Asyl
Bald würde das Trauma vorbei sein. Die Rückkehr nach Thanet erleichterte Botschafter Straun, obgleich er wusste, dass ihm bald eine Konfrontation mit dem hohen Shivantak bevorstand.
Und vielleicht auch ein Häresieprozess? In gewisser Weise spielte es keine Rolle. Schande oder Ehre, er starb ohnehin, wenn der große Zyklus zu seinem Anfang zurückkehrte, wenn der mächtige Ur-Dailong seinen eigenen Schwanz verschlang, wenn der Zähler des karmischen Quotienten aller Seelen auf Null zurückgesetzt wurde. Es sei denn … Nein. Er musste den Zweifel aus sich verbannen. Dies waren die Lehren des Panvivlion; dies waren die Prinzipien, nach denen er lebte.
Um neun Uhr Bordzeit nach dem Zeitsystem der Fremden ging er zum Transporterraum, begleitet von dem kahlköpfigen Mann, den die anderen »Captain« nannten. Natürlich würde es auf Thanet ein Äquivalent der Gastfreundschaft geben, die er an Bord dieses Schiffes genossen hatte. Ein großer Empfang für eine Gruppe von der Enterprise war geplant. Im Transporterraum warteten bereits einige Personen, zum Beispiel die obszöne Parodie eines menschlichen Wesens, der Androide, der in Rätseln sprach, und einige andere, die auch beim Bankett am vergangenen Abend zugegen gewesen waren. Der Androide zeigte eine sonderbare Hyperaktivität: Er atmete schwer, seine Hände zitterten, und die Lippen bewegten sich ständig.
Schließlich konnte der Botschafter seine Neugier nicht länger zurückhalten. »Sind Sie krank, Mr. Data? Sie scheinen auf eine anomale Weise erregt zu sein.«
»Ich versuche, ein angemessenes Maß an Aufregung zu zeigen«, erwiderte der Androide. »Der Besuch auf einer fremden Welt steht bevor. Das ist ein sehr aufregender Moment, und deshalb lasse ich meine Gliedmaßen zittern und erhöhe gleichzeitig Herzschlag und Atmung. Das alles ist Teil des Versuchs, mich den Menschen anzupassen, Botschafter.«
»In meiner Kultur legen wir großen Wert darauf, nicht zu versuchen, etwas zu werden, das man nicht ist«, sagte Straun.
»Sie übertreiben es tatsächlich ein wenig, Commander«, sagte der Captain.
Sofort beruhigte sich der Androide. Es war verblüffend, wie schnell das Wesen Teile von sich ein- und ausschalten konnte. Wie unheilig diese Fremden doch waren, denn sie ließen den Unterschied zischen Hoch- und Niedriggeborenen verschwimmen, sogar zwischen Lebendigem und Unbelebtem! Es gab viele Dinge, von denen er dem Shivantak berichten musste, vorausgesetzt, man stellte ihn nach seiner Rückkehr nicht sofort vor ein Häresiegericht.
Straun erwartete seine Tochter im Transporterraum. In einem Anflug von Schwäche hatte er ihr erlaubt, eine Art Menagerie zu besuchen. Sie mochte Tiere. Er liebte sie und wollte gerade jetzt, da ihre Zeit zu Ende ging, alle ihre Wünsche erfüllen. Aber er verabscheute den attraktiven jungen Mann, der den Auftrag bekommen hatte, Kio überallhin zu begleiten. Seine betonte Zuvorkommenheit weckte Argwohn in Straun. Andererseits … Es war nur für eine Stunde. Und dann kam das Ende. Ja. So stand es geschrieben. Und er glaubte daran.
Botschafter Straun sah sich in dem Raum mit den Maschinen um, die Personen und Dinge innerhalb eines Augenblicks von einem Ort zum anderen bringen konnten. Seine Tochter war nicht da.
»Ach, junge Leute«, sagte Captain Picard. »Sie lassen uns gern warten.«
Den Botschafter störte die Vertrautheit, die das Wort »uns« andeutete. Er lächelte grimmig. »Meine Geduld ist nicht unendlich«, sagte er.
Mehrere lange Momente vergingen.
Der Captain lächelte weiterhin. Oh, diese beruhigenden, gönnerhaften Blicke! Picard bemitleidete ihn. Er hielt ihn für einen fehlgeleiteten, selbstzerstörerischen Narren und nicht den Hüter der ewigen Wahrheit seiner Welt.
»Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?«, fragte Straun und gab jäher Panik nach.
»Sie ist bestimmt auf dem Weg hierher«, sagte Captain Picard, und in seiner Stimme erklang die Gelassenheit eines Mannes, der keine Tochter beschützen musste. Wie unerträglich diese Fremden doch waren!
»Computer, lokalisiere Kio und Besatzungsmitglied Tarses«, sprach der Captain in die leere Luft.
»Sie befinden sich auf dem Holodeck Zwei, Captain«, antwortete eine körperlose Stimme.
»Beamen Sie sie hierher«, wies Picard einen Transportertechniker an.
Buntes Licht funkelte, und dort standen sie. Umarmt! Was für eine Frechheit! Straun zitterte so sehr wie zuvor der Androide bei dem Versuch, menschliches Gefühl nachzuahmen.
»Vater, ich kann das erklären …«, begann Kio. Unterdessen ließ sich der junge Mann hastig Lügen für den Captain einfallen und erzählte irgendeinen Unsinn über die ständige Präsenz einer Person namens Engvig und einen unschuldigen Spaziergang des Trios durch etwas, das er »Büffel-Schau« nannte. Der junge Mann behauptete, Strauns Tochter – die anständige, ehrenwerte Kio – hätte ihm die Arme um den Hals geschlungen. Etwas so Schändliches auch nur zu behaupten … Es war unerträglich.
»Ich habe sie nur … unterhalten«, fügte der junge Mann verlegen hinzu. »Wie es mein Auftrag vorsah.«
Kio hatte ihre Verlegenheit längst überwunden »Unterhaltung! So nennen Sie das? Sie haben mir Türen zu anderen Universen gezeigt, ganz neue Gefühle in mir geweckt und mich sogar dazu gebracht, die heiligen Gesetze des Panvivlion zu brechen. Und das … nennen Sie Unterhaltung? Haben Sie mich unterhalten oder sich selbst? Haben Sie nur mit mir gespielt?«
Simon Tarses stand einfach nur da, mit offenem Mund, in den Augen schockierte Verblüffung. Picard runzelte die Stirn, schwieg aber.
Gewaltiger Zorn brodelte in Straun. Ein Tag und eine Nacht unter diesen Fremden – und seine Tochter war praktisch eine von ihnen geworden! Was hatten sie auf dem so genannten Holodeck angestellt, welche schmutzigen Geheimnisse der Fremden hatte Kio dort in Erfahrung gebracht? Eine andere Möglichkeit fiel ihm ein, und er bebte am ganzen Leib, als er daran dachte. Hatte sie bereits ihr kostbares Ara-to-zorn gegeben, jene Sache, die ohne das Erlaubnissiegel des Ehebüros des Hohen Shivantak keinem Mann gegeben werden durfte? Es war einfach zu viel! In seinem ganzen Leben hatte Straun nie ein hartes Wort an seine Tochter gerichtet – für die Erziehung war seine verstorbene Frau zuständig gewesen –, aber jetzt reichte es ihm. Er schnappte über, vergaß alles Diplomatische und zog Kio zu sich heran. Seine knochigen Hände griffen nach ihrer Kehle.
»Du bringst Schande über mich, du … du … Arataq!«, brüllte er. Damit war ihm das schlimmste Schimpfworte in der thanetianischen Sprache über die Lippen gekommen.
Kio riss sich los. Und dann lachte sie, was viel schlimmer war als Tränen oder ein Schimpfwort ihrerseits.
»Ist es dazu gekommen, Vater? Deine Welt läuft Gefahr, von einem Kometen pulverisiert zu werden, aber du möchtest, dass ich meine Reinheit schütze? Wozu denn?«
»Captain!«, protestierte Tarses. Picard hob die Hand zur Stirn und schüttelte kummervoll den Kopf.
»Nicht meine Welt, Tochter – die Welt. Unser Universum. Der Mittelpunkt unserer Existenzen.«
»Ich habe süße Zul von Arugars Berggipfeln gekostet, Vater!«, sagte Kio. »Ich habe den Saft der verbotenen violetten Pampelmuse getrunken! Das sind die größten Tabus in unserer Gesellschaft, Vater! Welche Bedeutung hat danach ein wenig Sex?«
Botschafter Straun schlug seine Tochter ins Gesicht. Unmittelbar darauf fühlte er, wie sich eine starke Hand um seinen Arm schloss, vermutlich in der Absicht, weitere Schläge zu verhindern. Er sah in die zornigen Augen von Jean-Luc Picard.
