28
Chloe brauchte etliche tiefe Atemzüge, um sich während der Rückfahrt einigermaßen zu beruhigen. Sie überlegte, was sie Fraser sagen wollte, doch als sie ihn anrief, landete sie sofort bei der Mailbox. Genauso bei Hannah, der Chloe noch eine SMS und eine WhatsApp-Nachricht schrieb.
Dann lehnte sie sich zurück und starrte hinaus auf die Felder von Somerset, nahm aber nichts richtig wahr. Vor ihrem inneren Auge spielten sich diverse Szenarien mit Hannah und Ruby ab, alle gleichermaßen unerfreulich. Sie konnten bei Jordan sein oder in einer schäbigen Absteige. Chloe wusste nicht, ob Hannah sich eine sichere und saubere Unterkunft überhaupt leisten konnte. Doch wenn Jordan oder Hannah selbst die Miete für die Wohnung bezahlt hatte – warum war ihre Tochter dann ausgezogen?
Nach einer Weile rief Fraser zurück. Wie zu erwarten war er furchtbar besorgt, als er die Neuigkeiten hörte, und verfluchte Jordan.
»Was hat der Typ mit ihr gemacht? Ich bring den um, wenn es ihr schlecht geht! Verflucht, warum musste das auch passieren, während ich hier in Österreich festsitze!«
»Bitte beruhig dich«, erwiderte Chloe. »Es bringt doch nichts, wenn du herumschreist.«
»Bist du am Steuer?«, fragte er unvermittelt.
»Nein, ein Freund fährt mich.«
»Welcher Freund?«
»Spielt das eine Rolle?«, fauchte Chloe verärgert, weil sie sich auf Hannah konzentrieren wollte.
»Nee, wohl nicht, wahrscheinlich weiß ja schon die halbe Welt Bescheid über unsere Probleme.«
»Ach, Fraser, sei doch bitte nicht albern. In Surrey kennt die Geschichte wirklich fast jeder. Wenn ich mit Freunden über meine Familie sprechen möchte, dann tue ich es.«
Er schwieg einen Moment. »Tut mir leid, ich mach mir solche Sorgen«, sagte er dann. »Ich will wissen, wo meine Tochter und meine Enkelin sind. Ich werde Jordans Vater anrufen, vielleicht weiß der was.«
»Von mir aus. Aber bewahre um Himmels willen die Ruhe.«
»Ja.« Er beendete das Gespräch.
Chloe ließ sich zurücksinken. »Oh, Mann.«
Drew wartete ein paar Momente ab und sagte dann: »Ich schätze ja, dass Hannah ganz gut auf sich selbst aufpassen kann. Wenn sie auch nur ein bisschen was von ihrer Mutter hat, wird sie klarkommen. Vielleicht braucht sie einfach etwas Zeit, um sich zu beruhigen. Dann wird sie sich wahrscheinlich melden.«
»Das kann ich nur hoffen … aber wo steckt sie nur?«
»Bei Großeltern?«
»Meine Eltern leben in Wales. Ich glaube kaum, dass sie dort ist. Ich kann die Eltern anrufen … aber dann machen die sich auch Sorgen, und mein Vater ist nicht bei guter Gesundheit. Frasers Eltern leben nicht mehr.« Chloe betrachtete ihr Handy und überlegte, ob sie ihre alten Eltern beunruhigen sollte. »Ich glaube, ich warte lieber erst mal noch ab. Meine Mum würde mich sowieso anrufen, wenn Hannah bei ihnen wäre.« Diese Möglichkeit hakte Chloe innerlich ab. »Aber ich könnte ihren Freundinnen auf Facebook schreiben. Eigentlich mache ich so was nicht, aber ich weiß mir keinen anderen Rat mehr.«
Chloe ging in Gedanken alle restlichen Optionen durch, während sie sich Porthmellow näherten. Und dann zerbrach sie sich den Kopf darüber, dass die arme Sam mitten im größten Festivalstress ohne ihre Vertreterin auskommen musste, weil die mit ihrem Familienchaos kämpfte.
Als das erste Straßenschild Porthmellow ankündigte, klingelte ihr Handy, und Sams Name erschien auf dem Display.
