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Lachmanie

In den 1960er Jahren wurden mehrere Wellen von wildem, lange anhaltendem Gelächter unter afrikanischen Schulkindern bekannt. Wie Robert Bartholomew und Bob Rickard in ihrem 2013 erschienenen Buch Mass Hysteria in Schools berichten, fand der erste Ausbruch der Epidemie, von dem man weiß, im Januar 1962 an einer christlichen Missionsschule in Tanganjika, wie Tansania damals noch hieß, statt. Drei Mädchen in einem Internat in Kashasha am Viktoriasee fingen unkontrolliert an zu lachen, dann weinten sie, bevor das Lachen(1) wieder einsetzte. Die Anfälle schienen ansteckend zu sein: Mehrere Klassenkameradinnen stimmten ein, und mit jedem Tag wurden es mehr. Einige der Kinder wurden unruhig und gewalttätig. Sie liefen auf dem Gelände herum und behaupteten, sie würden gejagt. Andere klagten über Dinge, die ihnen in ihren Köpfen zu schaffen machten.

Die endwara ya Kucheka (Lachplage) nahm derartige Ausmaße an, dass man im März die Schule schloss und die Mädchen zur Genesung nach Hause in ihre Dörfer schickte. Es schien ihnen auch bald besser zu gehen, doch als die Schule im Mai wieder aufmachte, gingen die Kicher- und Weinanfälle von Neuem los. Während der folgenden 18 Monate wurden in der Region über tausend Kinder Opfer des manischen Gelächters, das häufig von Weinen und Umherlaufen begleitet wurde. Ein Untersuchungsteam führte Tests auf Lebensmittelvergiftung und Virusinfektionen durch, fand aber keine Belege dafür. Die Eltern der Mädchen glaubten, die Geister ihrer Vorfahren seien womöglich in sie gefahren.

Das irre Lachen trat erneut im Jahr 1966 auf. Jetzt mussten zwei Schulen am Viktoriasee schließen. »Es verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter Schulkindern, vor allem Mädchen«, erklärte ein Beamter des Gesundheitsministeriums gegenüber der New York Times. »Ein Mädchen schüttet sich aus vor Lachen, und alle anderen tun es ihr gleich. Niemand kann sie stoppen, und die einzige Lösung ist, sie für ein paar Wochen zu trennen.« Im folgenden Jahrzehnt wurden weitere Fälle aus Uganda, Sambia und dem nördlichen Botswana gemeldet.

Psychogene Wellen dieser Art sind unter Schulkindern, insbesondere unter jungen Mädchen, spätestens seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Sie scheinen sich über einen Prozess der unbewussten Nachahmung auszubreiten. Dutzende von Mädchen fingen in den Jahren 1893 und 1904 an Schulen in Basel und 1905 und 1906 in Meißen unvermittelt an zu zittern. An einer weiterführenden Schule in Blackburn, Lancashire, wurden 1965 85 Mädchen mit einer rätselhaften Krankheit, die sich in Ohnmachtsanfällen und Krämpfen niederschlug, ins Krankenhaus eingeliefert. In einem Ferienlager in Thailand litten 2001 etwa hundert Schüler plötzlich unter Atemnot, nachdem sie glaubten, Geister gesehen zu haben. 2011 verlautete aus Le Roy, New York, dass eine Mädchenclique im Teenageralter angefangen hatte, sich zu winden und zu krümmen, und 2014 fiel eine Gruppe junger Leute in Kolumbien nach krampfartigen Zuckungen in Ohnmacht.

