30

Am Freitagmorgen, nach einer Besprechung mit der Hafenleitung, bekam Sam einen Anruf von Chloe. Der erste Abend mit ihrer Tochter war erfreulich verlaufen, und Chloe wollte jetzt unbedingt ihre Aufgaben wieder übernehmen. Eine enorme Erleichterung für Sam, die sich gerade extrem gestresst fühlte. Das war am Vortag des Festivals zwar meistens so, aber die Wettervorhersage bereitete ihr dieses Jahr zusätzliche Sorgen.

Am Horizont türmten sich düstere graue Wolken wie eine Armee im Anmarsch. Als Sam nach der Besprechung aus dem Gebäude der Hafenleitung trat, war der Wind schon erheblich stärker geworden. Kreischende Möwen, die einen einfahrenden Fischkutter belagerten, kämpften mit den Böen und wurden umhergewirbelt.

Gabe, der in T-Shirt und Shorts vor dem Net Loft stand, winkte Sam zu und kam angesprintet. Die Luft war schwül und feucht, und Sam fühlte sich unangenehm erhitzt.

»Und, wie läuft’s?«, fragte Gabe.

»Irre hektisch, wie immer. Lästige Problemchen, aber das gehört dazu. Was mich eher beunruhigt, ist die Wettervorhersage.«

»Ja, hab ich in den Nachrichten gesehen.«

»Troy hat schon furchtbar geunkt. ›Solche Wolken hab ich zum letzten Mal 1957 über der Bucht gesehen‹«, imitierte Sam Troys unheilverkündenden Tonfall. »›Hat wochenlang geschüttet, und die Straßen waren bis Weihnachten gesperrt.‹«

Gabe lachte lauthals. »Troy muss man doch einfach lieben. Mach dir keine Sorgen, ich denke, das Schlimmste wird vorbeiziehen.«

»Kann ich nur hoffen«, erwiderte Sam. »Hoffentlich halten die Zelte stand.«

»Wird schon gut gehen.« Gabe legte ihr die Hand auf den Arm. Sams Haut fühlte sich sofort noch heißer an, und ihr Körper erinnerte sich an den Kuss nach Chloes Party, die Umarmung in der Backstube …

Rasch zog Gabe die Hand wieder zurück und fügte hinzu: »Und hey, wenn die Zelte in der Bucht landen oder irgendwo ein Dach wegfegen, bist du doch bestimmt gut versichert.«

Sam verdrehte die Augen. »Danke, das war echt beruhigend. Muss jetzt los …« Sie trennte sich ungern von Gabe, durfte sich aber am Vortag des Festivals von ihren chaotischen Gefühlen nicht ablenken lassen. »Es gibt Ärger wegen der Standverteilung. Zwei Bonbonmacher haben versehentlich benachbarte Stände bekommen und regen sich furchtbar auf.«

Gabe grinste. »Oh, Bonbonkrieg, das klingt nicht gut. Ruf mich an, wenn die Karamellen durch die Luft fliegen. Und ruf überhaupt an, wenn du mit irgendwas Hilfe brauchst. Ich hab später eine Probe im Kochzelt, aber jetzt bin ich erst mal noch eine Weile im Net Loft, um für morgen alles vorzubereiten.« Er hatte den freiwilligen Helfern und Sanitätern angeboten, die Räume des Net Loft als Pausenraum zu benutzen.

»Okay. Vielen Dank noch mal. Auch fürs Piebacken.«

»Gerne. Aber vielleicht solltest du erst mal abwarten, was die Kunden sagen …«

Sam lachte.

»Nein, im Ernst. Wenn ich was für dich tun kann – ich bin jederzeit für dich da.«

Sam wäre da einiges eingefallen, aber nichts von der Sorte, die man laut aussprach.

»Ist gut«, sagte sie etwas heiser. »Dann wohl bis morgen früh, oder?«

Gabe salutierte. »Zur Stelle.«

Sam eilte davon und schaute dabei auf ihr Handy, nur um möglichst schnell Abstand zu gewinnen – bevor sie womöglich irgendetwas tat, das sie später bereuen würde.

