Noch 1 Tag

Jetzt sitze ich bereits eine ganze Weile so da und weiß nicht, wie ich anfangen soll. Eine Stunde ist bestimmt schon verstrichen. Der Tee ist längst ausgetrunken, mein Computer mehrmals in den Schlafmodus gefallen, weil ich nichts gemacht habe, sondern nur vor mich hinstarre.

Dabei, eigentlich, habe ich keine Zeit zu verlieren. Dieser Tag noch bleibt mir. Und trotzdem …

Was ist das überhaupt, Zeit? Haben wir wirklich Zeit? Wir haben doch immer nur den Augenblick, dann den nächsten, dann den nächsten.

Oder eben nicht mehr.

Fruchtlos, solche Überlegungen anzustellen. Daran haben sich die größten Philosophen der letzten Jahrtausende die Zähne schon vergebens ausgebissen. Da werde ich jetzt auch keine letztgültige Antwort finden.

Trotz allem geht es mir gut, das ist das Erstaunliche. Es ist nicht Angst, was ich fühle, sondern Dankbarkeit, tiefe Dankbarkeit. Ich sehe mich um und vergegenwärtige mir, was hier alles für mich erledigt und bereitgestellt wird, was alles an Arbeit und Mühe hinter dieser wunderschönen, glitzernden Fassade steckt. Allein, das alles sauber zu halten, und auch noch so, dass man es gar nicht bemerkt! Das üppige Frühstücksbüffet jeden Morgen aufzubauen, bestückt zu halten und wieder abzuräumen. Die picobello gemachten Zimmer, die Betten, die wie mit dem Lineal bezogen aussehen. Atemberaubend, wenn man darüber nachdenkt. Ich brauche mich gar nicht zu fragen, ob ich das alles verdient habe, denn selbstverständlich habe ich es nicht. Ich wollte es einfach nur, und es hat dem Schicksal gefallen, es mir zu schenken.

Ich habe schon ein verdammt ungewöhnliches Leben gehabt, alles, was recht ist.

Gerade habe ich dem jungen Kellner, der in der Tür zur Bar auftauchte und seinen Blick suchend durch die Halle schweifen ließ, einen Wink gegeben. Er hat sofort verstanden, dass ich noch eine Tasse Tee wünsche, und jetzt höre ich es in der Bar zischen, wo er ihn zubereitet.

Es ist keine Kunst, sich an Luxus zu gewöhnen. Das schafft jeder.

Der umgekehrte Weg dagegen, der ist schwierig. Das war mir bis neulich nicht so richtig klar, muss ich zugeben.

***

Ich wohnte also erst einmal bei Gertie. Sie wollte es so, meinte, es gefalle ihr, mal wieder einen Mann im Haus zu haben.

Sex war nicht das Thema, so wenig, wie es bei unserer Reise durch Indien je ein Thema gewesen ist. Aber sie bekochte mich, meinte, das fehle ihr seit ihrer Scheidung: Mit jemand zusammen zu essen. Für sich alleine zu kochen sei eine traurige Angelegenheit.

»Warum suchst du dir nicht wieder jemanden?«, fragte ich.

Worauf sie den Kopf schüttelte und meinte: »Jetzt hab ich ja erst mal dich.«

Ich schlief auf ihrem Sofa, das ehrlich gesagt ein ziemlich unbequemer Ersatz für ein richtiges Bett war, aber natürlich beschwerte ich mich nicht. Und unsere Abende zu zweit, bei einem Tee meistens und ein paar billigen Keksen oder auch mal bei einer Flasche Wein, über dessen Drittklassigkeit ich bereitwillig hinwegschmeckte, diese Abende waren durchaus, wie soll ich sagen? Kuschelig. Nicht, dass wir viel Körperkontakt gehabt oder gesucht hätten, aber so beisammenzusitzen und über das Leben im Allgemeinen und unsere Lebensläufe im Speziellen zu reden, das war schon sehr behaglich. Und es hatte seinen eigenen Zauber, gerade weil wir uns vor so langer Zeit, fast zu Beginn unseres Lebens, kennengelernt und etwas miteinander erlebt hatten und uns erst jetzt, am Ende unseres Lebens – zumindest am Ende meines Lebens –, wiedergetroffen hatten, um gemeinsam Revue passieren zu lassen, was aus uns geworden war nach dieser, ja, existenziellen Reise durch die indische Spiritualität, könnte man sagen. Schön. Es war wirklich, wirklich schön.

Aber der Alltag!

Gertie hatte ja ihre Praxis und ging tagsüber arbeiten. Verständlicherweise erwartete sie von mir, dass ich den Abwasch erledigte, die Wäsche wusch, einkaufte und so weiter. Ich, der ich mich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr hatte bedienen lassen! Das konnte nicht gut gehen.

