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Choreomanie

Im Jahr 1374 breitete sich entlang des Rheins und in den umliegenden Gebiete eine Epidemie aus. Die Betroffenen erfüllte eine »Tanzwuth«, wie man sie noch nicht erlebt hatte. In Aachen sah man »Schaaren von Männern und Frauen aus Deutschland ankommen, die vereint durch gemeinsamen Wahn, in den Straßen und in den Kirchen dem Volke dies sonderbare Schauspiel gewährten. Hand in Hand schlossen sie Kreise, und ihrer Sinne anscheinend nicht mächtig, tanzten sie stundenlang in wilder Raserei, ohne Scheu vor den Umstehenden, bis sie erschöpft niederfielen«, schrieb der Arzt Justus Friedrich Hecker in seinem Band über Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters von 1865. Bei seinen Beschreibungen stützte sich Hecker auf die lateinischen Berichte des Mönchs Petri de Herentals von 1693. Wenn die Tanzenden(1) vor Erschöpfung zusammenbrachen, »dann klagten sie über große Beklemmung und ächzten, als stände ihnen der Tod bevor, bis man ihnen den Unterleib mit Tüchern zusammenschnürte«. Einige starben sogar an den Folgen ihrer Verausgabung. Diejenigen, die wieder zu sich kamen, berichteten von Erscheinungen während des Tanzens; manche sagten aus, »sie wären sich so vorgekommen, wie in einen Strom von Blut getaucht, und hätten deshalb so hoch springen müssen«. Ausbrüche dieser Tanzwut traten bis Ende Oktober auf. Später bezeichnete man diese krankhafte Tanzlust als Choreomanie (vom griechischen Wort khoros, das eine Gruppe von Sängern und Tänzern beschreibt).

Vintage engraving of a Young couple dancing the Sauteuse, a leaping waltz commonly done in 2/4 rather than 3/4 time.

In Straßburg ereignete sich 1518 eine der bekanntesten Choreomanien. Am 14. Juli fing eine Madame Troffea an, auf offener Straße zu tanzen. Am Ende der Woche hatten sich ihr bereits 34 Bürger angeschlossen, am Monatsende waren es sogar 400. Anfangs versuchte die Stadtverwaltung den Ausbruch unter Kontrolle zu bekommen, indem sie den Tanzenden Hallen und Plätze zur Verfügung stellte und sie sogar mit Musik begleitete. Allerdings verschlimmerten diese Maßnahmen das Phänomen nur noch. Dutzende Menschen brachen zusammen, und einige starben sogar an Herzinfarkten oder Schlaganfällen, bis die Tanzwut schließlich am 10. August endete.

Solche Tanzausbrüche faszinieren Historiker bis heute. Hecker beschrieb sie als emotional ansteckend. Es handle sich um eine morbide Sympathie, der Anblick von Tanzenden verleite die Menschen zum Mittanzen. Er ging davon aus, dass der Schwarze Tod eine der Ursachen für die Ausbrüche von Tanzwut darstellte. Zwischen 1347 und 1351 hatte die Pest die Hälfte der europäischen Bevölkerung dahingerafft und viele der Überlebenden in tiefer Verzweiflung zurückgelassen. Einige von ihnen machten ihrer Angst und Trauer im Tanz Luft. Später führte John Waller Heckers Überlegungen weiter. Waller geht davon aus, dass die Tanzepidemien psychogene Massenerkrankungen waren, hervorgerufen durch Angst und verbreitet durch Nachahmung. Er stellte fest, dass die dramatischen Ausbrüche in der Regel auf einschneidende Ereignisse folgten, die der Bevölkerung das Leben erschwerten: 1373 und 1374 trat der Rhein über die Ufer und überflutete Straßen und Häuser, in den Jahrzehnten vor der Tanzwut litten die Straßburger unter Hunger, Krankheiten und schrecklicher Kälte. Für Kélina Gotman sind diese Epidemien ein Symptom sozialer Umwälzungen, Ausbrüche des Primitiven und des Exzesses. Wilde Tänzer, so Gotman, treten immer dann in Erscheinung, »wenn es in einer Zivilisation zu einem Bruch kommt, einem Riss, einer Öffnung, aus der sie herauszuquellen scheinen«.

Eine weitere Theorie besagt, dass das fieberhafte Tanzen entlang des Rheins gar kein Tanz war. Vielmehr litten die Betroffenen unter wahnhaften Zuckungen und Krämpfen, hervorgerufen durch eine Mutterkornvergiftung. Übeltäter soll der psychotropische Stoff Ergotamin gewesen sein, der in einem Pilz enthalten ist, welcher sich auf feuchtem Roggen bilden kann. Eine Überflutung habe den Roggen auf den Feldern schimmeln lassen und damit das Brot vergiftet. Dagegen vermutet der Soziologe Robert Bartholomew, dass die Choreomanien durch Pilger aus Ungarn, Polen und Böhmen ausgelöst wurden. Für die Reisenden war der Tanz eine Form des Gebets, und die Anwohner schlossen sich diesen Gruppen an. Bartholomew zitiert den französischen Chronisten Jean d’Outremeuse, der am 11. September 1374 die Ankunft einer solchen Gruppe beschreibt: »Aus dem Norden bis nach Liège [Lüttich] kam eine Gruppe von Personen, die ununterbrochen tanzte. Alle waren an ihrer Kleidung zusammengebunden und sie hüpften und sprangen […] Sie riefen laut Johannes den Täufer an und klatschten fieberhaft in die Hände.«

