Im Drachen
Im Kopf des Drachen erstreckte sich ein Labyrinth. Die Korridore verzweigten sich immer wieder. Die Wände pulsierten, und eine ölige Membran bedeckte sie; eine ranzige Flüssigkeit quoll aus Millionen Poren. Der Dailongzhen führte die Landegruppe immer weiter nach unten. Jedenfalls gewann Simon Tarses den Eindruck, dass es nach unten ging, obgleich er seinen Sinnen in dieser Hinsicht nicht mehr ganz traute. Alles spielte sich auf der Grundlage eines uralten Rituals ab. Zwei Ruderer schwangen vergoldete Rauchfässer, aus denen süß riechende Dämpfe quollen. Zwei andere hielten Fackeln hoch und gingen voran, verharrten dann und wann, um Beschwörungen zu murmeln, als wollten sie auf diese Weise den Geist des Drachen beschwichtigen. Simon fühlte, wie er immer mehr aufging im exotischen Rhythmus des Rituals. Der Rauch aus den hin und her schwingenden Fässern drang in seine Nase und schien alles zu verstärken: die Stimmen, die dumpfen, hallenden Töne ritueller Gongs, die schreienden Farben im Innern des Dailong. Der Lärm bereitete ihm Kopfschmerzen.
Nur Data blieb unbeeinflusst. Simon beobachtete ihn, als der Androide die fleischigen Wände untersuchte, einmal sogar die Flüssigkeit zu probieren schien, die aus den Membranen tropfte. »Faszinierend«, sagte Data. »Ein ungewöhnlicher hoher Anteil an Silizium.«
Der kleine Junge namens Adam plapperte an der Seite des Androiden – offenbar mochte er ihn. Sein Vater schritt weiter vorn zielstrebig hinter dem Dailongzhen. Der Rauch wogte jetzt. Leichter Wind wehte hier durch die Tunnel, und Simon konnte nicht vermeiden, die Dämpfe einzuatmen. Sie machten ihn benommen.
»Mir ist schwindelig«, sagte Simon, als der Androide innehielt und ein weiteres sonderbares Merkmal untersuchte, eine Anordnung aus Tentakeln, die wie eine Seeanemone langsam hin und her schwangen. »Es muss an dem Rauch liegen.«
»Gruyesch«, erklärte Halliday. »Das geheime Ingrediens im Rauch. Es hat eine leicht halluzinogene Wirkung und ist ein wesentlicher Bestandteil der meisten religiösen Rituale auf diesem Planeten.«
»Atmen Sie nicht zu viel davon ein«, sagte Adam. »Man kann von dem Rauch regelrecht betrunken werden.«
Sie gingen eine Wendeltreppe hinab, die aus Knochen und Knorpeln zu bestehen schien, brachten dann eine Seilbrücke über einen Fluss aus Galle hinter sich und erreichten schließlich einen zentralen Raum, der gewisse Ähnlichkeit mit der Brücke eines Raumschiffs aufwies.
Hier und dort traten Knochen hervor, und in der Mitte gab es ein thronartiges Gebilde, auf dem der Dailongzhen Platz nahm und mit beiden Händen nach zwei tentakelartigen Auswüchsen griff.
»Erwache, o Geist der Tiefe!«, intonierte er. Der zentrale Raum war klein, und die meisten Ruderer warteten draußen im Korridor. Nur die Männer mit den Rauchfässern blieben, standen zu beiden Seiten des Dailongzhen und nebelten ihn mit ihren Dampfwolken ein. Adam, Data, Martinez und Halliday nahmen auf knochigen Sitzen Platz. Simon machte es sich in einer Wandmulde bequem. Das Fleisch gab nach und passte sich den Konturen seines Körpers an, fast so, als wäre es dazu bestimmt.
Aus dem Korridor kamen die Geräusche von Gesang und der Krach exotischer Schlaginstrumente. Und dann herrschte plötzlich Stille.
Der Dailongzhen stand auf. Seine Augen schienen zu glühen.
