Das Labyrinth
Sie war außergewöhnlich. Simon kannte keine andere Person, die sich mit Kio vergleichen ließ. Die dünnen Häute zwischen ihren zarten Fingern, ihre Augen malvenfarben und mandelförmig, darüber eckige Brauen und dunkelblaues Haar. Kio siv-Straun sar-Bensu trug Kleidung, die aus einem Netz einzelliger Organismen bestand: lebendiger Stoff, der seine Farbe Kios jeweiliger Stimmung anpasste und sich von den Pheromonen ernährte, die ihre Haut erzeugte. Ein Objekt, das nach einem großen Insekt aussah, akzentuierte das Gewand: Ein goldener Faden verband es mit der Schulter, und die chitinöse Hülle zeigte schillernde Farben.
Als Simon darüber nachdachte, gelangte er zu dem Schluss, dass Engvigs Präsenz mehr ein Segen als eine Last war. Der Ensign wusste es nicht, aber er gab eine perfekte Anstandsdame ab und spielte diese Rolle, ohne etwas davon zu ahnen. Denn Kio, die umgänglicher und aufgeschlossener war als die meisten anderen Thanetianer, zeigte sich in Engvigs Beisein seltsam zurückhaltend. Simon wusste nicht, ob er deshalb erleichtert oder enttäuscht sein sollte, was dazu führte, dass er ständig zwischen diesen beiden Gefühle hin und her wechselte.
»Kommen Sie«, sagte er. »Ich zeige Ihnen, wie wir uns unterhalten.«
Jemand hatte auf dem Holodeck ein Programm aktiv gelassen, das auf der irdischen Mythologie basierte: Theseus und der Minotaurus. Es schien eine geeignete Wahl zu sein. Was war langweiliger, weniger romantisch und ungefährlicher als eine alte Geschichte? Als sie eintraten, führten Korridore in alle Richtungen. Das grässliche Heulen eines albtraumhaften Wesens hallte aus den dunklen Tiefen des Labyrinths, über Wände mit Gemälden, die halbnackte junge Leute beim Kampf gegen wilde Stiere zeigten. Die Einzelheiten der Geschichte kannte Simon nicht, aber er erinnerte sich vage daran, dass sie etwas mit Garn und einem schrecklichen Ungeheuer zu tun hatte. Also war die Sache vielleicht doch nicht so langweilig wie zunächst angenommen, aber Romantik schien zu fehlen. Zum Glück, wie er sich einzureden versuchte, als er in Kios wunderschöne Augen sah, die jetzt staunend blickten und dadurch noch größer wurden.
»Irgendwo in diesem so genannten Labyrinth gibt es einen großen, Menschen fressenden Stier, und wir müssen ihn finden und töten«, wandte sich Simon an Engvig.
»Das haben wir in null Komma nichts erledigt«, sagte der Ensign. »Und dann ist das Universum wieder sicher für die Menschheit.« Er nahm ein großes Schwert, das vor ihm aus dem Nichts erschien, und lief durch einen Korridor, der sich dank moderner holographischer Technik korkenzieherartig in einen anderen schraubte, der anschließend in einen weiteren überging. Es dauerte nicht lange, bis der Junge außer Sicht geriet.
»Ich habe vergessen, ihn auf das Garn hinzuweisen«, sagte Simon.
»Das Garn?«, fragte Kio.
»Der Held befestigt es am Portal …« Das Garn erschien in Simons Hand, und Kio war angemessen beeindruckt. Er band das eine Ende am Türknauf fest, der ebenfalls gerade entstanden war, an einer nagelneuen Tür in einem der Korridore. »Und so findet Theseus den Weg zurück, nachdem er das Ungeheuer getötet hat.«
Kio schnappte nach Luft. Anstatt ihres dunklen Endzeitgewands trug sie einen durchscheinenden griechischen Chiton, der den Eindruck erweckte, aus hauchdünnen Fäden gesponnen zu sein, aus Spinnweben. Aus Mondschein. Simon wandte den Blick ab und versuchte, sich auf die Wandgemälde zu konzentrieren, aber die nur spärlich bekleideten herumtollenden jungen Leute boten ihm nicht die erhoffte Ablenkung. Stattdessen schienen sie ihn zu verspotten. Warum hatte Picard ausgerechnet ihn für diese Aufgabe ausgewählt? Und wo steckte Engvig? Leichter Wind aus den Tunneln bewegte Kios süß duftendes Haar.