Bartholomew weist darauf hin, dass Tanz im Mittelalter als ein Akt der Sühne fungieren konnte. Der königliche Beamte Gerald de Barri beschrieb im Sommer 1188 ein Ritual, dem er in einer Kirche in Wales beiwohnte: Männer und Frauen tanzten am Schrein von St. Almedha, anschließend »tanzten sie singend über den Kirchhof, fielen plötzlich, wie in Trance, zu Boden und sprangen wie rasend wieder auf«. Im Tanz mimten sie ihre Sünden, wie sie beispielsweise an einem Feiertag gepflügt oder ein Paar Schuhe hergestellt hatten. Man geleitete sie zurück zum Altar, wo die Tanzenden »plötzlich aufwachten und wieder zu sich kamen«. Ihr entrücktes Tanzen galt als spiritueller Zustand, durch den sie ihre eigenen Verfehlungen erkennen und um Absolution bitten konnten.

Siehe auch: Beatlemanie, Dämonomanie, Lachmanie

Coulrophobie

Die Herkunft des Wortes Coulrophobie lässt sich nicht ganz eindeutig nachweisen. Es bezeichnet eine krankhafte Angst vor Clowns(1) und wurde wahrscheinlich irgendwann in den 1980er oder 1990er Jahren gebildet. »Coulro« könnte aus dem byzantinischen Griechisch stammen, wo kōlobathristes einen Stelzenläufer bezeichnete. Vielleicht ist es aber auch eine Verformung des modernen griechischen Worts für Clown klooun – welches seinerseits dem Englischen entstammt. So unklar die Begriffsherkunft sein mag, so einfach sind die Ereignisse zu identifizieren, auf welche die Bezeichnung zurückgeht.

Im Amerika der 1960er und 1970er Jahre erfreuten sich Clowns großer Beliebtheit. Die bekanntesten waren der Fernsehstar Bozo mit seinen weit abstehenden roten Haarbüscheln, seiner roten Nase, dem extravaganten aufgemalten Lächeln und den in permanentem Staunen erhobenen Augenbrauen, und der ebenso rothaarige und weiß geschminkte Ronald McDonald, Maskottchen von McDonald’s. Bozo und Ronald ließen sich sehr einfach nachahmen, schließlich konnte jeder eine dicke Schicht Schminke auftragen, eine Perücke aufsetzen und im Lokalfernsehen als Bozo auftreten oder in einem Burgerladen als Ronald den Kindern ihre Burger servieren.

In den späten 1970er Jahren wurde der uneingeschränkt positive Ruf von Clowns nachhaltig geschädigt. Grund war die Verhaftung von John Wayne Gacy, der 33 junge Männer und Jungen ermordet hatte. Gacy, eigentlich ein Geschäftsmann aus Illinois, der in einem Vorort von Chicago wohnte, war jahrelang als der Clown Pogo auf Kindergeburtstagen und lokalen Wohltätigkeitsveranstaltungen aufgetreten. In den Zeitungen tauchte ein Foto auf, das ihn in seinem Clownskostüm zeigte: Ein untersetzter Mann in einem rot-weiß-gestreiften Anzug mit Halskrause winkte mit einer behandschuhten Hand in die Kamera, während die andere ein paar Luftballons hielt. Auf seinem kreideweißen Gesicht prangte ein riesiges rotes Lächeln. »Wenn ein Clown etwas tut, dann wird das von niemandem hinterfragt«, soll Gacy nach seiner Festnahme gesagt haben. »Meine Fresse, Clowns können Weibern am Manegenrand die Titten begrapschen und die Frauen kichern nur dabei. Clowns können sogar töten und es interessiert keinen.« Im Jahr 1980 wurde Gacy zum Tode verurteilt. Plötzlich war das weiße Gesicht eines Clowns mit seinem starren Grinsen unheimlich geworden, eine aufgemalte Maske, hinter der sich alles Mögliche verbergen konnte: ein verrückter Kindesentführer, ein Mörder oder ein Sexualstraftäter. Aus dem einfältigen Lächeln war ein anzügliches Grinsen geworden, das jeder Unschuld spottete.

In Boston, Massachusetts, häuften sich 1981 die Fälle von Clowns, die Kinder auf offener Straße angriffen. Dies ging so weit, dass der Leiter der Schulbehörde sich gezwungen sah, entsprechende Anweisungen an alle Lehrer herauszugeben: »Die Polizei und das Bezirksamt wurden darüber informiert, dass Kinder auf dem Schulweg von Erwachsenen in Clownskostümen belästigt wurden. Bitte weisen Sie Ihre Schüler darauf hin, dass sie sich von Fremden fernhalten sollen, besonders wenn sie als Clowns verkleidet sind.« Sobald die Presse darüber berichtete, tauchten solche »Stalker-Clowns« auch im benachbarten Brookline auf, später in Providence, Rhode Island, dann in Kansas City, in Omaha, Nebraska und in Colorado. Die Angst vor Clowns war zu einer Massenphobie geworden, vor allem unter Kindern wuchs sie sich zu einer Art Massenhysterie aus.