Noch spät am Freitagabend fand Sam keinen Schlaf. Sie lag im Bett, horchte auf den heulenden Wind und stellte sich vor, wie sich das große Festzelt aus der Verankerung riss, wie ein Riesenvogel davonflatterte und eine Schneise der Verwüstung hinter sich ließ. Auch das Donnern der Wellen war bis hier herauf zu hören.

Zu allem Überfluss hatte die Wachfirma erklärt, bei diesen Witterungsverhältnissen würden sie ihre Leute nicht beim Zelt lassen. Womit es auch nicht gegen Sabotage geschützt war, aber man konnte wirklich niemanden bitten, bei diesem Wetter die ganze Nacht draußen zu sein.

Sam merkte, dass sie kein Auge zutun würde, bevor sie nicht noch einmal nach dem Rechten gesehen hatte. Sie schlich nach unten, zog Fleecejacke, Regenmantel und Gummistiefel an, setzte sich eine Stirnlampe auf und marschierte los.

Kurz bevor sie beim Festzelt ankam, setzte der Regen ein, wie feine Nadelstiche auf der Haut. Die Luft roch frisch nach Meer und Algen. Als Sam um das Zelt herumging, sah sie plötzlich den zuckenden Lichtstrahl einer Taschenlampe und erstarrte. Dann hörte sie im Dunkeln Gabes Stimme.

»Sam? Bist du das?«

Der Lichtstrahl richtete sich auf sie, und Sam blinzelte geblendet. »Ja. Was machst du denn hier?«

Gabe kam angelaufen. »Das Gleiche wie du, vermute ich mal. Schauen, ob das Zelt noch steht. Was für eine Nacht!«

Sam war enorm erleichtert, ihn zu sehen, hätte das aber nie zugegeben. »Ja, das hat uns grade noch gefehlt.«

Sie musste laut sprechen, um das Tosen und das Flattern der Planen zu übertönen. Doch da war auch noch ein metallisches Klirren und Klappern, das auffällig klang.

»Was ist das?«, fragte sie beunruhigt.

Gabe deutete aufs Zelt. »Da drin ist jemand.«

»Oh Gott. Und wir haben keine Wachleute vor Ort! Vielleicht ist das jemand, der wieder was kaputtmachen will, wie beim Stargazey-Wagen! Den knöpfe ich mir vor!«

Sam wollte loslaufen, aber Gabe hielt sie fest. »Nein, überlass das mir.«

»Ach, das schaffe ich schon.«

»Bitte. Es ist zu gefährlich.«

Gabe ging auf den Eingang zu, Sam folgte ihm. Doch bevor sie das Zelt betreten konnten, teilten sich die Planen, und eine große Gestalt trat mit einem Handy in der Hand heraus. Im ersten Moment erschrak Sam über das gespenstisch bleiche Gesicht. Dann erst erkannte sie Ben, diesmal ohne Goth-Make-up, aber in seiner Bikermontur.

»Konnte nicht schlafen, wollte nach dem Zelt schauen«, murmelte er so verlegen, als habe er irgendwas ausgefressen.

»Wir auch«, sagte Sam. »Und, ist alles okay?«

»Eines der äußeren Spannseile war lose, aber ich hab es wieder befestigt. Innen ist alles einwandfrei. Ich glaube, mehr können wir jetzt nicht tun.«

»Ich mache mir Sorgen, dass womöglich wieder etwas vandalisiert wird«, sagte Sam.

»Das Seil hatte sich von selbst gelöst, denke ich. Wenn jemand Schaden anrichten wollte, hätte der viel mehr gemacht«, mutmaßte Ben.

»Sehe ich auch so«, sagte Gabe. »Aber wir können trotzdem noch alles überprüfen, wenn dir dann wohler ist.«

»Nein, nein, schon okay«, erwiderte Sam. »Ben hat das sicher richtig eingeschätzt. Danke, dass du dich gekümmert hast, Ben.«

Der junge Mann zuckte die Achseln und murmelte: »Kein Problem.«

Sam lächelte in sich hinein. Ben mochte einsilbig sein, aber er war auch lieb und verlässlich. Ein bisschen mehr Selbstsicherheit könnte er noch gebrauchen … doch Zennor schien ihn ja offenbar so zu mögen, wie er war. Es war eben nicht jeder Mensch eine extrovertierte Stimmungskanone.

