickte hinunter zum Hafen. Die Marisco kehrte gerade zurück. Drew war mit einer Gruppe nach Brixham gesegelt und hatte dort Katya und Connor getroffen. Sie fragte sich, wie Drew wohl zumute war, wenn die Trennung von seinem Sohn womöglich bald bevorstand.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Wenn Drew wieder hier war … nur heute oder morgen konnte sie zu Hannah fahren, vor allem, wenn sie Drews Angebot annehmen wollte, sie zu begleiten.

Fraser würde vermutlich ausrasten, wenn er erfuhr, dass sie mit einem ihm unbekannten Mann bei Hannah gewesen war, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Dass Drew ein neutraler Außenstehender war, mochte sogar von Vorteil sein, dann würde Hannah sich nicht von beiden Elternteilen zugleich bedrängt fühlen. Außerdem musste Drew nicht mal das Haus betreten. Und Chloe könnte in wenigen Stunden mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin vereint sein.

Die Vorstellung war berauschend und wundervoll, aber sofort gefolgt von heftiger Angst bei der Vorstellung, dass Hannah den Kontakt für immer abbrechen könnte, weil Chloe sich einmischte. Sie würde sehr behutsam vorgehen müssen.

Kurz darauf schickte Fraser eine WhatsApp-Nachricht. Er hatte wieder von Antonia gehört, Jordan hatte wohl durchblicken lassen, dass Hannah noch mit Ruby in der Wohnung in Bristol war, »soweit er wisse«. Fraser schrieb, am liebsten würde er sofort dorthin fliegen und Hannah nach Hause zurückholen.

Rasch antwortete Chloe. Hannah war zweiundzwanzig, nicht dreizehn, sie traf ihre eigenen Entscheidungen. Fraser könnte alles kaputtmachen, wenn er sie so bevormundete. Dann würde sie sich bestimmt nur noch mehr zurückziehen. Schließlich willigte er ein, in den nächsten Tagen alles Chloe zu überlassen.

Erschöpft ließ Chloe ihr Handy sinken. Sie musste sofort handeln, bevor Fraser sich womöglich trotz Absprache wie ein Elefant im Porzellanladen aufführte oder Jordan doch zu Hannah zurückkehrte. Die Vorstellung, dass ihre Tochter vielleicht verzweifelt war und sich keinen Rat mehr wusste, trieb Chloe fast zum Irrsinn.

Drew hatte völlig recht. Eine persönliche Begegnung war die einzige Chance, die Situation zu verbessern. Doch konnte Chloe zwei Tage vor Festivalbeginn eine solche Reise unternehmen?