Diese Gruppenmanien, so das Fazit der Neurologin Suzanne O’Sullivan, lassen erkennen, dass Krankheiten neben der biologischen und der psychologischen auch eine soziale Komponente besitzen. »Manchmal«, so erläutert sie, »sind die Ärzte so sehr damit beschäftigt, den Leuten in die Köpfe zu schauen, dass sie die sozialen Faktoren bei der Entstehung einer Krankheit außer Acht lassen. Oder, was noch wahrscheinlicher ist, sie haben Angst davor, das soziale Umfeld ihrer Patienten genau unter die Lupe zu leben, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sie würden die Person selbst, ihre Familie oder ihre Gemeinschaft für die Krankheit verantwortlich machen.« O’Sullivan verweist darauf, dass halbwüchsige Schüler besonders anfällig für »soziale Ansteckung« sind und dass mediale Aufmerksamkeit häufig als weiterer Infektionsherd dient und zur Verbreitung und Verlängerung einer Epidemie beiträgt. Nachdem sie durch die ganze Welt gereist ist, um das Phänomen der Massenmanie zu studieren, fragt sie sich heute, ob es »nicht vielleicht falsch war, auf das Erlöschen solcher Störungen zu hoffen. Für viele der Menschen, denen ich begegnet bin, erfüllte die psychosomatische Erkrankung einen entscheidenden Zweck […] Manchmal ist ein Durchspielen oder Durchleben von Problemen leichter zu handhaben beziehungsweise praktischer, als sie in Worte zu fassen.« Sie ermahnt uns, den Geschichten, die dieses unfreiwillige Verhalten erzählt, mehr Beachtung zu schenken.

Nach einer Theorie des tansanischen Kinderarztes G. J. Ebrahim brach sich in der Lachkrankheit im Zentral- und Ostafrika der 1960er Jahre eine latente Angst vor gesellschaftlichem Wandel Bahn. Zu Hause waren die Kinder eingebettet in ein traditionsreiches, konservatives Stammesethos, während sie in den Missionsschulen Ideen ausgesetzt wurden, die die Überzeugungen ihrer Eltern und Großeltern infrage stellten. Gleichzeitig zwangen die Behörden viele Familien, von ihren kleinen Gehöften weg in neue, am Reißbrett entworfene Dörfer im städtischen Umfeld zu ziehen. Sie wurden vom Land ihrer Vorfahren vertrieben, von den Gräbern ihrer Ahnen und dem Schutz der Geister. Hineingezogen in diese gesellschaftlichen Umwälzungen und auch in die physiologischen und seelischen Umwälzungen der Pubertät, konnten die Jugendlichen nur noch weglaufen, schreien und lachen.

Siehe auch: Beatlemania, Choreomanie, Dämonomanie, Kajakphobie

Lypemanie

Lypemanen, schrieb Jean-Étienne Esquirol 1838, seien Opfer pathologischer Schwermut, einer überwältigenden Traurigkeit(1), ähnlich dem Gemütszustand, den Benjamin Rush »Tristimanie« nannte. Auch wenn sich Esquirols Bezeichnung nicht durchsetzte, schuf seine Analyse des Krankheitsbildes die Basis für unser heutiges Verständnis einer klinischen Depression. Unter seinen Fallstudien war die einer »Mademoiselle W.«, die im Jahr 1804 im Alter von 16 Jahren nach dem Tod des Duc d’Enghien in eine tiefe Melancholie versank. Napoleon Bonaparte hatte die Ermordung des Herzogs angeordnet, weil er ihn der Verschwörung zum Umsturz der Regierung verdächtigte. Als Mademoiselle W. von der Ermordung erfuhr, ergraute mit einem Schlag ihr üppiges Haar, und ihre großen blauen Augen wurden glasig. Sie sprach kein Wort mehr und wurde aus ihrem Zuhause im Schloss Chantilly in die Heilanstalt Salpêtrière in Paris gebracht. Dort saß sie mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett, die Ellbogen auf den Knien und das Kinn auf der rechten Hand ruhend, murmelte vor sich hin und starrte aus dem Fenster.

Esquirol benannte die Lypemanie nach Lype, die in der griechischen Mythologie die Personifikation des seelischen Leids ist. Sie war die Tochter der Eris, der Göttin der Zwietracht, und ihre Schwestern waren Achos und Ania, Verkörperungen des körperlichen beziehungsweise des psychischen Schmerzes.

Siehe auch: Dipsomanie, Monomanie, Monophobie