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@PorthmellowGirl: Bestes Festival ever?
@CornwallMädel: Sehn uns heut Abend beim Konzert.
Und jetzt endlich – durchatmen.
Sam hielt das Gesicht in die wärmenden Strahlen der Abendsonne, während Drew und seine Band auf der Hafenbühne ihr Equipment aufbauten. Die Musiker stimmten ihre Instrumente, und Sam konnte endlich lockerlassen und ein bisschen feiern. Diesen entspannten Ausklang des Festivals liebte sie auch immer sehr – wenn alle Arbeit erledigt war und man mit den vielen Helfern das letzte Konzert genießen konnte.
Spätabends am Samstag war Sam komplett erschöpft ins Bett gefallen und hatte wie ein Stein geschlafen bis um sieben Uhr morgens, als sie von Zennor geweckt wurde. Die beiden Schwestern hatten kaum eine ruhige Minute zusammen verbracht an diesem Wochenende.
Am Sonntag hatte es noch ein paar kleinere Probleme gegeben, die Sam hatte lösen müssen. Doch alles in allem konnte das Festival als Riesenerfolg gelten. Sie hatte noch keine Zahlen gesehen, aber es hatte wohl einen Besucherrekord gegeben, und somit würde man auch genug Geld für das nächste Festival haben. Außerdem war der Vorschlag für ein Weihnachtsevent an sie herangetragen worden. Die Idee war gut, und Sam wollte sich damit befassen, sobald sie sich etwas erholt hatte.
Sie blickte in die fröhlichen entspannten Gesichter rundum. Chloe und ihre Familie waren auch unter den Zuschauern. Ein Mann in Hemd und Chinos hielt etwas nervös die zappelnde Ruby im Arm, vermutlich Chloes Ex-Mann Fraser. Chloe selbst wirkte strahlend und glücklich, und Hannah befreite jetzt lächelnd den gestressten Großvater von dem nörgelnden Kind.
Gabe war an die Bar gegangen, um Drinks zu holen, und Sam hielt Ausschau nach ihm. Er stand weit hinten in einer langen Schlange.
Die Band legte mit einem bekannten Folksong los, Drew spielte Gitarre. Das Repertoire bestand aus Oldies, einiges fand Sam etwas zu abgegriffen, aber ein paar Songs rissen sie mit. In der Menge entdeckte sie auch Zennor und Ben mit Freunden, die sichtlich Spaß hatten an dem Konzert.
Nach einer Weile schaute Sam wieder zur Bar hinüber. Gabe war jetzt recht weit vorne in der Schlange und unterhielt sich mit einem Mann, den Sam im Gegenlicht nicht genau erkennen konnte. Sie blinzelte und überschattete die Augen. Die Körperhaltung des Mannes erinnerte sie an ihren Bruder. Sie sah wohl schon Gespenster vor lauter Übermüdung.
Die Band spielte eine rockige Nummer, und jemand stieß Sam versehentlich an. Als sie wieder zur Bar schaute, bestellte Gabe gerade, und der Mann, der Ryan ähnelte, war verschwunden.
Sam schüttelte den Kopf. Bestimmt hatte sie sich geirrt, wie schon damals an dem Zebrastreifen in Marazion. Sie wandte sich wieder der Band zu und beschloss, das Konzert zu genießen, anstatt sich überflüssigen Gedanken hinzugeben.
Gabe tauchte mit den Drinks neben ihr auf. »Hallo, Liebchen«, sagte er mit dem Akzent der Region.
»Das kannst du gar nicht mehr richtig«, erwiderte Sam grinsend.
»Aber innerlich bin ich noch immer der Junge aus Porthmellow.«
Er hatte recht. Die Wunden der Vergangenheit heilten langsam ab, und heute Abend wollten sie sich in Ruhe unterhalten. Gabe hatte sie vorhin noch einmal daran erinnert und dabei ziemlich nervös und angespannt gewirkt. Das fand Sam ganz in Ordnung, sie wollte nicht, dass Gabe sich ihrer zu sicher war. Auch wenn sie bereits für sich beschlossen hatte, das Wagnis eines gemeinsamen Wegs einzugehen. Man würde dann sehen, wo er sie beide hinführte.
Jedenfalls fand Sam, dass sie zu viel Lebenszeit mit Bitterkeit und Reue verbracht hatte. Sie wollte einen Neuanfang mit Gabe und hatte auch beschlossen, sich wieder auf die Suche nach Ryan zu machen. Wenn sie sich schon wiederholt einbildete, ihren Bruder irgendwo zu sehen, konnte sie auch Nachforschungen anstellen. Allein die Vorstellung, ihren Frieden zu machen mit der Vergangenheit, war wohltuend. Sie freute sich auf das Gespräch am Abend und auf alles, was darauf folgen mochte …
Während sie sich zur Musik bewegte, streifte Sam immer wieder wie zufällig Gabes Arm und genoss die verstohlene Berührung in vollen Zügen. Mit dem romantischen Sonnenuntergang vor Augen und der schönen Stimmung beim Konzert fühlte sie sich gelöst und glücklich. Sie war zum ersten Mal, seit sie von Gabes Rückkehr nach Porthmellow gehört hatte, vollkommen entspannt und blickte zuversichtlich in die Zukunft.
