35
Um zehn Uhr morgens waren bereits zahllose Menschen am Hafen und in den Gassen unterwegs, beladen mit Einkaufstaschen, um die ergatterten Köstlichkeiten davonzutragen.
Sam machte ihre Routinerunde bei den Ständen, bevor sie sich mit den unvermeidlichen Komplikationen befasste. Auch diesen Moment liebte sie sehr: wenn sie sah, dass sich all die Mühe gelohnt hatte, wenn das Festival tatsächlich stattfand.
Anhand von Gerüchen hätte sie sich blindlings zurechtfinden können. Die würzigen Aromen der indischen Küche, Mais und Chili vom mexikanischen Stand, erdig-zitronige Tajines, frischer Orangenduft von der Saftbar, hopfige Biere, der Wacholdergeruch von Gin, süßer Honig, Zuckerwatte … und die deftigen Gerüche von Fish and Chips, Pulled Pork und Meeresfrüchten.
Und dann die typische Geräuschkulisse des Festivals: Korkenknallen von der Champagnerbar, Brummen von Generatoren, Knacken von Lautsprechern, Lachen, Klirren von Gläsern und lebhafte Unterhaltungen aus dem Craft-Beer-Zelt (die hoffentlich nicht abends in Streit und Keilereien ausarteten). Die ersten Straßenmusikanten legten los, und ein Chor schmetterte Lieder von Sommer und Liebe.
Dann wurde über die Anlage bekanntgegeben, dass im Kochzelt in Kürze die erste Show begann. Um die Mittagszeit würde der bekannte Chefkoch vom Spindrift Café auftreten, nach ihm Gabe. Sam machte sich in dem Getümmel auf die Suche nach ihm. Im Kochzelt wurde Gabe gerade mit seinem Headset verkabelt und plauderte mit den Technikern. Als er sie sah, winkte er ihr, entschuldigte sich bei den Mitarbeitern und kam zu ihr.
»Tut mir leid, dass ich einfach so verschwunden bin, aber ich musste ein bisschen zur Ruhe kommen vor dem Festival«, platzte Sam heraus, bevor Gabe etwas sagen konnte.
»Ist okay. Ich meine, wäre schon nett gewesen, du hättest dich verabschiedet, aber ich versteh das.«
»Die letzte Nacht war …« Sam errötete, als sie daran dachte. »Sehr schön.«
»Bereust du sie?«, fragte Gabe.
»Natürlich nicht!«
»Am liebsten würde ich dich gleich wieder ins Himmelbett zerren«, raunte Gabe ihr ins Ohr.
Sam drohte ihm lachend mit dem Finger.
»Gabriel Mathias, werd bloß nicht frech. Starkoch hin oder her – heute und morgen bin ich hier Festivalleiterin und darf mich durch nichts ablenken lassen, ist das klar?«
Seine Augen funkelten. »Hab’s kapiert. Eins nach dem anderen. Sam, ich möchte demnächst auch mal in Ruhe mit dir reden.«
»Reden? Ja, gern, wenn das hier hinter mir liegt.« Sie wies auf das Gewimmel.
»Okay, dann morgen Abend bei mir?«
Sie merkte Gabe an, dass es sich um etwas Ernsthaftes handelte, und nickte, obwohl sich bei der Vorstellung wieder jede Menge Schmetterlinge in ihrem Bauch tummelten.
»Ich überlass dich jetzt deinen Vorbereitungen«, sagte sie grinsend. »Troy hat mir erzählt, dass Fans von dir quasi vor dem Zelt kampiert haben, damit sie Plätze in der ersten Reihe kriegen.«
Gabe verdrehte die Augen. »Er hat dich bestimmt auf den Arm genommen.«
»Glaub ich eher nicht.« Sam deutete auf etliche Menschen in der ersten Reihe, die Kochbücher in den Händen hielten. Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, was diese Leute wohl denken würden, wenn sie Gabe noch als den dürren, muffeligen Draufgänger aus dem Fish-and-Chips-Imbiss gekannt hätten.
»Okay, dann …«, begann Gabe, wurde aber von einer ohrenbetäubend lauten Durchsage unterbrochen.
»Keiner schmeißt hier Müll in den Hafen, dass das klar ist.«
Dann folgte ein Knall, bei dem alle zusammenzuckten. Offenbar war die Lautstärke voll aufgedreht.
»Und wer seinen Hund im Auto einsperrt, kriegt’s mit mir zu tun.«
Sam starrte Gabe mit aufgerissenen Augen an. »Das ist Bryony! Wie kommt die denn an die Anlage?«
Jetzt war Krachen und Knistern zu hören, dann ein markerschütternder Pfeifton.
