Einführung

Wir werden alle getrieben von unseren Ängsten und Sehnsüchten, und nicht selten sind wir sogar ihre Sklaven. Benjamin Rush, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, gab im Jahr 1786 den Anstoß zu dem Trend, derartigen Fixierungen Namen zu geben. Bis dahin war der Begriff »Phobie« (abgeleitet von Phobos, dem griechischen Gott der Furcht und panischen Angst) eher für Symptome einer körperlichen Erkrankung geläufig gewesen und »Manie« (nach dem griechischen Wort für Wahnsinn, Raserei) zur Beschreibung von Modetrends. Rush gab beiden eine neue Ausrichtung als psychologische Phänomene. »Ich werde Phobie definieren als die Angst vor einem eingebildeten Übel«, erläuterte er, »beziehungsweise als die unverhältnismäßige Angst vor einem tatsächlichen.« Er listete 18 Phobien auf, darunter die extreme Angst vor Schmutz, vor Geistern, Ärzten und Ratten, sowie 26 neue Manien wie etwa die »Spiel-Manie«, die »Militär-Manie« oder die »Freiheits-Manie«. Rush schlug noch einen eher heiteren Ton an – so erklärte er beispielsweise, dass die »Heim-Phobie« bevorzugt Herren befalle, die den Zwang verspürten, nach der Arbeit in der Taverne Halt zu machen – doch im Lauf des folgenden Jahrhunderts entwickelten Psychiater ein deutlich komplexeres Verständnis derartiger Eigenarten. Heute gelten Phobien und Manien als spektakuläre Spuren unseres evolutionären und persönlichen Werdegangs, Manifestationen verborgener tierischer Instinkte und unterdrückter Sehnsüchte.

illustration from Meyers Konversations-Lexikon 1897

Zu Rushs Liste gesellten sich im frühen 19. Jahrhundert noch eine Reihe weiterer Manien sowie zahlreiche Phobien und Manien gegen Ende des Jahrhunderts. Unter den Phobien waren irrationale Ängste vor öffentlichen Plätzen und engen Räumen, vor Erröten und Lebendig-Begrabenwerden (Agoraphobie, Klaustrophobie, Erythrophobie, Taphephobie). Zu den Manien gehörten der Zwang zu tanzen, umherzuirren, zu zählen und sich Haare auszureißen (Choreomanie, Dromomanie, Arithmomanie, Trichotillomanie). Seither sind wir ständig weiteren Angststörungen auf die Spur gekommen: der Nomophobie (Angst, ohne Handy dazustehen), der Bambakomallophobie (Ekel vor Watte), der Coulrophobie (Horror vor Clowns), der Trypophobie (Aversion gegen gehäuft auftretende Löcher). Viele haben mehr als einen Namen. So wird beispielsweise die Angst vorm Fliegen in diesem Buch als Aerophobie bezeichnet, doch ist sie auch als Aviophobie, Pteromerhanophobie und treffender als Flugangst bekannt.

Alle Phobien und Manien sind gesellschaftliche Phänomene. Der Zeitpunkt, an dem sie jeweils ermittelt – oder erfunden – wurden, markierte einen Wandel in unserem Selbstverständnis. Einige der hier genannten beruhen überhaupt nicht auf psychiatrischen Diagnosen, mit ihnen werden Vorurteile auf den Punkt gebracht (Homophobie, Xenophobie), Modeerscheinungen oder Marotten auf die Schippe genommen (Beatlemania, Tulpenmanie) oder einfach nur Scherze gemacht (Eibohphobie, Hippopotomonstrosesquippedaliophobie, die vermeintliche Furcht vor Palindromen beziehungsweise langen Wörtern). Doch die meisten Einträge in diesem Buch beziehen sich auf echte und nicht selten auch qualvolle Leiden. Phobien und Manien offenbaren unsere Seelenlandschaft – wovor wir zurückschrecken oder worauf wir zuschlittern, was uns nicht aus dem Kopf geht. Insgesamt gesehen sind sie die am weitesten verbreiteten Angststörungen unserer Zeit.

»Die Phobie spezifiziert die Angststörung«, erläutert der Literaturwissenschaftler David Trotter, »bis zu dem Punkt, an dem sie in ihrer Besonderheit erfasst und damit bekämpft oder umschifft werden kann.« Auch eine Manie kann eine Vielzahl von Ängsten und Sehnsüchten bündeln. Diese heimlichen Obsessionen sind die Verrücktheiten der geistig Gesunden, möglicherweise die Verrücktheiten, die uns bei Verstand halten, indem sie unsere Ängste und Vorlieben kristallisieren und uns erlauben, weiterzumachen, als ergebe alles andere einen Sinn.