Plötzlich zuckten erneut Lichtstrahlen durch die Dunkelheit, und jemand rief: »Sam! Ben!«

Zennor kam angetrabt, in Daunenjacke und Gummistiefeln. »Als ich gehört hab, dass du rausgehst, habe ich Ben angerufen. Aber der war schon hier. Ich kann auch helfen.«

Über dem Rand von Zennors Stiefeln glitzerten Sternchen; sie war eindeutig in ihrem Einhorn-Jumpsuit aus dem Bett gesprungen und direkt hierhergeeilt.

»Alles gut«, sagte Sam. »Ben hat ein Seil gesichert, der Rest ist okay. Trotzdem danke fürs Kommen, Zen.«

»Ist doch klar.«

Sam fand es beruhigend, dass die anderen sich so engagierten. »Jetzt heißt es Daumendrücken, dass weiter nichts passiert.«

Ben hielt sein Handy hoch. »Ich habe übrigens schon den Zeltverleiher angerufen. Die sind gerade bei einem anderen Zelt auf den Klippen über St Agnes, weil der Sturm dort noch schlimmer ist. Aber danach kommen sie hierher und checken alles durch.«

»Super Idee, vielen lieben Dank!«, sagte Sam, beeindruckt, dass Ben von sich aus die Initiative ergriffen hatte.

Er betrachtete seine Schuhspitzen. »Dachte mir, du hast genug um die Ohren.«

Zennor hakte sich bei ihm ein. »So toll von dir, Ben.«

Ob der junge Mann rot anlief, war im Dunkeln nicht zu erkennen, aber er murmelte irgendetwas Unverständliches.

Sam wischte sich Regenwasser aus den Augen. »Ja, echt. Und jetzt sollten wir uns alle wieder aufs Ohr hauen, denke ich. Auf geht’s.«

Sie marschierten los, waren aber noch nicht mal am Rande des Felds angelangt, als sie einen herumirrenden Lichtstrahl sahen.

»Hey, ihr da!«

Sam kniff die Augen zusammen, weil das Licht so grell war wie Flutlicht, und versuchte die Gestalt zu erkennen.

»Was macht ihr Spinner denn hier draußen?« Der Lichtstrahl senkte sich, und Sam erkannte Troy, der eine gigantische Taschenlampe dabeihatte und mit einer Hand seine Mütze festhielt.

»Das Gleiche wie du«, antwortete Gabe. »Nach dem Zelt schauen. Es steht aber noch, kannst wieder ins Bett gehen.«

Troy gluckste. »Wir sind vielleicht ein dämlicher Haufen, wegen dem bisschen Regen und Wind so ein Theater zu machen. Ich wär nicht rausgegangen, nur Evie lag mir so lang in den Ohren, dass mir nix anderes übrig blieb. Und das mit meiner Schulter. Aber Evie hätte keine Ruhe gegeben.«

Zennor lachte, und sogar Ben kicherte leise.

»Wir haben alles überprüft, und nachher machen die Verleiher noch einen Rundumcheck«, sagte Gabe. »Du kannst beruhigt wieder ins Bett gehen, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.«

»Na, das lass ich mir nicht zweimal sagen!«

»Sollen wir dich nach Hause begleiten?«, fragte Zennor.

»Nix dagegen«, brummte Troy.

Als Sam sich in Bewegung setzen wollte, legte Gabe ihr die Hand auf den Arm. »Wir kommen gleich nach. Sam möchte noch einen Blick auf die Generatoren werfen.«

»Warum das denn?«, erwiderte Troy und leuchtete Sam und Gabe an wie ein Polizist, der auf frischer Tat Einbrecher ertappt. »Die fliegen nicht weg, die wiegen Tonnen.«

Gabe sah Sam an. »Lieber auf Nummer sicher gehen, oder?«

Sam starrte ihn an, sagte aber nichts. Was war denn jetzt los?

