Kapitel 17

 

Engel

 

Artas erwachte. Dies war der Tag, auf den er gewartet hatte. Er war der Schnellste und Klügste. Er hatte die vorletzte Prüfung bestanden, und es blieb nur noch eine.

Ich bin jener, der mein Volk erlösen wird, dachte er.

Taniths Sonnenschein leuchtete durch die Blenden. Artas rieb sich die Augen. Es war herrlich gestern, dachte er. Ich bin mit dem privaten Boot des Großen Shivan-Jalar gefahren. Seine Vielzahl hat mir ein Lächeln geschenkt und mir sogar ein Stück von seinem persönlichen Konfekt gegeben! Er setzte sich auf, betrachtete sein Abbild in der Spiegellache vor dem Bett und strich sich übers Haar. Er war zwölf Jahre alt und hoffte, am Ende dieses Tages einen großen Preis zu gewinnen: das Privileg, nie seinen dreizehnten Geburtstag zu erleben.

Etwas Seltsames geschah.

Die Spiegellache geriet in Bewegung, und Rauch stieg spiralförmig von ihr auf. Die reflektierende Substanz begann zu schimmern. Artas beugte sich hinab, um die Kontrollen zu betätigen.

Und plötzlich befand sich ein anderer Junge im Raum – er trat aus der Spiegellache. Er trug keinen Umhang, sondern fremde Kleidung, eine zweite Haut für jedes Bein; Stoff von der gleichen Art bedeckte den Oberkörper. Verlegen darüber, noch nicht angezogen zu sein, streifte Artas rasch seinen Umhang mit den Clanzeichen über, die alle auf seinen Status hinwiesen und Respekt von jenen verlangten, die unter ihm standen.

Die Kleidung des anderen Jungen wies keine solchen Zeichen auf.

»Was machst du hier?«, fragte Artas.

Die Lippen des Jungen bewegten sich, aber es war kein Laut zu hören. Der fremde Besucher hantierte an einem kleinen, glänzenden Gerät. Seine Finger, stellte Artas fest, wiesen keine Zwischenhäute auf.

»Ist dies die letzte Prüfung, der ich mich unterziehen muss?«, fragte er.

Keine Antwort.

»Bist du ein Geist, von meinen Rivalen geschickt?« Auch diesmal blieb eine Antwort aus. Artas wusste: Viele der Jungen, mit denen er aufgewachsen war, standen ihm jetzt feindlich gegenüber – so begehrt war die Position des großen Thanopstru.

»Endlich!«, sagte der andere Junge. »Ich habe das Problem mit der Übersetzung gelöst. Dein Dialekt ist Thanetianisch, aber es handelt sich um eine sehr alte Form. Jetzt ist das Programm angepasst.«

»Bist du ein Thanetianer?« Artas schnappte nach Luft. Wie entsetzlich: Der Feind erschien in seinem Schlafzimmer, am Tag der letzten Prüfung!

»Nein, nein. Ich bin Adam Halliday. Ich …«

Artas sprang dem fremden Jungen entgegen, schlug mit beiden Fäusten zu, so fest er konnte. Aber er traf … nichts. Der Besucher hatte keine Substanz. Artas stürzte durch ihn hindurch und prallte gegen die Wand.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Artas?«, ertönte eine Stimme. Seine Mutter.

Adam hob den Zeigefinger an die Lippen.

»Ich … ich denke schon, Mutter«, erwiderte der Junge.

»Ich komme von der Föderation«, sagte Adam.