Um als Phobie diagnostiziert zu werden, muss eine Furcht dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen 5 (2013) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft zufolge exzessiv und unangemessen sein und bereits sechs Monate oder länger andauern, und sie muss die betroffene Person dazu bewogen haben, die gefürchtete Situation oder das gefürchtete Objekt auf eine Weise zu meiden, die ihr gewohntes Verhalten beeinträchtigt. Das DSM-5 unterscheidet soziale Phobien, also übermächtige Ängste vor gesellschaftlichen Situationen, von spezifischen Phobien, die wiederum in fünf Typen unterteilt werden: Tierphobien; Umweltphobien (Angst vor Höhen beispielsweise oder vor Wasser); Blut-, Injektions-, Verletzungsphobien; situative Phobien (etwa vor Eingeschlossensein in engen Räumen) sowie andere extreme Ängste wie die Furcht vor Erbrechen, Ersticken oder vor Geräuschen.

Zwar sprechen spezifische Phobien in der Regel besser als alle anderen Angststörungen auf Behandlungen an, doch machen die meisten Menschen sie gar nicht erst publik, sondern meiden einfach nur das, was ihnen Angst macht. Es wird vermutet, dass sich nur einer von acht Menschen mit einer derartigen Phobie Hilfe sucht. Das macht genauere Aussagen über den Verbreitungsgrad schwierig. Doch ermittelte 2018 eine Analyse in The Lancet Psychiatry, die 25 zwischen 1984 und 2014 durchgeführte Studien auswertete, dass 7,2 Prozent der Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann in ihrem Leben einmal unter einer spezifischen Phobie leiden. Eine 2017 von der Weltgesundheitsorganisation durchgeführte Studie, die auf Datenmaterial aus 22 Ländern zurückgreifen konnte, kam zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Die genannten Untersuchungen deuteten zudem darauf hin, dass spezifische Phobien weitaus häufiger bei Kindern auftreten als bei Erwachsenen, dass sich die Rate bei älteren Menschen halbiert und dass Frauen doppelt so anfällig für Phobien sind wie Männer. Im Klartext heißt das, dass im Durchschnitt eine von zehn Frauen unter einer spezifischen Phobie leidet und einer von zwanzig Männern. Nationale Erhebungen lassen darauf schließen, dass sieben Prozent der Amerikaner und zwölf Prozent der Briten eine soziale Phobie haben.

Diese Zahlen beziehen sich auf phobische Störungen, die das Alltagsleben deutlich beeinträchtigen. Viele von uns haben mildere Aversionen oder Ängste, die wir gern mal als Phobien bezeichnen: eine starke Abneigung gegen öffentliche Auftritte etwa oder gegen Besuche beim Zahnarzt, Donnergrollen oder den Anblick von Spinnen. In den USA geben über siebzig Prozent der Menschen zu, dass sie unverhältnismäßige Ängste haben. Als ich mit den Recherchen zu diesem Buch anfing, glaubte ich nicht, unter irgendwelchen Phobien zu leiden – abgesehen vielleicht von meiner Angst als Teenager vor dem Erröten und einem anhaltenden Unbehagen, was das Fliegen angeht, – doch bis ich fertig war, hatte ich mich in so gut wie alle hineingesteigert. Manche Schrecken braucht man sich nur vorzustellen, und schon verspürt man sie am eigenen Leib.

Über die Gründe für diese Zustände gehen die Meinungen weit auseinander. Phobien vor bestimmten Gegenständen, Worten oder Zahlen können daherkommen wie uralter Aberglaube oder heidnische Überlieferungen. Der amerikanische Psychologe Granville Stanley Hall, der 1914 in einer Abhandlung 132 Phobien auflistete, stellte fest, dass manche Kinder nach einem Schock eine zwanghafte Furcht entwickelten. Schock, so bilanzierte er, sei »ein Mutterboden für Phobien«. Sigmund Freud, der in zwei berühmten Studien von 1909 phobische Symptome analysierte, definierte eine Phobie als auf ein äußeres Objekt verlagerte unterdrückte Angst, sowohl Ausdruck von Unbehagen als auch Abwehr dagegen. »Vor einer äußeren Gefahr kann man sich durch die Flucht retten«, erklärte er, »der Fluchtversuch vor einer inneren Gefahr ist ein schwieriges Unternehmen.«

Evolutionspsychologen vertreten die These, viele Phobien seien adaptiv: Unsere Ängste vor Höhen und vor Schlangen sind in unser Gehirn eingeimpft, um zu verhindern, dass wir von hoch oben herunterfallen oder von einer Schlange gebissen werden. Unser Ekel vor Ratten und Schnecken schützt uns vor Krankheiten. Phobien dieser Art könnten Teil unseres evolutionären Erbes sein, »biologisch vorgeprägte« Ängste, darauf ausgelegt, uns vor Gefahren von außen zu bewahren. Eine phobische Reaktion kommt tatsächlich daher wie ein instinktiver Reflex. Wenn wir ein bedrohliches Objekt oder eine bedrohliche Situation erkannt haben, setzt unser primitives Gehirn chemische Botenstoffe frei, die uns helfen, uns zu wehren oder zu fliehen, und unsere körperlichen Reaktionen – ein Schaudern oder ein Zurückzucken, ein Schweißausbruch oder Übelkeit – scheinen die Kontrolle zu übernehmen.