»Also, ich geh wieder ins Bett«, sagte Zennor. »Bis morgen. Treibt euch nicht zu lange rum, ihr beiden.«

Die drei marschierten von dannen, Ben mit der Taschenlampe an der Spitze, gefolgt von Zennor und Troy.

»Meinst du wirklich, wir sollten noch die Generatoren checken?«, fragte Sam.

»Quatsch.« Gabes Augen funkelten belustigt. »Ich wollte nur lieber mit dir alleine gehen. Kleine Nachtwanderung gefällig? Wir könnten die Abkürzung über den Küstenweg nehmen.«

Sam blinzelte ungläubig. »Bist du noch bei Trost? Auf keinen Fall. Der Sturm wird immer heftiger, das ist viel zu gefährlich.«

»Recht hast du. Bloß kein Risiko eingehen.« Gabes Stimme klang spöttisch, und Sam spürte, dass er sie herausforderte, wie früher beim Sprung von der Kaimauer.

»Wir sind doch keine Teenager mehr«, sagte sie. »Und dieses Unwetter hat es echt in sich.«

»Stimmt schon. Nehmen wir die Straße.« Gabe spähte in die Dunkelheit, horchte auf das Tosen des Windes und das Donnern der Wogen. »Ich hatte ganz vergessen, wie extrem diese Stürme in Porthmellow sein können. Und wie wundervoll.«

Sam lachte, plötzlich berauscht von Wind und Wetter und Gabes Ausstrahlung. Er war völlig durchnässt, seine dunklen Haare troffen vor Wasser, doch er sah glücklich aus, und Sam ließ sich von diesem Gefühl anstecken.

»Das alles hat mir so gefehlt«, sagte er. »Und vor allem du.«

Ihr Herz schien für einen Moment auszusetzen. Sie hatte Gabe auch so unendlich vermisst, dass sie es gar nicht zu äußern wagte. Denn dann würde sie einen Schritt tun, den sie sich verboten hatte. Sie würde sich Gabe wieder annähern und Ryan verraten.

Stumm liefen sie nebeneinander her. Dann sagte Gabe: »Komm doch mit zu mir.«

Sam schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

»Warum denn nicht? Auf eine Tasse heiße Schokolade, weiter nichts.«

Konnte sie das glauben? Eher nicht. »Ich kann auch zu Hause heiße Schokolade trinken. Es ist mitten in der Nacht, ich muss schlafen.«

»Das hört sich an, als hättest du vor irgendwas Angst, Sam. Ich werde dich bestimmt zu nichts drängen, was du nicht möchtest.«

»Ich habe keine Angst vor dir«, widersprach Sam. Nur vor mir selbst, dachte sie und beschleunigte ihren Schritt.

Vor dem Wavecrest Cottage blieb Gabe abrupt stehen. »Und, kommst du mit rüber?«

Regentropfen glitzerten auf seinem Gesicht, und der hoffnungsvolle Blick ließ Sam schwach werden. Sie wollte wirklich mitkommen – aber was würde Zennor davon halten?

»Auf einen Schlummertrunk?«, fragte Gabe. »Und wie deine Antwort auch ausfällt … kannst du dich vielleicht entscheiden, bevor wir beide weggespült werden?«

Er lächelte, und Sam spürte einen heftigen Anflug von Verlangen nach ihm. So heftig, dass sie ihm nicht widerstehen konnte, wenn auch noch so vieles zwischen ihnen ungeklärt war.

»Okay, auf einen Schlummertrunk«, sagte sie.

Sie eilten zum Haus, Gabe schloss das Tor auf, dann liefen sie den knirschenden Schotterweg entlang. In einer kurzen Wolkenlücke zeigte sich der Mond hinter dem Türmchen.

»Das Dracula-Schloss«, murmelte Sam unwillkürlich, und eine große Aufregung erfasste sie.

»Wie?« Gabe, der gerade die schwere Holztür aufschloss, drehte sich um.

»Ach, nichts.«

Er trat beiseite, um Sam einzulassen. Eine Sekunde zögerte sie noch, bevor sie sich ins Ungewisse begab. Doch dann überschritt Sam entschlossen die Schwelle von Clifftop House.