Ich bemühte mich, das durchaus. Der gute Wille war da, anfangs jedenfalls. Aber ich hatte ja nie einen eigenen Haushalt geführt, sondern war von meinen Eltern weg direkt in die Fünf-Sterne-Hotels dieser Welt gezogen. Was das praktische Leben anbelangte, hatte ich mehr als nur zwei linke Hände. Ich brachte die Spülmaschine mit zu viel Spülmittel, oder mit dem falschen, fast zum Explodieren und war einen ganzen Tag damit beschäftigt, Unmengen schaumigen Wassers irgendwie vom Boden in den Abguss zu befördern. Wäsche ging ein, weil ich einen der vielen Drehknöpfe falsch einstellte. Von meinen Kämpfen mit dem Staubsauger will ich gar nicht anfangen, ich nannte ihn irgendwann »das violette Monster«, weil er entweder gar nicht saugte oder aber viel zu stark. Und die Supermärkte, in die mich Gertie schickte, überforderten mich schlicht und einfach mit ihrem Angebot; ich brauchte Stunden darin und fand doch nicht alles, was auf dem Zettel stand.

Sicher, wahrscheinlich hätte ich das alles irgendwann, irgendwie lernen können. Der Punkt war, dass mir das ganze neue Leben, das ich auf einmal führte, mehr und mehr bizarr vorkam, grundfalsch – so, als sei ich irgendwo falsch abgebogen. Sogar so etwas Einfaches wie mir ein Handtuch aus dem Schrank holen zu müssen, ehe ich unter die Dusche ging, anstatt es im Badezimmer vorgewärmt vorzufinden, befremdete mich: Ich war das nicht gewöhnt. Und nicht nur das, ich spürte auch einen wachsenden Widerwillen gegen die Zumutung, mich daran gewöhnen zu sollen.

Kurzum, je länger ich bei Gertie lebte, desto mehr stresste mich diese Art zu leben. Ich kam zu gar nichts anderem als dazu, den Status quo aufrechtzuerhalten, und das eher schlecht als recht! An Meditation, an köstliches Nichtstun war nicht mehr zu denken, ganz zu schweigen von der Idee, mich mit meinem restlichen Geld und irgendeiner Geschäftsidee, die ich erst noch hätte finden müssen, selbstständig zu machen: Was für ein Hirnfurz! Je mehr Zeit verging, desto klarer wurde mir, dass ich das nie und nimmer schaffen würde.

Vor allem merkte ich, dass ich das auch gar nicht schaffen wollte . Das war nicht der Plan gewesen. Das hatte nichts mit dem Deal zu tun, den das Schicksal und ich einst geschlossen hatten.

Ich musste etwas anderes tun. Wenn ich so weitermachte, verriet ich mein Leben und meinen Schwur.

***

Alles Leid entsteht aus dem Festhalten, sagt der Buddha. Oder so ähnlich. Jedenfalls hat das einer der Gurus, zu deren Füßen Gertie und ich gesessen haben, behauptet. Dass es darum ginge im Leben: das Loslassen zu lernen, immer wieder und wieder loszulassen – zuletzt auch das Leben selbst. Der Sinn der spirituellen Suche, meinte er, sei, so weit zu kommen, keine Angst mehr vor dem Tod zu haben. Der uns ja gewiss ist, jedem von uns.

***

Also verließ ich Gertie. Ich tat es tagsüber, während sie nicht da war.

In der Woche zuvor hatte ich alles Geld abgehoben, das ich noch besaß, in bar, was ja bekanntlich nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Aber schließlich hatte ich es, hatte mir auch den Computer gekauft, ein preiswertes Modell, und ließ fast den ganzen Rest des Geldes bei Gertie zurück, in hübschen Stapeln auf eben dem Tisch, an dem wir immer Tee getrunken hatten. Ich legte einen kurzen Abschiedsbrief dazu, in dem ich ihr für alles dankte und zu erklären versuchte, warum der Weg, den sie vorgeschlagen hatte und der an und für sich der vernünftigste war, mir nicht gangbar erschien. Und dass ich ihr alles Gute wünsche.

Dann packte ich meine Koffer, rief ein Taxi und ließ mich ins Hotel Rosenpalais fahren, wo man mich seit Jahrzehnten kannte und sehr herzlich begrüßte, erfreut, die Suite an einen vertrauten Gast vermieten zu können.

Mein Plan war ganz einfach: Ich würde die zehn Tage ausnutzen, die mir blieben, ehe die Zimmerrechnung mitsamt aller aufgelaufenen Restaurant-, Bar- und sonstigen Kosten fällig wurde, und meinem Leben dann ein Ende setzen.

Dieser Plan ist aufgegangen und nähert sich seiner Vollendung. Morgen wird es passieren! Ich habe mir die Balkonbrüstung genau angesehen, weiß, wohin ich den Fuß setzen werde, habe alles in Gedanken schon mehrfach durchgespielt. Die Arme weit ausbreiten, die Augen schließen, mich der Schwerkraft vertrauensvoll überlassen … und dann: Aus.

Es gibt einen Spruch, ich weiß nicht mehr, wo ich ihn aufgeschnappt habe, aber er geht mir heute wie ein Mantra ständig im Kopf herum: »Nahe dem Tod bist du am lebendigsten!« Oh ja, so ist es. Ich spüre es im ganzen Körper.

Und deswegen werde ich jetzt nicht mehr weiterschreiben, sondern für heute Schluss machen und den Tag genießen, so gut ich nur kann!