Die Evolution könnte uns auch eine Erklärung dafür liefern, warum Frauen überproportional unter Phobien leiden, vor allem in den Jahren, in denen sie gebärfähig sind. Ihre erhöhte Vorsicht schützt nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Nachkommen. Doch könnten Phobien auch deshalb häufiger bei Frauen auftreten, weil das gesellschaftliche Umfeld ihnen gegenüber feindlicher gesonnen ist – sie haben also mehr Grund, sich zu fürchten, – oder weil ihre Ängste öfter als irrational abgetan werden. Die evolutionäre Beschreibung der Phobie stützt sich auf post-hoc-Folgerungen, und sie erklärt auch nicht alle Phobien, ebenso wenig wie die Frage, warum manche Menschen unter Phobien leiden und andere nicht. Im Jahr 1919 führten die Verhaltensforscher James Broadus Watson und Rosalie Rayner ein Experiment durch, mit dem sie beweisen wollten, dass Phobien durch Konditionierung herbeigeführt werden können. In den 1960er Jahren wies Albert Bandura nach, dass ein Mensch eine Phobie auch erlernen kann, indem er unmittelbar der Furchtsamkeit und den irrationalen Ängsten anderer, zum Beispiel der Eltern, ausgesetzt ist. In Familien wird Angst ebenso durch Vorleben weitergegeben wie durch die Gene. Selbst wenn wir eine Veranlagung für bestimmte Ängste besitzen, müssen sie durch Erfahrung oder Anerziehung ausgelöst werden.

Geht man bei einer Phobie von einem Drang aus, etwas zu meiden, so liegt einer Manie eher der Drang zugrunde, etwas zu tun. Der bedeutende französische Psychiater Jean-Étienne Esquirol entwickelte zu Anfang des 19. Jahrhunderts das Konzept der Monomanie beziehungsweise der spezifischen Manie, während sein Landsmann Pierre Janet feinfühlige und sorgsame Fallstudien über die Männer und Frauen verfasste, die er um die Wende zum 20. Jahrhundert wegen solcher Leiden behandelte. Bei den meisten in diesem Buch beschriebenen Manien handelt es sich um zwanghaftes Verhalten, das sich auf einen Gegenstand, eine Handlung oder eine Idee richtet: Haare-Ausreißen beispielsweise oder Horten. Die Verbreitung solcher Manien ist schwer einzuschätzen, unter anderem deswegen, weil die moderne Medizin viele davon unterschiedlichen Kategorien wie Sucht, Zwangsstörung, körperbezogene repetitive Verhaltensweise, Impulskontrollstörung oder Borderline-Persönlichkeitsstörung zugeordnet hat. Wie Phobien werden auch sie entweder auf ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn zurückgeführt oder auf problematische oder verbotene Gefühle. Häufig bauschen sie normale Wünsche oder Gelüste auf, etwa zu lachen, zu schreien, Dinge zu kaufen, Dinge zu stehlen, zu lügen, ein Feuer zu entzünden, Sex zu haben, sich zu berauschen, an Schorf zu kratzen, sich seinem Kummer hinzugeben oder sich bewundern zu lassen.

Neben den individuellen Trieben führt dieses Buch auch einige kollektive Manien auf, bei denen Menschen miteinander getanzt, gekichert, gezittert oder geschrien haben. So erfasste in den 1860er Jahren ein Ausbruch von Dämonomanie die französische Alpengemeinde Morzine, und in den 1960er Jahren brach an einem See in Tansania plötzlich wildes Gelächter aus. Solche gemeinschaftlichen Anfälle können den Eindruck kleiner Rebellionen erwecken, bei denen uneingestandene Gefühle an die Oberfläche drängen, und unter Umständen können sie uns auch zu einem Umdenken über unser Verständnis von rationalem Handeln bewegen. Wenn wir entscheiden, dass ein bestimmtes Verhalten manisch oder phobisch ist, stecken wir ebenso unsere kulturellen wie unsere psychologischen Grenzen ab. Wir geben den Überzeugungen Ausdruck, auf denen unser gesellschaftliches Miteinander aufgebaut ist. Diese Grenzen verschieben sich mit der Zeit, und in einer Phase der kollektiven Krise – einem Krieg oder einer Pandemie – können sie sich sehr schnell verändern.

Eine Phobie oder eine Manie wirkt wie ein Zauber. Sie versieht einen Gegenstand oder eine Handlung mit einer geheimnisvollen Bedeutung und gibt ihnen die Macht, uns in Besitz zu nehmen und zu verwandeln. Diese Zustände können durchaus bedrückend sein, doch sie verzaubern die Welt um uns herum auch und machen sie so schaurig und lebendig wie ein Märchenland. Sie haben uns buchstäblich fest im Griff, wie mit Zauberhand, und offenbaren damit unsere eigene Wunderlichkeit.

Brehms Thierleben (animal life). General customer of the Thierreich. Fourth Abbot Healing - Vertebral Seal Thiere. Leipzig Verlag,1884.