»Großer Gott!« Gabe hielt sich die Ohren zu.
Sam entdeckte Troy, der gerade am Zelteingang vorbeiging, und stürzte zu ihm, gefolgt von Gabe.
»Troy! Weshalb macht Bryony die Ansagen, um Himmels willen?«
»Der Sprecher wurde von einer Wespe gestochen und ist allergisch. Die Sanitäter kümmern sich um ihn.«
»Kann nicht jemand anderes die Ansagen übernehmen?«
»Da war niemand anderes, und es gab auch gerade Stress im Hafen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und als Bryony vorbeikam, hab ich sie rangelassen.«
Plötzlich dröhnte wuchtiger E-Gitarren-Sound über das Gelände, und die Leute blickten sich fassungslos um.
»Das ist nicht etwa Metallica, oder?«, sagte Sam entsetzt.
Der Lärm brach abrupt ab. »Ich muss jetzt leider ansagen, dass die Folkband The Wildflowers gleich im Festzelt auftritt.«
»Oh Gott!«, kreischte Sam.
»Um zwölf, wenn ihr die Sorte von Waschlappen seid, die so was hören will. Ich hab dem Festivalkomitee gemailt, dass sie Halestorm buchen sollen, aber auf mich hört ja keiner.«
Troy rieb sich das Kinn. »Hmm. War wohl doch keine so gute Idee. Ich schau mal, ob ich jemand anderen finde.«
»Bitte! Und schnell!«, rief Sam aus.
Troy trabte davon, aber Bryony kam jetzt erst richtig in Fahrt.
»Ich seh, dass hier Leute ihren Hunden Zeug von den Ständen füttern. Das tut den Hunden gar nicht gut. Bryonys Hundesalon beim Postamt bietet ein vielfältiges Angebot an gesundem Hundefutter und hat während des gesamten Festivals für verantwortungsbewusste Hundebesitzer geöffnet.«
Sam warf verzweifelt die Hände in die Luft, während Gabe sich vor Lachen ausschüttete.
»Hör auf zu lachen! Das ist nicht witzig!«
»Tut mir leid, ich kann nicht anders«, ächzte Gabe atemlos.
»Sie da, die Frau mit dem Labradoodle hinter dem Eiswagen. Ihr Hund hat da gerade hingekackt, und Sie haben es nicht weggemacht. Wie würden Sie das finden, wenn ich in Ihren Garten kacke?«
»Nein!«, stöhnte Sam. »Ich muss irgendwas unternehmen, bevor es eine Schlägerei gibt oder jemand uns verklagt!«
Sie wollte gerade losrennen, als empörtes Stimmengewirr und Hundegebell aus den Lautsprechern drang. Im nächsten Moment war eine klangvolle honigsüße Frauenstimme mit dem Akzent der Region zu vernehmen.
»Vielen Dank, Bryony, für die guten Ratschläge. Alle Hundebesitzer werden sie gewiss zu schätzen wissen.«
»Wer ist das denn?«, fragte Gabe, und Sam starrte ihn mit offenem Mund an, während die melodiöse Stimme weitersprach.
»Und nun, ihr Lieben alle, möchte ich eure Aufmerksamkeit auf die herrlichen Klänge des St Piran Fischerchors lenken. Der Chor ist eigens von den Scilly-Inseln angereist, und ihr wollt ihn doch gewiss nicht versäumen, oder? Er tritt jetzt gleich auf der Hafenbühne auf, also macht euch schon mal auf den Weg. Im Craft-Beer-Zelt auf der Landzunge geht’s unterdessen heiß her, da reißt nämlich DJ Stormy Pete die Bude ab.«
Sam und Gabe starrten sich an.
»›Reißt die Bude ab‹?« wiederholte Gabe ungläubig. »Wer zum Geier ist das?«
»Ich würde mal sagen, Evie Carman«, antwortete Sam breit grinsend.
Überall waren Leute stehen geblieben, lauschten lächelnd der Ansage und brachten sogar ihre Kinder zum Schweigen.