»Sam? Ist alles okay?«
»Ja, alles gut. Aber ich weiß was über Hannah.«
»Was?«, schrie Chloe, worauf Drew sie erschrocken anschaute.
»Keine Angst, es geht ihr prima.«
»Woher weißt du das? Wo ist sie?«
»Hier, in Porthmellow«, antwortete Sam so gelassen, als sei das völlig normal. »Ich hab Ruby und sie gerade im Hafencafé kennengelernt. Sie hat sich bei dir melden wollen, aber ihr Handy ist tot.«
Chloe wählte sofort die Nummer des Hafencafés und wurde von der Besitzerin zu Hannah durchgereicht.
»Hannah?«
»Mum? Ich wollte dich anrufen, aber erst hatte ich keine Verbindung, und dann war der Akku leer, deshalb bin ich in dieses Café gegangen. Weißt du, wo es früher die Schoko-Eclairs gab, die ihr so mochtet, du und Dad. Sieht ja jetzt völlig anders aus hier.« Hannah senkte die Stimme. »Kaffeespezialitäten und vegane Brownies …« Sie kicherte nervös. »Wer hätte gedacht, dass Porthmellow mal hipsterig wird?«
Chloe wusste nicht, ob sie vor Erleichterung lachen oder weinen sollte. Das war ganz die Hannah von früher, vor Jordan.
»Ich war in Bristol bei deiner Wohnung«, sagte Chloe.
»Ich weiß, Sam hat es mir erzählt … und ich war währenddessen hier. Ich hätte dich gleich anrufen sollen, aber ich wusste nach dem ganzen Stress zwischen uns nicht, was ich dir sagen sollte. Da dachte ich, ich komme lieber her und treff dich persönlich. Hab auch Crow’s Nest gefunden, aber du warst nicht da, und deine Nachbarin wusste nicht, wann du zurückkommen würdest … Ich hatte schon Angst, du seist im Urlaub oder so. Aber dann fiel mir ein, dass das ja gar nicht sein kann, weil du dieses Festival hier organisierst.«
Chloe war erstaunt, dass Hannah sich das alles gemerkt hatte. Also hatte sie all die E-Mails und anderen Nachrichten doch nicht komplett ignoriert …
»Aber wieso bist du im Hafencafé?«
»Ruby brauchte was zu essen und eine frische Windel, und ich konnte mein Handy laden. Dann kam deine Freundin Sam rein, und ich hab ihren Namen gehört … und sie angesprochen. Die Leute waren alle so lieb zu mir. Sam hat dann erzählt, dass du in Bristol seist, um nach mir zu suchen. Sie ist echt nett.«
»Ja, das ist sie.« Chloe dankte den Sternen für ihre Freunde und war unendlich froh, dass alle in die Situation eingeweiht waren. »Wir sind gleich da, Hannah. Kannst du noch ein bisschen im Café bleiben? Ich hole dich dort ab.«
»Die Chefin hat gesagt, ich kann so lange bleiben, wie ich will. Hier wimmelt es von Leuten, die alles für das Festival vorbereiten. Das ist ja gigantisch, Mum! Ich kann gar nicht glauben, dass du daran beteiligt bist!«
»Doch, das ist so.« Zumindest sollte es so sein, dachte Chloe und nahm sich vor, Sam gleich noch zu schreiben. »Ist Ruby okay? Hast du alles, was du für sie brauchst?«
»Im Auto, aber ich durfte nicht am Hafen parken und steh jetzt ewig weit entfernt auf irgendeinem Feld. Was ich für heute Nacht brauche, hab ich dabei, aber ich musste ganz viele Sachen bei einer Freundin in Bristol lassen.« Sie verstummte für einen Moment. »Mum, ich hab es nicht mehr länger mit ihm ausgehalten und ihn rausgeschmissen. Alles tut mir so leid. Ich weiß, dass ich nach allem, was vorgefallen ist, jetzt eigentlich nicht nach Hause gerannt kommen kann, aber ich weiß nicht, wohin sonst, und außerdem …« Ihre Stimme brach. »Außerdem wollte ich dich sehen.«
Chloe blieb fast das Herz stehen. Sie war so erleichtert, diese Worte aus dem Mund ihrer Tochter zu hören, und litt zugleich mit ihr, weil sie das alles hatte durchmachen müssen. »Ich kann’s auch kaum erwarten, dich zu sehen. Ich habe dir ja gesagt, dass ich jederzeit für dich und Ruby da bin. In zirka vierzig Minuten müssten wir in Porthmellow sein.« Chloe hörte im Hintergrund ein leises Jammern. »Ist das Ruby?«, fragte sie aufgeregt.
