Kapitel 10

 

Der Hohe Shivantak

 

»Sprich nicht erneut von ihm!«, sagte Kios Vater zornig zu seiner Tochter, als sie vor dem Audienzsaal des Hohen Shivantak warteten. Sie schienen schon seit einer ganzen Mondwende zu warten – so fühlte es sich jedenfalls an.

»Vater«, erwiderte Kio, »er hat mich nicht auf eine unreine Weise berührt. Er ist ein Offizier der Föderation, Vater. Jene Leute haben einen Ehrenkodex, auch wenn du sie alle für Barbaren hältst. Ich war es, Vater. Ich wollte, dass er mich umarmt!«

Kio musste zugeben, dass ihr das Entsetzen im Gesicht ihres Vaters gefiel. Seit Jahren war es ihr nicht mehr gelungen, ihn zu einer so starken Reaktion zu veranlassen. Vielleicht liebt er mich doch, dachte sie.

»Genügt es nicht, dass ich mich im theologischen Labyrinth wie eine Laborratte verirrt habe?«, sagte er und ging auf und ab. »Genügt es nicht, dass ich einfach keine innere Ruhe finde und dadurch außerstande bin, dem Ende der Welt mit Freude im Herzen entgegenzusehen? Genügt es nicht, dass ich das Undenkbare gedacht und den unfehlbaren Shivantak der Häresie verdächtigt habe? Nein, meine Tochter muss ausgerechnet diesen Moment wählen, um zu rebellieren.« Straun war so außer sich und abgelenkt, dass er gegen die Wand prallte und einen Leuchter umstieß. Flüssiges Feuer spritzte auf den polierten Jaspisboden. Eine Bedienstete eilte herbei und murmelte ein Mantra der Omenverhütung, als sie mit einem vergoldeten Schwamm die Lachen kalter Flammen aufwischte.

»Vater, Vater«, sagte Kio leise.

Ein Mann betrat das Vorzimmer, in dem sie warteten: der Kammerherr des Shivantak. Er trug einen Umhang aus schwarzen Anatir-Federn und hielt die Kugel des Urteils in der linken Hand.

»Lord Kaltenbis!«, sagte Straun und kniete, denn die Stirn des Kammerherrn trug das Kastenzeichen der M'Thartusch. »Wann wird mich der Shivantak empfangen? Es gibt so viel zu berichten, so viele Fragen, die beantwortet werden müssen, Fragen, die eine Gefahr darstellen für …«

»Ruhe!«, rief Kaltenbis. Die Kugel glühte. »Sein Leuchten wird Sie nicht empfangen.«

»Aber …«

»Jetzt nicht und vielleicht nie, wenn man das nahe Ende der Welt berücksichtigt. Doch ich soll Ihnen ausrichten, dass er sich eingehend mit Ihrem Bericht beschäftigt hat. Darüber hinaus bin ich befugt, Ihnen mitzuteilen, dass ich Ihr Schicksal in meiner rechten Hand halte.« Er schüttelte einen weiten Ärmel, und ein versiegeltes Dekret rutschte ihm in die Hand. »Das Glühen der Kugel dürfte Sie darauf hinweisen, was es hiermit auf sich hat.«

Kio schnappte nach Luft. Die Unruhe ihres Vaters gewann plötzlich eine ganz neue, unheilvolle Bedeutung.

»Ja, es ist ein Todesurteil wegen Häresie. Soll ich es Ihnen vorlesen? Ich nenne nur die wichtigsten Punkte. Straun sar-Bensu, beauftragt in der höchsten religiösen Sphäre und so weiter, und so fort, wird verurteilt, weil er den Bruch des großen Kreises in Erwägung zog …«

»Ich?«, stieß Kios Vater hervor. »Ich? Ich war der treueste aller Gläubigen, bis ich … Der Hohe Shivantak selbst …«

»Absurd«, unterbrach ihn der Kammerherr. »Sie schreiben dem Unfehlbaren Fehlbarkeit zu – ich sollte mit eigenen Händen den Scheiterhaufen anzünden, auf dem Sie verbrennen!«