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Mit der Veröffentlichung von Stephen Kings Bestseller Es (1986) war die Vorstellung von Clowns als gefährlichen Wesen endgültig besiegelt. Der furchteinflößende übernatürliche Pennywise trat als Clown in Erscheinung, war aber eigentlich eine bösartige Entität, die einem Kind als das erschien, was es am meisten fürchtete. Hinter Pennywises starrem Grinsen lauerten unsägliche Schrecken. Als Kings Roman 1990 für das Fernsehen verfilmt wurde, nahmen die Sichtungen von falschen Clowns schlagartig zu. Ein Jahr später ging das Gerücht um, ein Clown fahre in einem Eiswagen durch Schottland und locke Kinder an, um sie dann zu zerstückeln. Ein Mädchen wollte sogar gehört haben, dass der Clown Spuren beseitigte, indem er das Blut seiner Opfer anstelle von Himbeersoße zur Eiscreme servierte.

Der Schauspieler Johnny Depp gab 1999 zu, dass er sich schon seit Langem vor Clowns fürchtete. »Mir schien es schon immer so, als ob da etwas Dunkles unter der Oberfläche lauerte, etwas grundsätzlich Böses«, erklärte er dem San Francisco Examiner. »Ich glaube, ich habe Angst vor ihnen, weil man – wegen des aufgemalten Lachens – nicht sicher sein kann, ob sie fröhlich sind oder ob sie sich gleich auf einen stürzen.«

In einem Krankenhaus in Sheffield befragte man im Jahr 2008 250 Kinder, wie die Wände einer Krankenstation neu dekoriert werden sollten. Keines von ihnen wollte Clowns an den Wänden. »Wir haben herausgefunden, dass Kinder im Allgemeinen keine Clowns mögen«, sagte ein Forscher an der Universität in Sheffield. Eine solche Allgemeinaussage ärgerte selbstverständlich die Vereinigung der Krankenhausclowns. Im Jahr 2020 stellte sich die Empörung als teilweise gerechtfertigt heraus, als eine Analyse von 124 Studien in amerikanischen Krankenhäusern im British Medical Journal erschien. Sie hatte ergeben, dass Kinder, die von Ärzten im Clownskostüm behandelt wurden, weniger unter Müdigkeit, Schmerzen oder Kummer litten als andere. Eine Sprecherin des Royal College of Paediatrics formulierte es diplomatisch: »Einige freuen sich vielleicht sehr, wenn sie einen [Clown] auf der Station entdecken, andere fürchten sich vielleicht.«

Clowns, Narren und Gaukler locken uns seit Jahrhunderten aus der Reserve. Es ist ihre erklärte Aufgabe, Unheil anzurichten, schon immer haben sie die sozialen Normen unterwandert, und der Gedanke, dass sich hinter den grellen Masken und Kostümen etwas Dunkles verbarg, ließ sich nie ganz abschütteln. Als Joseph Grimaldi, vielleicht einer der bekanntesten Clowns schlechthin, 1837 starb, zeigte sich erst, was für ein gebeutelter Mann hinter der Clownsfigur gesteckt hatte. In seinen Memoiren – überarbeitet von Charles Dickens – stehen Grimaldis grandiose Bühnenauftritte in starkem Kontrast zu seinen ganz privaten Qualen: Alkoholismus, chronische Schmerzen und die Trauer um den verstorbenen Sohn. Grimaldis französischer Kollege Jean-Gaspard Deburau – Erfinder des modernen Pierrot – war so aufbrausend, dass er 1836 einen Jungen auf offener Straße mit einem einzigen Schlag tötete, nachdem der ihn verspottet hatte.

Der französische Autor Edmond de Goncourt schrieb 1876, die Clownerie wirke mittlerweile erschreckend und wecke »Ängste und Befürchtungen«: Die heftigen und verzweifelten Bewegungen eines Clowns erinnerten »an den Innenhof eines Irrenhauses«. In der Oper Pagliacci (1892) von Ruggero Leoncavallo ermordet der Clown Canio in einem Anfall von Eifersucht seine untreue Ehefrau.

Im 20. Jahrhundert wurde dann aus dem leidenden der herzlose Clown. Großen Einfluss hatte dabei Batmans Erzfeind, der Joker, der erstmals 1940 in einem Comic von DC auftauchte. In den Fernsehserien der 1960er Jahre spielte er noch witzige Streiche, bis ihn Jack Nicholson 1989 im Spielfilm Batman zum nihilistischen Psychopathen machte; Heath Ledger in The Dark Knight (2008) und Joaquin Phoenix in Joker (2019) taten es ihm gleich. Die Figuren, die uns heutzutage beunruhigen, scheinen weniger durch ihren eigenen Schmerz definiert als durch ihre Unfähigkeit, überhaupt etwas zu fühlen.

Siehe auch: Pediophobie