»Mr. Tarses … Simon, ich …«
»Sollen wir das Ungeheuer suchen?«, unterbrach er die junge Frau. Sie wirkte verärgert. Vermutlich hielt sie ihn für unhöflich, was nicht das Schlimmste war, das unter diesen Umständen passieren konnte. Was für eine seltsame Art von Diplomatie: Ein schlechter Eindruck war in diesem Fall besser als ein zu guter. Simon band das andere Ende des Garns an seinem Gürtel fest und widerstand der Versuchung, Kios Hand zu nehmen, als er mit ihr durch einen der Tunnel ging.
Der Boden unter ihnen schien nicht stabil zu sein. Er bewegte sich, und es wurde eine sporadische Vibration daraus. Ein entnervendes Geräusch erklang, am Rand der Hörschwelle, der Hufschlag eines großen Tiers … »Der Minotaurus!«, stieß Simon hervor.
»Wollen Sie gegen ihn kämpfen? Um mich zu beschützen?« Kio sah Simon an und strahlte.
»Äh, es ist schon recht spät. Warum überlassen wir das Ungeheuer nicht Mr. Engvig?«
»Und was machen wir beide?«, fragte Kio. Ihre zarten, mit Schwimmhäuten ausgestatteten Finger berührten ihn an der Schulter. Tarses schluckte.
»Wie wäre es mit einer Tour durchs Schiff?«, erwiderte er verlegen.
»Zeigen Sie mir dabei auch Ihr Quartier?«, erklang Kios samtene Stimme.
»Ich schlage vor, wir beginnen im Maschinenraum«, entgegnete Simon.
Tarses zeigte der Tochter des Botschafters die verschiedenen Decks des Schiffes, und sie war von allem begeistert, sogar von jenen Details, deren wissenschaftliche Erklärungen er selbst kaum verstand.
Als sie sein Quartier erreichten, war Ensign Engvig glücklicherweise vom Holodeck zurückgekehrt und hatte sich bereits häuslich eingerichtet. Wo sich zuvor die einfache, spartanische Einrichtung befunden hatte, stand nun das große Modell eines primitiven Schiffes mit einem Drachenkopf am Bug und kleinen runden Schilden an den Seiten.
Simon wandte sich an Engvig. »Schon zurück?«
»Ja, Sir!«, erwiderte der junge Mann. »Es war ein Kinderspiel, das Ungeheuer zu töten. Ich habe mich plötzlich daran erinnert, aus Mythologie 101, und mir Garn besorgt. Diese Lektion in Problemlösung weiß ich sehr zu schätzen, Sir!«
»Ich habe da ein Problem, das du lösen könntest«, sagte Kio schüchtern.
»Ja, Ma'am!«
»Ich bin ziemlich durstig. Könntest du mir etwas zu trinken holen, aus dem Raum mit den wundervollen Aussichtsfenstern?«
»Zehn-Vorne? Natürlich!«
Und er war verschwunden. Kio sah Simon mit einem strahlenden Lächeln an. »Bleib nicht zu lange fort!«, rief Tarses dem Ensign nach.
»So leer«, sagte Kio. »So schmucklos.« Sie hatte Recht, solange sich ihre Worte nicht auf Engvigs Reisetaschen und das Modell eines Langschiffs bezogen. Simon trat neugierig näher und betrachtete es. Das Schiff faszinierte ihn, und er erinnerte sich vage an Geschichten über abenteuerliche Wikinger, die er in den Vorlesungen über terranische Geschichte gehört hatte, einem obligatorischen Fach an der Akademie – es zählte zu den weniger wichtigen.
»Das hier sieht aus wie ein Dailong«, sagte Kio. »Hat es früher welche auf der Erde gegeben?«
»Was ist ein Dailong?«
Die junge Frau lachte. »Das wissen Sie nicht? Ein Seedrache, so gewaltig, dass man eine Stadt auf seinem Kopf bauen könnte. Und wir haben dort Städte gebaut.«
»Ich fürchte, dafür bietet Engvigs kleines Schiff nicht genug Platz«, sagte Simon.