»Das reicht!«, sagte der Captain scharf. Aber der Mensch hätte sich gar keine Sorgen machen müssen. Straun wäre nicht imstande gewesen, noch einmal die Hand gegen seine schöne, unschuldige Tochter zu erheben. Dies alles war nicht ihre Schuld. Die Worte kamen nicht wirklich von ihr. Er wollte dem die Schuld geben, der das alles angerichtet hatte: Simon Tarses.
»Sir, ich schwöre Ihnen, nicht einmal in tausend Jahren würde ich …«
»Es reicht mir auch von Ihnen, Besatzungsmitglied.«
»Ich kehre nicht zurück, Vater«, sagte Kio. Sie wandte sich an den Captain und sprach mit fast flehentlicher Stimme. »Niemand kann mich zwingen, nach Thanet zurückzukehren. Dort erwartet mich der Tod. Alle werden sterben, und es kümmert sie nicht einmal.«
»Niemand wird sterben«, erwiderte der Captain. »Ich habe dem Shivantak das Wort der Föderation gegeben, dass wir die Katastrophe verhindern werden.«
»Wie können Sie es wagen!«, entfuhr es Straun. »Genügt es nicht, dass Sie mich vor den Augen meiner Tochter beschämt haben, indem Sie mich zu Gewalt verleiteten? Genügt es nicht, dass Sie Zweifel in ihr gesät haben, sodass sie das Ende nicht mehr würdevoll erwarten kann, mit Stoizismus und Stolz?«
»Captain«, sagte die junge Frau, »ich bitte um – wie nennt man es? – politisches Asyl.«
»Ich wollte nicht …«, stammelte der junge Mann. »Ich habe ihr von der alten Geschichte der Erde erzählt, vom Kalten Krieg, von Menschen, die abtrünnig wurden und so weiter. Ich konnte nicht ahnen, dass sie …«
»Darüber sprechen wir später in meinem Bereitschaftsraum, Mr. Tarses. Wegtreten.«
Der junge Mann ging. Straun beschloss, ebenfalls ein Wörtchen mit Simon Tarses zu reden. Später.
Captain Picard legte der jungen Frau die Hand auf die Schulter. Kio sah ihren Vater weiterhin herausfordernd an, aber Botschafter Straun wollte nicht nachgeben.
»Kio«, sagte der Captain sanft, »Ihr Vater ist Botschafter, und wir sind dabei, diplomatische Beziehungen mit Ihrer Welt herzustellen. Dies ist vielleicht nicht der geeignete Zeitpunkt …«
»Sie sprechen von einer Welt, der Zerstörung droht«, unterbrach die junge Frau Picard. »Es wird Ihnen nicht gelingen, den Kometen zu neutralisieren. Mein Vater ist ein Fanatiker. Er wird Ihren Plan sabotieren. Er wäre sogar bereit, gegen den Willen des Hohen Shivantak zu handeln …«
»Häresie!«, rief der Botschafter aus vollem Halse.
»Häresie, sagt er«, fuhr seine Tochter fort. »Nun, wenn politisches Asyl nicht infrage kommt … Ich sehe mich religiöser Verfolgung ausgesetzt. Ich glaube nicht an die Unvermeidlichkeit des Endes der Welt, und mein Vater will mich zwingen, für meinen Glauben zu sterben.«
»Kio …« Picard sprach noch immer sanft. »Sie müssen Ihren Vater begleiten. Ich darf mich nicht in die Traditionen Ihres Volkes einmischen.«
»Das dürfen Sie nicht?«, fragte Kio, als sie langsam zu Straun ging und den Blick abwandte, als er sie zu umarmen versuchte. »Sie haben sich bereits eingemischt. Beim Panvivlion, ich wünschte, Sie wären nie gekommen.«
Zum ersten Mal an diesem Tag stimmte Botschafter Straun seiner Tochter zu. Veränderung war gekommen in der elften Stunde, mit diesem mächtigen Schiff.
Veränderung!
Auf Thanet hatte sich nie etwas verändert.
Das Universum ist ein Tanz. Die Zyklen folgen aufeinander mit der Regelmäßigkeit von … nein! Nichts hat sich jemals auf Thanet verändert. An diesem Gedanken klammerte sich Straun fest und wiederholte ihn immer wieder, als könnte er damit die klaren Hinweise darauf verschwinden lassen, dass es zu Veränderung gekommen war.
Er fürchtete sich.