Die Band spielte jetzt »I Will Wait« von Mumford and Sons, und eine junge Frau, die sonst im Blumenladen arbeitete, brillierte am Banjo. Viele Leute sangen mit, einige tanzten zu zweit, und Sam ergriff Gabes Hand. »Komm, lass uns auch tanzen!«
Gabe zögerte. »Ich bin ein ganz mieser Tänzer.«
»Ach Quatsch, guckt doch eh keiner. Komm schon.«
Er nickte, und sie schwangen zum schnellen Rhythmus des Banjos das Tanzbein.
Plötzlich spürte Sam, wie jemand sie anstupste. »Sam!«
Sie drehte sich um und sah Troy, der ihr die Hand auf den Arm legte. Gabe ließ sie los und verzog enttäuscht das Gesicht, während die Leute rundum so wild umhersprangen, dass Sam gegen Troy geschleudert wurde.
»Hoppla, ’tschuldigung, Troy!« Sam lachte, doch jetzt fiel ihr auf, dass der alte Bursche ziemlich ernst aussah. »Was ist los?«
»Du solltest mitkommen ins Hafenbüro.«
»Was, jetzt? Hat das nicht noch ein bisschen Zeit?«, schrie Sam über die Musik hinweg.
»Nein, geht nicht.«
»Was ist denn?«, fragte Gabe.
Troy blickte so grimmig, dass Sam ein kalter Schauer über den Rücken lief und ihre Hochstimmung sich sofort verflüchtigte. »Okay, ich komme. Aber sagst du mir jetzt bitte, was los ist?«
»Es ist Geld verschwunden, das die Fischermission für ihre Grillgerichte eingenommen hat. Sie hatten das im Hafenbüro aufbewahrt, aber jemand hatte die Tür nicht abgeschlossen, und jetzt ist es verschwunden.«
Sam entspannte sich wieder. Das war zwar ärgerlich, aber nicht so dramatisch, wie sie befürchtet hatte. »Das ist doch eher was für die Polizei, oder nicht?«
»Der Hafenmeister wollte sie anrufen, aber ich hab ihn davon abgehalten.«
»Ich finde das aber auch richtig«, sagte Sam und griff nach ihrem Handy.
Troy legte ihr die Hand auf den Arm. »Nein, mach das nicht, Mädchen.«
»Warum nicht?«
»Weil … wir müssen erst mal weg von dem Lärm hier.«
»Ich komme mit«, sagte Gabe.
»Okay …«
Mit zunehmendem Unbehagen folgte Sam Troy, bis sie sprechen konnten, ohne sich gegenseitig in die Ohren zu brüllen.
»Was ist los, Troy? Warum wurde die Polizei nicht gerufen?«
»Es gibt keinen guten Weg, dir das zu sagen, Sam … aber bevor das Geld verschwunden ist, hab ich deinen Bruder im Büro der Hafenleitung gesehen.«
»Was?« Sam lachte lauthals. Troy musste sich auch etwas eingebildet haben. Oder er hatte zu viel Cider intus.
»Mädchen, ich seh nicht mehr so gut wie früher, aber so schlecht nun auch wieder nicht. Es war Ryan, und wenn du mir nicht glaubst, dann frag Evie. Sie hat ihn auch gesehen.«
Sam hörte auf zu lachen und musste gegen aufkommenden Zorn ankämpfen. Wie konnte Troy annehmen, dass jeder Diebstahl in Porthmellow auf das Konto ihres Bruders ging, wenn der sich nicht mal in Cornwall aufhielt?
»Nein, ausgeschlossen«, sagte sie entschieden. »Ryan kann nichts damit zu tun haben, nicht wahr, Gabe?«
Er zögerte so lange mit der Antwort, dass Sam schlagartig alarmiert war.
»Ich hab ihn aber gesehen!«, widersprach Troy entrüstet.
Gabe klopfte ihm auf den Rücken. »Das glaub ich dir ja. Behauptet niemand, dass es nicht so ist.«
»Was, dass Ryan das Geld gestohlen hat oder dass er in Porthmellow ist?«, verlangte Sam zu wissen.
»Bevor wir voreilige Rückschlüsse ziehen, sollten wir erst mal ins Büro gehen und mehr in Erfahrung bringen«, schlug Gabe vor.
»Sag ich doch die ganze Zeit«, murrte Troy.