Er schloss die Hände fest um die Tentakel, ruckte vor und zurück und heulte dabei. Um ihn herum formten sich Bilder. Der Ozean. Die Flotte aus Skiffen in unmittelbarer Nähe des Dailong. Die vielen Thanetianer, die auf dem Rücken des Drachen herumstolzierten, während die Wellen an die Flanken des großen Wesens schlugen.
»Erstaunlich«, flüsterte Data. »Diese Membranen sind … Bildschirme und empfangen die visuellen Daten von Sensoren an der Außenseite des Geschöpfes. Ihr Netz aus Stäbchen und Zapfen ist ähnlich beschaffen wie die Netzhaut des menschlichen Auges und produziert Bilder, wenn man sie auf die richtige Weise stimuliert …«
»Dies ist wie die Brücke eines Raumschiffs«, sagte Simon leise. Als der Dailongzhen die Arme bewegte, veränderten sich die Bilder, und ihre Richtung wechselte – der Dailongzhen steuerte den großen Meeresdrachen! Eine Drehung, die Simon fast das Gleichgewicht raubte, und dann stellte er fest, dass sie zum Hafen unterwegs waren. Er sah die Minarette, die in sich verdrehten Türme und Kuppeln der Stadt, auch den Palast des Hohen Shivantak, in dunstiger Höhe – das Bild wirkte geisterhaft, war umgeben von schimmernden Regenbögen. Der Dailong bewegte seine Muskeln und glitt mit hoher Geschwindigkeit durchs Wasser. Mehrere Monde waren aufgegangen, und ihr Licht tanzte im violetten Glühen der langsam dem Horizont entgegensinkenden Sonne Klastravo.
»Und auf diese Weise reisen die Thanetianer«, sagte Halliday. »Für kurze Distanzen verwenden sie kleine Boote, Kanäle und künstliche Wasserstraßen, aber die weiten, offenen Flächen ihres Planeten bestehen aus Meeren, und diese Geschöpfe sind ihre Überseedampfer, gesteuert von telepathischen Navigatoren, die Gruyesch-Dämpfe einatmen und halb berauscht sind.«
Der Dailongzhen schien sich jetzt in einer Art Trance zu befinden, und das große Geschöpf sackte ein wenig ab. Ein dumpfes Summen kam aus seiner Tiefe und zog durch den Kontrollraum.
»Dies ist eines der größten Geheimnisse des Planeten«, fuhr Halliday fort. »Diese Wesen, das wichtigste Transportmittel der Thanetianer … Sie scheinen nicht ganz natürlichen Ursprungs zu sein. Aber die Thanetianer haben sie nicht geschaffen. Nein. Sie verlassen sich darauf, dass sie mit der rituellen Jagd jedes Mal dann ein solches Geschöpf finden, wenn sie eines brauchen. Wie dem auch sei: Die Dailong sind ein Triumph der Biotechnik.«
»Ich wette, die Antwort lässt sich hier irgendwo finden«, sagte Simon. »Ein so komplexes Schiff muss einen Computer haben, nicht wahr? Vielleicht kann man ihn nicht auf den ersten Blick als Computer erkennen. Commander Data ist der lebende Beweis dafür, dass Computer nicht unbedingt wie Computer aussehen müssen.«
»Ich glaube, da haben Sie Recht«, sagte Data. »Wir befinden uns im Innern einer außerordentlich großen künstlichen Intelligenz, und der Dailongzhen steuert sie mithilfe eines einfachen, aber wirkungsvollen Mensch-Maschine-Interfaces. Dr. Halliday, wäre mir der Versuch gestattet, eine Verbindung mit dieser Maschine herzustellen?«
»Ich denke schon«, erwiderte Halliday. »Ich habe über Monate hinweg versucht, eine Verbindung zu schaffen, und niemand hat mich darauf hingewiesen, dass so etwas verboten ist.«
Um sie herum zeigten die von Regenbögen gesäumten Bildschirme das Meer. Auf der rechten Seite erhob sich die Hauptstadt vor der untergehenden Sonne und den tanzenden Monden. Der Dailongzhen hatte jetzt die vollständige Kontrolle, und der Drache glitt ruhig dahin.