Immer wieder staunte Kio über die Replikatoren. Simon beobachtete amüsiert, wie sie herauszufinden versuchte, wie viele thanetianische Speisen bereits programmiert waren. Fast jede Spezialität, die das Gerät produzierte, schien für sie verboten zu sein. Bei den Thanetianern gab es ein kompliziertes Kastensystem, und jeder Kaste waren nur bestimmte Speisen erlaubt.
»Jede Kaste speist in ihren speziellen Restaurants«, sagte Kio. »Ist so etwas bei Ihnen nicht üblich? Es gibt keine andere Möglichkeit, rein zu bleiben. Ich bin nicht sicher, ob ich vom Replikator hergestellte Dinge essen darf.«
»Eigentlich bestehen die Speisen gar nicht aus ›echten‹ Ingredienzen«, erwiderte Simon.
»Das stimmt. Es werden andere Dinge verwendet.« Mutig biss Kio in eine Xeriposa, eine Art Schokoladenschnecke. Sie schien kurz zu würgen, doch dann schluckte sie – und lächelte. »Meine Güte. Ich bin nicht von der Lanze des Ewigen Tartillion durchbohrt worden.«
Simon begriff, dass die Tochter des Botschafters gerade einen wichtigen Schritt hinter sich gebracht hatte. Sie war regelrecht aus ihrer kleinen, begrenzten Welt herausgesprungen und hatte die große Galaxis jenseits davon erreicht. Simon erinnerte sich an einen ähnlich wichtigen Schritt in seinem Leben. Er war aus seiner nebulösen Vergangenheit herausgewachsen, hatte das romulanische Erbe überwunden und seine Identität, seine Zukunft mit der Föderation verbunden. Viele üble Dinge waren damit einher gegangen, Anklagen und eine dramatische Hexenjagd. Aber es hatte auch Wundervolles gegeben, zum Beispiel Picards leidenschaftliche Verteidigung seiner Rechte. Und der Umstand, dass er weiterhin zur Besatzung dieses prächtigen Schiffes gehörte.
Selbst die Ehrfurcht in den glänzenden Augen des jungen Ensign war nicht so schlecht, obgleich der Junge dazu neigte, in den unpassendsten Augenblicken zu verschwinden. Warum blieb er so lange weg? Plötzlich verstand Tarses, warum Kio Engvig nach Zehn-Vorne geschickt hatte. Sie wusste Bescheid. Sie wusste, dass der Junge nicht der Versuchung widerstehen konnte, im Gesellschaftsraum zu bleiben, in der Hoffnung, die eine oder andere Enterprise-Berühmtheit während eines Moments der Entspannung zu sehen. Simon verzog das Gesicht, als er sich vorstellte, wie sein Mündel Commander Riker oder, schlimmer noch, Worf belästigte.
»Ich könnte fast vergessen, dass Sie und die anderen nur Schatten sind«, sagte Kio, »Gespenster des Was-hätte-sein-können. Sie geistern in den letzten Tagen der Welt herum, so wie es im Panvivlion geschrieben steht, dem Buch, nach dem alle redlichen Seelen leben und sterben müssen.« Ihr singender Tonfall unterbrach Simons Gedankengang.
Er wusste, dass er ihr nicht widersprechen sollte. Zivilisationen in ihren zahllosen Formen sind sakrosankt – diese Philosophie steckte hinter der Ersten Direktive und dem Grundprinzip, mit dem Starfleet anderen Welten begegnete. Aber er konnte einfach nicht anders. Er wollte nicht, dass Kio glaubte, zum Tode verurteilt zu sein. Und er war davon überzeugt, dass sie selbst nicht daran glauben wollte.
»Was wäre, wenn … wenn …«, begann er.
»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, kam ihm die Tochter des Botschafters zuvor. »Das Panvivlion weist uns darauf hin, dass wir während der Endzeit in große Versuchung geraten.«
Und ob, dachte Simon. Doch er wusste auch, dass es ihm nicht zustand, diese schöne und aufmerksame Frau von den Überzeugungen und Traditionen ihres Volkes abzubringen.
»Ich geleite Sie jetzt besser zu Ihrem Vater zurück«, sagte er.