»Du bist nur ein Traum, ein Hirngespinst. Man hat mir Träume angekündigt. So steht es im Panvivlion geschrieben, weißt du. Warum erzähle ich dir das? Wahrscheinlich hat dich das Panvivlion geschickt. Du bist eine Vision. Ja. Sollst du mich begleiten zu dem Rennen heute Nachmittag?«

»Nein, hör mir zu«, sagte Adam. »Ich bin eine Art Tourist und beobachte dich aus der Zukunft. Fünftausend Jahre trennen uns voneinander. In meiner Zeit bist du bereits der große Thanopstru geworden …«

»Ich werde das Rennen also gewinnen?« Artas konnte seine Aufregung kaum unter Kontrolle halten. »Man wird mich wählen? Alle versprechen es mir, aber …«

»Hör mir zu, Artas«, sagte Adam. »Einige Personen beobachten eure Welt durch deine Augen und die einiger anderer. Alle anderen wissen nichts von euch. Es handelt sich um eine sehr echt wirkende Computersimulation – glaube ich. Andererseits: Diese alte tanithianische Technik ist ziemlich weit entwickelt, und deshalb weiß ich nicht genau, ob das, was ich sehe, wirklich passiert oder nur in Form aufgezeichneter Daten existiert. Wie dem auch sei: Nur du kannst jemanden von uns sehen.«

»Warum bist du hier?«

»Ich weiß nicht. Etwas hat mich zu dir versetzt. Ich sitze hier auf einer Art Holodeck im Innern eines Meeresdrachens, der halb Tier und halb Maschine ist, und ich habe gesehen, was in deiner Welt geschieht, und da habe ich mir einen Kontakt mit dir gewünscht. Ich möchte nicht, dass du stirbst. In meiner Zeit bin ich mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie du in deiner. Ich habe diese starke Intuition, die alle verunsichert, nur den Androiden nicht, den ich seit ein oder zwei Tagen kenne; er lässt sich nicht so leicht verunsichern, weil er gar keine Gefühle hat. Du bist so wie ich. Und du schickst dich an, dein Leben wegzuwerfen.«

Plötzlich wusste Artas, wer der Besucher war. Er schauderte. »Du bist Saraniu«, sagte er. »Der Versucher.« Er dachte daran, seinen Bruder Indhuon zu rufen, der im angrenzenden Zimmer schlief, aber er wollte ihn nicht wecken. Auch auf Indhuon warteten wichtige Dinge.

»Denk nach, Artas!«, sagte Adam in einem drängenden Tonfall. »Ich bin ein Junge wie du, und ich weiß, was es bedeutet, anders zu sein, einsam. Wenn ich für die Föderation arbeiten würde, könnte ich gar nicht dieses Gespräch mit dir führen – dann müsste ich die Erste Direktive beachten. Dann könnte ich dir nicht von meiner Welt erzählen, von der Zukunft …«

Er sprach schon wieder in Rätseln. Dies war eine unsinnige Vision, etwas, das man bekam, wenn man zu viel Peftifescht-Wein trank.

»Verschwinde«, sagte Artas.

Von einem Augenblick zum anderen war der andere Junge nicht mehr da, und Artas betrachtete wieder sein Spiegelbild.

 

Taruna es-Sarion war den Tränen nahe – während der vergangenen Tag hatte sie oft fast geweint. Sie war natürlich stolz auf ihren Sohn, aber sie wusste auch: Bevor er ruhmvoll gen Himmel aufbrach, um den Thanetianern die letzte Rache zu bringen, musste er zuerst …

die Entvitalisierungskammer aufsuchen.

So nannten die Priester sie. Die Entvitalisierungskammer. Dort würde Artas seine Lebensfunktionen verlieren, eine nach der anderen, bis schließlich nur noch das Gehirn übrig blieb, seine Neuronen mit dem künstlichen Nervensystem des Thanopstru verbunden.

Ihr Sohn würde mehr sein als nur eine Person: der Retter der Welt.

Artas betrat den Speisebereich der kleinen Wohnung, die sich im vierhundertsten Stock des Prostituiertenviertels der Stadt befand. Wie zart und empfindsam er doch wirkte. In einer Stunde begann die letzte Prüfung. Taruna wusste, dass er den Sieg erringen würde, aber gleichzeitig hoffte sie entgegen aller Hoffnung auf eine Niederlage.

»Möchtest du etwas essen, Sohn?«, fragte sie ihn.