»So, ihr Lieben. Die Sonne strahlt hoch im Himmel, begrüßt nun mit uns die nächsten Höhepunkte des Festivals. Unser Spitzenkoch, aufgewachsen in Porthmellow, wird gleich im Kochzelt für himmlische Genüsse sorgen. Heißt mit mir willkommen den berühmten Gabriel Mathias! Wer will denn noch Love Island gucken, wenn man stattdessen beobachten kann, was Gabe mit einer Zucchini macht? Sichert euch rechtzeitig Plätze, denn wie der Mann mit Gemüse umgeht, ist sensationell. Wäre ich dreißig Jahre jünger, würde ich ihm bestimmt anbieten, seine Auberginen zu schnippeln.«
Sam keuchte. »Was um alles in der Welt ist in sie gefahren?«
Gabe prustete vor Lachen. »Die Leute finden es toll.«
»Ja, aber das ist doch kaum noch jugendfrei. Ich muss Evie bitten, sich zu mäßigen. Hier sind ja jede Menge Kinder unterwegs.«
Gabe hielt Sam fest. »Nee, mach das nicht. Es ist doch superkomisch, und schau …« Scharen von Besuchern strebten bereits auf das Kochzelt zu. »Apropos … ich muss da weitermachen. Jetzt sind die Erwartungen ja heftig hochgeschraubt!«
Er küsste Sam rasch auf die Wange und hastete davon. Sam steuerte zum Fischerhaus, wo Troy gerade aus der Tür trat. Evie animierte die Leute inzwischen dazu, reichlich Gemüse zu kaufen und sich auf keinen Fall die gigantischen Gurken beim Biostand entgehen zu lassen. Die Leute grinsten und kicherten belustigt.
»Hey, Troy, ich wusste gar nicht, dass Evie so ein Showtalent ist!«
Er gluckste. »Sie sagt jeden Freitag im Gemeindezentrum das Bingo an. Früher ist Evie hier in Musicals aufgetreten, aber heutzutage findet man nicht mehr genug Leute unter siebzig, die mitmachen wollen.«
»Sie scheint ein Naturtalent zu sein.«
»Ich hätte sie gleich ans Mikro setzen sollen, aber sie kann ja nicht schnell gehen, und ich dachte, in fünf Minuten kann Bryony nicht so viel Schaden anrichten. Dann musste Evie ihr aber das Mikro regelrecht wegreißen. Zum Glück hatte Sascha sich in eine Labradorhündin verguckt, und Bryony musste die beiden schnell trennen, bevor es da zur Sache ging.«
Sam lachte schallend. Im selben Moment vibrierte ihr Handy in der Tasche.
»Nimmst du dir wenigstens die Zeit, um Gabes Auftritt anzuschauen?«, fragte Troy.
»Ja, ähm … will ich schon, aber …« Sam las die Nachricht. »Mist, diese beiden Bonbonmacher machen wieder Stress. Sind jetzt offenbar doch nebeneinander gelandet. Ich muss mich unbedingt darum kümmern, damit es keinen Karamellkrieg gibt.«
»Ich kümmer mich um die zwei Krawallmacher«, sagte Troy. »Seine Majestät solltest du dir nicht entgehen lassen.« Er beäugte Sam. »Was siehst du fertig aus, Mädchen. Mach mal Pause. Hast du überhaupt schon was gegessen?«
»Nicht so richtig.« Sam knurrte der Magen, was bei einem Food Festival natürlich ziemlich absurd war. Das Frühstück schien schon ewig zurückzuliegen, und außerdem hatte sie bei den nächtlichen Aktivitäten sicher jede Menge Kalorien verbraucht.
Sie spazierte zum Stargazey-Wagen und ließ sich einen Pie mit Spinat und Ricotta geben. Stefan war rot im Gesicht und wirkte etwas hektisch, berichtete aber, das Geschäft liefe prima, und alles sei im grünen Bereich. Sie hatten die Bestände bereits aus dem Kühlschrank im Firmengebäude aufstocken müssen.
Sam verputzte ihren Pie, mit leicht schlechtem Gewissen, weil sie ihr Team alleine wursteln ließ, aber offenbar kamen die beiden zurecht. Und Gabe hatte seine Sache gut gemacht, der Pie schmeckte köstlich. Danach ging sie in Richtung Kochzelt, musste sich aber unterwegs noch mit diversen Beschwerden befassen. Als sie endlich ankam, war kein einziger Sitzplatz mehr frei. Jemand aus dem Team brachte sie beim Mischpult unter, von wo aus sie einen exzellenten Blick auf die Bühne hatte.
Sam spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Konnte das wirklich wahr sein? Gabe trat bei ihrem Festival auf?
Es wurde still, und der Moderator forderte das Publikum auf, Gabriel Mathias zu begrüßen, »Fernseh-Starkoch und ein Junge aus Porthmellow, der es ganz nach oben geschafft hat«. Danach dröhnte »The Boys Are Back In Town« aus den Lautsprechern, und begeisterter Applaus brandete auf, als Gabe die Bühne betrat.