Ein Bildschirm zeigte seinen ausgestreckten Körper, mit zahlreichen flossenartigen Erweiterungen, die durchs Wasser strichen. Weiter oben flog ein Schwarm weißer Inari-Vögel in einer geometrischen Formation, die sich veränderte, als es dunkler wurde.
»Die Tentakelbündel an den Wänden …«, sagte Halliday. »Wie Sie sehen, versetzen sie diese Leute in die Lage, mit dem Dailong zu kommunizieren. Ich habe sie immer für eine Art psionischen Verstärker gehalten und geglaubt, dass die Dailongzhen eine telepathische Gabe brauchen, um sich mit diesen Geschöpfen zu verbinden. Aber vielleicht existiert auch ein technologischerer Aspekt.«
»Gibt es hier irgendwo eine Stelle mit einer besonders hohen Tentakelkonzentration?«, fragte Data. »Vielleicht eine Art Datenknoten?«
»Ja«, sagte Halliday. »Hinter dem Kontrollthron führt ein Tunnel zum … Nun, ich habe es mir immer als Gehirn vorgestellt.«
Halliday bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die Feiernden. Die Menge der Thanetianer ging ganz in ihrem Gesang auf, teilte sich vor der Gruppe und schloss sich hinter ihr wieder, ohne zu verstummen. Hinter dem Thron bemerkte Simon Tarses eine runde Öffnung in der Wand. Ein Ring aus muskelartigem Fleisch umgab sie, und dahinter erstreckte sich ein halbdunkler Tunnel. Der kleine Adam hatte sich nach vorn gedrängelt und zeigte keine Furcht, als er in die Dunkelheit vorausging und sich an den feuchten Wänden entlangtastete.
Im Tunnel ließen sich keine Einzelheiten mehr erkennen. »Gibt es hier kein Licht?«, fragte Adam.
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als eine bläuliche Phosphoreszenz von den Wänden ausging und der Tunnel breiter wurde. »Man könnte fast meinen, dass der Dailong dich verstanden hat!«, erwiderte Simon.
»Der Dailong scheint sich deiner menschlichen Gedanken bewusst zu sein«, sagte Data.
»Vielleicht sind es gar keine menschlichen«, erwiderte Adam. »Immerhin ist ein Teil von mir betazoidisch.«
»Teil ist der Teil, den wir hier betonen müssen«, sagte Dr. Halliday. »Und wir sind nicht hundertprozentig sicher, welcher Teil infrage kommt.« Vater und Sohn lachten.
»Hat er deshalb rudimentäre telepathische Fähigkeiten?«, fragte Data.
»Zumindest eine sehr gute Intuition«, antwortete Adams Vater.
»Seht nur!«, rief Adam. »Dort unten!«
Simons Blick fiel auf einen weiteren Zugang, von feuchtem, pulsierendem Drachenfleisch gesäumt. Der Bauch des Tiers, dachte er und erinnerte sich an die Mythen, die er gehört hatte. Die letzten Meter des Tunnels waren recht steil, und zu Simons großer Überraschung stießen sie auf eine Knochentreppe, die sogar über ein Geländer aus sehnenartigem Gewebe verfügte, für ihn ein eindeutiger Hinweis darauf, dass dieses Geschöpf von einer humanoiden Spezies erschaffen worden war.
Kurz darauf erreichten sie einen symmetrischen Raum mit einer runden Wand, aus der zahllose Tentakel ragten. Es waren zarte, faserige Stränge, von denen ein gespenstisches blaues Leuchten ausging und die sich wie Tangstreifen in einer Meeresströmung hin und her neigten.
Die Decke erwies sich als Bildschirm und war in mehrere Sektionen unterteilt, die die externe Welt jeweils aus einem anderen Blickwinkel zeigten. In der Mitte des Raums sah Simon erhöhte Plattformen. Als Data, Tormod und die anderen zu ihnen traten, tasteten weiche Fleischzungen aus den Plattformen nach ihren Händen.