»Ja. Sie ist müde und quengelig. War ein langer Tag. Ich muss sie aus dem Buggy nehmen. Muss jetzt aufhören, Mum. Ich warte hier im Café, okay?« Hannahs Stimme klang zittrig.
»Ist gut, mein Schatz«, sagte Chloe. »Ich freu mich auf dich. Bis gleich.«
Sie konnte das alles noch gar nicht fassen, war vollkommen aufgewühlt und unglaublich erleichtert. Nach all den Monaten voller Sorgen und Sehnsucht würde sie in nicht einmal einer Stunde ihre Tochter wiedersehen und ihre Enkelin kennenlernen.
Drew hielt an einer Ampel und sah Chloe von der Seite an. »Das war Hannah, aus Porthmellow? Geht es ihr gut?«
»Ich weiß nicht … sie klingt erschöpft und gestresst … aber wieder ganz wie sie selbst. Hat sich erinnert, dass wir früher immer im Hafencafé Schoko-Eclairs gegessen haben. Sagt, es sei jetzt so hipsterig. Sie benimmt sich, als hätte es diese zwei Jahre gar nicht gegeben.«
»Vielleicht wünscht sie sich das auch innerlich. Du wirst es sicher bald erfahren.«
»Ja … Ich muss Fraser Bescheid sagen. Oh Gott, ich hoffe, er führt sich nicht auf wie die Axt im Walde. Bin froh, dass ich erst mal ein bisschen Zeit mit Hannah alleine habe. Er liebt sie aufrichtig, aber Feingefühl war noch nie seine Stärke.«
Drew strich ihr über die Hand. »Das weiß Hannah doch bestimmt. Wir sind ja gleich da, dann kannst du sie schon mal vorbereiten.«
»Ja, du hast recht.« Chloe war Drew dankbar für seine Weitsicht.
»Und deine kleine Enkelin in den Armen halten«, fügte er hinzu, bevor er weiterfuhr.
Chloe blinzelte. Es kam ihr immer noch vor wie ein Traum. »Ich kann es kaum glauben. Und kann die Freude auch kaum aushalten, nach der ganzen Angst und Sorge. Hannah tut mir so leid. Das ist alles so hart.«
»Aber du weißt doch, dass das Leben eben manchmal einfach hart ist. Deshalb sollte man für die guten Tage besonders dankbar sein. Die nächsten Monate werden sicher nicht einfach, aber heute freu dich doch einfach an dem, was dir geschenkt wurde.«
»Du hast recht.«
Chloe schrieb Sam und bedankte sich für den Anruf. Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhren sie jetzt auch gerade in die letzte Haarnadelkurve vor Porthmellow, und der Hafen kam in Sicht. Es war Flut, und die Wellen schimmerten im Abendlicht. Weiter draußen bäumten sich weiß gischtende Brecher auf. Am Kai wimmelte es nur so von Leuten, die Kabel legten und an Generatoren anschlossen.
Der Hafenparkplatz war für Besucher schon gesperrt, aber die Aufsicht erkannte Drew und öffnete ihm die Schranke. Er hielt auf dem Platz, der bereits voller Lieferwagen und Laster war, und lächelte Chloe liebevoll an.
»Meinst du, du kommst zurecht?«
»Ja.« Sie nahm seine Hand und lächelte matt. »Ich zittere. Und das, obwohl ich meine eigene Tochter treffen werde.«
»Das ist doch total verständlich.« Drew drückte ihre Hand. »Ich geh jetzt erst mal nach Hause, und dann bin ich am Hafen im Einsatz. Falls du mich brauchst, ruf einfach an.«
»Danke, Drew. Du hast mir so geholfen.«
»Ich bin froh, dass alles gut wird.«
Chloe beugte sich zu ihm und küsste ihn. Es war ein leichter, sanfter Kuss, irgendwo zwischen Freundschaft und Liebe angesiedelt.