Sam marschierte los. »Gut, bringen wir das schnell hinter uns, damit wir den Rest des Abends genießen können.«
Dennoch hatte sie ein beklommenes Gefühl. Aber Troy und Evie mussten sich eindeutig geirrt haben. Sie waren nun mal schon recht alt und hatten vermutlich diesen Doppelgänger von Ryan gesehen, der ihr selbst auch schon zweimal aufgefallen war.
Als sie im Büro ankamen, unterhielt sich der Hafenmeister gerade mit einem Fischer von der Wohltätigkeitsorganisation. Beide sahen den Umständen entsprechend sehr ernst aus.
»Hallo zusammen«, begann Sam. »Troy sagt, es sei Geld verschwunden.«
»Ja, wir hatten die Kasse hier reingestellt und dachten, das Gebäude sei nicht zugänglich«, antwortete der Leiter. »Aber einer von den Helfern war auf der Toilette und hat danach vergessen, wieder abzuschließen. Und als ich vor einer halben Stunde wiederkam, war die Kasse verschwunden.«
»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Sam. »Kann das vielleicht ein Missverständnis sein, und jemand hat das Geld mit nach Hause genommen?«
»Ich habe bereits mit der einzigen anderen Person gesprochen, die wusste, dass es hier war, und die hat es nicht.«
»Als Trevor die Kasse ins Büro gestellt hat, wimmelte es hier rundum noch von Menschen«, gab Troy zu bedenken. »Jeder könnte ihn beobachtet und sich später Zutritt verschafft haben.«
»Und trotzdem glaubst du, es sei Ryan gewesen?«, fragte Sam.
»Das habe ich doch gar nicht behauptet!«, antwortete Troy gekränkt.
Sam hatte Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. »Ryan ist nicht mal in Cornwall.«
»Weißt du denn, wo er ist?«, entgegnete Troy. »Du hast mir doch oft genug erzählt, dass du keine Ahnung hast, wo er steckt.«
»Ja, aber …«
»Ryan würde nicht die Kasse einer Wohltätigkeitsorganisation stehlen«, warf Gabe entschieden ein.
»Er hat aber Diebstähle begangen«, wandte der Hafenmeister ein. »Das weiß doch keiner besser als ihr beide, Gabe. Tut mir leid, das erwähnen zu müssen.«
»Aber das war vor vielen Jahren!« Sam klang so hilflos und verzweifelt, wie sie sich fühlte. »Ich weiß zwar wirklich nicht, wo Ryan sich zurzeit aufhält, aber er hat mir geschrieben, dass er sein Leben ändern will. Und ihr alle beschuldigt ihn, nur weil ihr glaubt, ihn hier gesehen zu haben, und weil er vor mehr als zehn Jahren einen Diebstahl geplant hat? Das finde ich ungeheuerlich.«
»Aber kannst du sicher sein, dass es nicht so ist?«, erwiderte Troy.
»Tut mir leid, Sam, aber wir müssen die Polizei informieren«, fügte der Hafenmeister hinzu.
»Nein!« Gabe schrie beinahe. »Bitte nicht. Ich bin mir ganz sicher, dass Ryan so etwas niemals tun würde.«
»Warum? Weil Sie glauben, er war nicht hier?«, sagte der Fischer. »Dann ist er doch ohnehin unschuldig und kann das jederzeit beweisen. Und es schadet auch nichts, die Polizei zu rufen.«
»Nein. Nein … Ryan war hier.«
»Was?«, keuchte Sam.
»Ryan war hier. Jedenfalls ist er in Porthmellow. Ich bin heute Abend nach dem Konzert mit ihm verabredet … und mit dir, Sam. Es ist also durchaus möglich, dass er auch am Hafen war.«
»Wusste ich’s doch!«, rief Troy triumphierend aus.
»Ich rufe jetzt die Polizei«, erklärte der Hafenmeister.
»Nein, warten Sie bitte«, sagte Gabe erneut. »Ryan ist ein vollkommen anderer Mensch als damals. Er hat sich von Grund auf verändert und wird nie mehr kriminell werden.«
Sams Knie gaben nach, und sie musste sich an einer Stuhllehne festhalten. Die Worte schienen ihr um den Kopf zu fliegen, und ihr war regelrecht übel. Gabe wusste, dass Ryan in Porthmellow war, und hatte es ihr nicht gesagt? Dann hatte er sie ja erneut angelogen.
»Aufhören!«, schrie sie. »Ihr redet hier über meinen Bruder! Was soll das heißen, Gabe? Ryan ist hier? Gabe?« Sie umklammerte seinen Arm.
»Es tut mir leid. Ich hätte es dir sagen sollen … gestern. Und überhaupt alles Mögliche schon vor langer Zeit. Aber ich konnte nicht.«
Alle starrten ihn an, und Sam ließ ruckartig seinen Arm los.
Dann wandte sie sich ab und ging hinaus. Es war ihr einerlei, was die alle redeten. Aber wenn Ryan tatsächlich in Porthmellow war, musste sie ihn finden und dazu zwingen, ihr die Wahrheit zu sagen.