»Ich glaube, das Geschöpf sucht nach einer Art Input-Output-Port«, sagte der Androide. »Vielleicht kann ich helfen.«
Data hob den einen Arm und öffnete mit der Hand des anderen ein Segment im Unterarm. Staunend beobachtete Simon, wie sich die schlangenartigen Zungen hin und her wanden, schließlich Verbindungen im Arm des Androiden fanden.
»Was nehmen Sie wahr?«, fragte Halliday.
»Ein Durcheinander aus Bilder und Datenströmen«, sagte Data leise. »Es ist zweifellos faszinierend.«
»Aber was sehen Sie?«, fragte Halliday. »Ich bin seit Monaten hier und versuche herauszufinden, was es mit dieser Welt auf sich hat, und Sie scheinen gleich am ersten Tag eine Möglichkeit entdeckt zu haben, Antworten auf alle Fragen zu finden.«
»Ich glaube, den größten Teil der Informationen kann ich der Gruppe zugänglich machen«, sagte Data.
Und plötzlich veränderte sich der Raum. Dämpfe stiegen auf – Rauch, die salzige Gischt des Meeres –, und der Boden erzitterte. Ein Schrei entrang sich Simons Kehle. Hatte der Dailongzhen die Kontrolle verloren? Kenterte der schwimmende Drache? Aber nein … Es handelte sich um eine weit vertrautere Art der Desorientierung – der Hirnraum schien sich in ein Holodeck zu verwandeln.
Und dann, von einem Augenblick zum anderen, befanden sie sich an Bord eines Langschiffs – es ähnelte dem Wikinger-Modell, das Ensign Engvig in Simons Quartier aufgestellt hatte.
Die Sonne am Himmel war blauer als die der Erde, und die in der Ferne aufragenden Berge zeigten ein dunkles, kristallenes Violett. Der salzige Geruch des Meeres hingegen wirkte sehr vertraut.
Der Bug des Schiffes wies die geschnitzte Darstellung eines Dailong-Kopfes auf. Die Farbe des Ozeans war ein wenig anders, etwas grauer. Echsenfische mit Schwänzen und Flossen sprangen aus dem Wasser.
Das Schiff ähnelte dem Skiff, mit dem sie auf Thanets Meer unterwegs gewesen waren, bestand ganz aus Holz. Ruderer sangen. Simon und die anderen Mitglieder der Landegruppe trugen nicht mehr ihre moderne Kleidung, sondern pelzbesetzte Umhänge. Simon stellte verblüfft fest, dass ein Dolch in seinem Gürtel steckte, der Griff mit hellgrünen Edelsteinen besetzt. Datas Aufmachung erinnerte an die eines Dailongzhen: Er trug einen weißen Mantel und einen priesterlichen Kopfschmuck.
»Erstaunlich«, sagte Halliday. »Wie real alles wirkt … Dies funktioniert ebenso gut wie die Technologie des Holodecks.«
»Wo sind wir?«, fragte Simon. »Und was machen wir hier?«
»Wir sind in einer Art Bibliothek«, erwiderte Data. »In einem riesigen Informationssystem. Offenbar haben diese Informationen Jahrtausende auf uns gewartet. Sie sind der Schlüssel zur wahren Geschichte von Thanet.«
»Aber warum sind wir hier, wo auch immer dies ist?«, fragte Halliday. »Dieses Meer sieht fast so aus wie das auf Thanet, aber eben nur fast. Die Sonne ist anders, und auch der Ozean sieht ein wenig anders aus.«
»In der Tat, Dr. Halliday«, bestätigt der Androide. »Wir sind hier keineswegs auf Thanet, denn Thanet ist nicht die Ursprungswelt der Thanetianer.«
Gemeinsam erlebten Data und die anderen die Geschichte, eine farbige Geschichte, die von Trauma und Blutvergießen erzählte – eine Geschichte, die ganz anders war als die alte Weisheit, die die Thanetianer ihren heiligen Schriften entnahmen …