»Hatte ich eigentlich nicht geplant«, sagte sie dann.
»So ist das mit den besten Sachen meist. Und nun ab mit dir. Ich bin für dich da, falls du mich brauchst.«
Chloe nahm ihre Tasche und ging in Richtung Café. Von überallher waren Hammerschläge und Bohrgeräusche vom Aufbau der größeren Buden zu hören. Kleinere Stände und Verkaufswagen würden erst früh am Samstagmorgen ihre Plätze einnehmen. Was sicher gut war, denn der Wind war heftig und böig.
Unterwegs wurde Chloe noch einmal von Unruhe erfasst und musste sich bemühen, nicht zu rennen. Wenn Hannah es sich inzwischen anders überlegt hatte und doch nicht mehr da war?
Sie näherte sich dem Café und blieb abrupt stehen, als Arbeiter beiseitetraten und sie plötzlich Hannah mit dem Kinderwagen sehen konnte. Sie hielt Ruby an den Armen, die gerade auf eine Möwe zustolperte und begeistert kreischte.
»Nein, die kannst du nicht streicheln! Das ist kein Kuscheltier!«, sagte Hannah.
Rubys empörtes Geschrei übertönte sogar noch den Baulärm und die plärrenden Radios. Die Kleine trug eine rote Latzhose, die Chloe bekannt vorkam. Sie hatte früher Hannah gehört. Dann hatte ihre Tochter sie also aufgehoben …
»Mum!« Hannah hatte ihre Mutter entdeckt und winkte, und Chloe eilte zu ihr. Sie fielen sich in die Arme und brachen beide in Tränen aus, worauf sie von den Arbeitern verwundert beäugt wurden.
»Ruby ist dauernd zwischen den Tischen rumgekrabbelt«, erklärte Hannah schließlich. »Sie kann schon ein paar Schrittchen machen, deshalb bin ich mit ihr rausgegangen … Oh Gott, es tut mir alles so leid, Mum.«
»Mir auch«, erwiderte Chloe und unterdrückte ein Schluchzen.
Hannah nahm Ruby hoch, die wild herumzappelte. »Es gibt so viel zu erzählen. So vieles, was ich dir sagen will.«
»Ich dir auch, mein Liebes, aber das hat Zeit.«
Tränen strömten Hannah übers Gesicht. »Ach, Shit, ich bin bestimmt voller Rotz. Hast du ein Taschentuch?«
Chloe, selbst lachend und weinend zugleich, reichte ihr eines.
»Danke. Kannst du Ruby mal halten, bitte?«
»Nichts lieber als das.«
Hannah übergab die zappelnde Ruby an ihre Großmutter, die beinahe platzte vor Freude. Die Kleine starrte Chloe perplex an, schnappte sich dann eine Handvoll Haare und zog daran.
»Autsch. Ich freue mich auch, dich kennenzulernen, liebe Ruby«, sagte Chloe.
Hannah hatte sich das Gesicht getrocknet und lächelte. »Sie wird sich bestimmt bald an dich gewöhnen.«
»Dann bleibt ihr eine Weile?«, fragte Chloe und hielt Rubys Patschhändchen fest, das sich in ihrem Haar verkrallt hatte. Mit ihren großen braunen Augen sah die Kleine Chloe unverwandt an.
»Ja«, antwortete Hannah. »Wenn wir bei dir bleiben können …«
Chloe fragte sich, ob man vor Glück ohnmächtig werden konnte. Nie im Leben hatte sie eine größere Freude erlebt, als jetzt mit ihrer Familie wieder vereint zu sein.
»Natürlich könnt ihr das. So lange ihr wollt.« Sie küsste Ruby auf die Stirn und Hannah auf die Wange. »Kommt, ihr beiden, ihr seid doch bestimmt erschöpft. Ich bin es jedenfalls. Gehen wir nach Hause.«