Ihr zweiter Sohn Indhuon schlief noch. Auch er würde wichtige Arbeit leisten müssen, wenn Artas die Position des Thanopstru errang. Er würde zu den letzten Personen zählen, mit denen Artas sprechen konnte, wenn er den Zylinder der Entvitalisierung erreichte, um dort eins zu werden mit dem Todesbringer.

Artas nickte. Taruna gab ihm dünnen Brei und zermahlenes Brot, die vorgeschriebene Morgenspeise für den Sohn einer Frau aus der Vergnügungskaste, einer Frau, die es im Leben nur dann zu etwas bringen konnte, wenn ihre Kinder Aufnahme in die Waffengilde fanden. Tarunas Aussichten waren ausgesprochen gut, wenn Artas tatsächlich den Status des Thanopstru erreichte.

So viel Schrecken und so viel Hoffnung vereinten sich in dem Jungen. Taruna widerstand der Versuchung, ihn zu umarmen und an sich zu drücken; sie wusste, dass er das heute nicht wollte. Er musste an andere, jenseitige Dinge denken, um sich auf die große Prüfung vorzubereiten.

Sie sahen sich an, Mutter und Sohn.

Und dann konnte sich Taruna einfach nicht mehr zurückhalten und schloss Artas in die Arme. Er widersetzte sich nicht, doch ein Teil von ihm blieb reserviert. Sie weinte nicht, und er ebenso wenig, aber Taruna wusste, dass sie beide gegen Tränen ankämpften.

Dann geschah es.

Als sie aus dem hohen Fenster übers Meer sah, das im Licht der beiden Sonnen funkelte, bemerkte sie einen Nebel, der sich zur Gestalt einer Frau verdichtete. Die Fremde trug eine sonderbare Uniform, wie man sie vielleicht bei einem Mann erwartete, ganz ohne Kastenzeichen – es sei denn, das sonderbare Emblem an der Brust wies auf eine Kaste hin.

Taruna wollte etwas sagen, doch die Fremde hob den Finger vor die Lippen.

»Ich bin nicht wirklich hier«, verkündete sie. »Der Junge kann mich nicht sehen. Ich bin nur eine Stimme in Ihrem Bewusstsein, eine Stimme aus der Zukunft.«

»Sind Sie ein …« Taruna zögerte, das Wort Engel zu benutzen. Engel gehörten zu einer uralten Vergangenheit. »Sind Sie eine Botin?«, fragte sie.

»Nein«, erwiderte die Fremde. »Ich bin nur hier, um zu beobachten.«

»Ein Schutzengel«, hauchte Taruna. »Ein beobachtender Schutzengel.«

»Ich wollte Sie nicht stören. Ich bin nur eine Folge von neuralen Impulsen, denen es irgendwie gelingt, durch den Subraum zu springen und Ihr Selbst zu erreichen – ich werde versuchen, mich zu verstecken. Als Sie Artas umarmten … Die Flut aus Emotionen brachte mich hierher.«

»Wer oder was sind Sie?«

»Ich bin Counselor Deanna Troi«, sagte die Fremde. Sie war auf seltsame Weise schön, mit ihren dunklen Löckchen und den Händen ohne Häute zwischen den Fingern, sicheres Zeichen dafür, dass sie nicht von dieser Welt stammte.

»Welche Kaste ist Counselor?«, fragte Taruna verwundert. »Ich verstehe nicht.«

»Sie lieben Ihren Sohn so sehr«, sagte Troi. »Hören Sie nicht auf, ihn zu lieben. Ihre Liebe ist es, die Ihren Sohn mit der Realität verbindet. Ich habe sie gefühlt, als ich im dunklen Herzen des Kometen stand und Artas sah …«

»Sie haben ihn gesehen? In einer Vision?«

»Nein, in Fleisch und Blut …« Und mit schmerzvoller Deutlichkeit sah Taruna eine Vision ihres Sohnes, wie er hinter einer transparenten Wand nackt in Nährflüssigkeit schwamm und sich im einen Auge eine Träne bildete. Maschinen umgaben ihn, kalt und tot. Zwar war ihr immer klar gewesen, was sich im Herzen eines Thanopstru befinden musste, aber sie hatte es nie mit eigenen Augen sehen können. Tiefer Kummer erfasste sie.