Kio flüsterte ihrem Vater ins Ohr. »Jetzt siehst du, wie verräterisch sie sind, Vater. Jetzt muss auch dir klar sein, dass sie dich benutzt haben, um sich selbst nichts zuschulden kommen zu lassen. Du bekommst die Schuld dafür, das herausgefunden zu haben, was sie unbedingt wissen wollten, jene Sache, an die ein Bürger von Thanet nicht einmal denken darf: Sie wollten wissen, ob die Föderation die Wahrheit sagt! Denn selbst wenn es dich und die halbe Welt zerstört – sie wollen an der Macht bleiben, und eine halbe Welt ist besser als gar keine!«

Sie schlang die Arme um ihren immer noch knienden Vater. Tränen strömten ihm über die Wangen, und er schluchzte immer wieder. Kio wirbelte wütend herum und sah dem Kammerherr in die Augen. »Sehen Sie nur, was Sie ihm angetan haben! Sehen Sie nur, was Sie der ganzen Welt angetan haben! Sie schlingen die Wahrheit hinunter und spucken eine Lüge aus. Sie glauben keinem einzigen Wort des Panvivlion. Hypokrit!«

»Mach es nicht noch schlimmer für uns!«, flüsterte Kios Vater heiser. »Welch eine Schande … Den großen Mächten sei Dank dafür, dass die Welt ohnehin endet. Dass ich auf dem Scheiterhaufen verbrannt werde … Es verkürzt mein Leben nur um ein oder zwei Tage.«

»Erheben Sie sich, Straun sar-Bensu«, sagte Lord Kaltenbis. »Das Todesurteil halte ich in der einen Hand. Doch mit der anderen kann ich zurückgeben, was ich genommen habe.«

Er schüttelte den anderen Ärmel, und ein zweites Dokument kam zum Vorschein. Es hatte keine roten Kanten, Zeichen der reinigenden Flammen der Hinrichtung, sondern grüne. Und es wies ebenfalls das Siegel des Hohen Shivantak auf.

»In meiner anderen Hand halte ich ein anderes Edikt«, sagte der Kammerherr. »Die Vollstreckung des Todesurteils wird hiermit bis nach dem Ende der Welt ausgesetzt. Ihre Ehre ist sicher, denn danach gibt es keine Güter mehr zu beschlagnahmen und keinen guten Namen mehr, der besudelt werden könnte. Als Gegenleistung für die letzten Tage in Ehre werden Sie mit der Föderation zusammenarbeiten.«

»Zusammenarbeiten?«, wiederholte Straun. Entsetzen und Verzweiflung in seinem Gesicht verwandelten sich in Verwunderung.

Doch Kio begriff sofort, was der Kammerherr meinte. Es hatte zwei Möglichkeiten gegeben: die große Wahrheit des Panvivlion – und ihr undenkbares Gegenteil. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten musste ein Mittelweg gefunden werden, ein Schlupfloch.

»Sie möchten, dass mein Vater Sie rettet«, sagte Kio langsam.

»Wir möchten, dass er seine bisherigen Bemühungen fortsetzt und theologische Ungereimtheiten untersucht, um festzustellen, ob eine genauere Interpretation des Panvivlion möglich ist«, sagte Kaltenbis.

»Und was bekommt er dafür?«

»Sein Leben.«

»Ich glaube, mein Vater möchte mehr als nur sein Leben. Ich glaube, er strebt nach Höherem, nach einer Veränderung der Kaste.«

»Über die Kastenzugehörigkeit entscheidet die Geburt!«

»Der Hohe Shivantak ist die Verkörperung des Panvivlion«, sagte Kio. »Die zu Fleisch gewordene Wahrheit. Er ist unfehlbar. Er kann einen Kastenwechsel einfach anordnen.«

»Ich werde diese Angelegenheit dem Hohen Shivantak vortragen«, sagte der Kammerherr, und Kio begriff: Dieser Mann war überhaupt nicht an Fragen gewöhnt, was dazu führte, dass er Herausforderungen leicht nachgab, selbst dann, wenn die Herausforderung von einem unbedeutenden siebzehnjährigen Mädchen kam.

»Vater«, flüsterte Kio und zog ihn hoch, »wir müssen noch einmal zu Captain Picard. Und wir sollten so aufgeschlossen wie möglich sein.«