»Ich wünschte, ich könnte die Geschichte anhalten«, sagte die Frau, die sich Counselor nannte. »Doch in Ihrer Welt bin ich nur ein Geist ohne jede Realität.«

»Sie sind ein teuflisches Wesen, ein Versucher, das weiß ich jetzt«, erwiderte Taruna. »Behaupten Sie nicht, meinen Sohn im lebenden Tod gesehen zu haben – er schickt sich an, die Pforte des Paradieses zu durchschreiten, um uns alle zu erlösen. Er wird ein Märtyrer sein und als Engel wiedergeboren.«

»Artaschka«, flüsterte Taruna dann, an ihn gewandt, und benutzte den Babynamen. Sie hatte geglaubt, dass ihr Sohn eine Grimasse schneiden würde, aber stattdessen kehrte er in ihre Arme zurück.

»Ich möchte noch einmal das Lied hören«, sagte er.

Taruna wusste sofort, welches Lied er meinte, das Schlaflied, das sie früher jeden Abend für ihn gesungen hatte, damit er einschlief und sie aufbrechen konnte, um dem Beruf ihrer Kaste nachzugehen.

 

Schlaf, mein Kind, schlaf,

Und morgen bringe ich dir einen Kupferring,

Und übermorgen bringe ich dir eine silberne Kette,

Und am dritten Tag bringe ich dir eine Krone aus Gold.

Schlaf, mein Kind, schlaf,

Und ich hole die beiden Sonnen für deine Augen vom Himmel,

Und die zwanzig Monde für deine Finger und Zehen.

 

Bei den Göttern des Todes, sie liebte diesen Jungen.

Seine Augen waren geschlossen. Taruna fragte sich, ob er sich schlafend stellte – vielleicht sein letzter Versuch, ein Kind zu bleiben, in dem Wissen, dass er von heute an keins mehr sein würde, auch wenn er das Rennen verlor.

Oh, du bist so schön, dachte Taruna es-Sarion und fragte sich, was der Vater des Jungen machte. Natürlich durften sie keine Briefe austauschen und in der Öffentlichkeit nicht zeigen, dass sie sich wieder erkannten. Solche Dinge waren verboten zwischen jemandem, der einen so hohen Status hatte wie er, und einer schlichten Frau von der Straße.

Wenn doch nur …

 

»Counselor Troi! Counselor Troi!« Die Stimme von Dr. Crusher hallte durch Deannas Selbst. »Besinnen Sie sich endlich wieder auf die eigene Person. Ihre Lebenszeichen …«

Ja, dachte Deanna. Einen Schritt zurück. Die Welle aus empathischer Vibration hätte sie fast mitgerissen – sie war irgendwie zu einem Teil der simulierten Vergangenheit geworden. Sie fragte sich, ob die Begegnung mit der Mutter des Jungen wirklich stattgefunden hatte. An welcher Stelle ging die virtuelle Realität des Dailong in echte Geschichte über? Ich darf mich von den Emotionen nicht überwältigen lassen …

»Schon besser«, erklang erneut Beverlys Stimme. Deanna wusste nun, dass die Worte von der Enterprise kamen und Kio und sie selbst noch immer im zentralen Raum des Kometen weilten, irgendwie mit dem Geist des Jungen und jenem besonderen Moment in der Geschichte Taniths verbunden.

»Hier Troi. Es ist alles in Ordnung mit mir. Ich stelle erneut einen Kontakt her.«

»Halten Sie das für klug?«

»Ich habe einen Blick in das Herz der Frau geworfen«, sagte Deanna. »Ich möchte auch den Rest sehen.«

Sie schloss die Augen. Plötzlich stand sie auf dem großen Platz in Taniths Hauptstadt und ging zur ersten Geländerreihe, wo tausende von Tanithianern standen und Sprechchöre anstimmten.