Ich starrte auf meine E-Mail, während das Blut aus meinem Kopf hinunter in meine Zehen floss.
An: Jack Wilde
Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Bewerbung für die Teilnahme an der Raintree-Forschungsexpedition „Ökologie und Evolution der Arktis“ nicht erfolgreich war.
Es sagte unterschwellig mehr aus als nur das. Viel mehr. Dies war gleichzeitig auch eine abgedroschene Erklärung darüber, wie viele qualifizierte Kandidaten sich hierauf beworben hatten und wie hart die Auswahl gewesen war. Wie schwer es war, nur einen einzigen Kandidaten für dieses Stipendium auszuwählen.
Und ich verstand das ja auch alles. Natürlich tat ich das. Studenten aus der ganzen Welt hatten sich auf die Teilnahme an dieser bahnbrechenden Expedition beworben. Sie konnten nicht alle nehmen.
Aber ich war trotzdem am Boden zerstört. Dieses Forschungsstipendium nicht zu bekommen, bedeutete gleichzeitig nämlich auch, dass ich nach Dallas zurückkehren und mir anhören musste, wie sich meine Mom über meine „Weigerung, Verantwortung im wirklichen Leben zu übernehmen“ beschwerte und mein Dad mich wieder einmal fragte, wann ich denn endlich „aufhören würde, mich mit diesem Umweltunsinn zu beschäftigen und mir einen richtigen Job suchen würde“.
„Du siehst aus, als müsstest du kotzen, Alter“, stellte meine Cousine Hallie fest, bevor sie sich einen weiteren Kartoffelchip in den Mund steckte. Sie war übers Wochenende nach Houston gekommen, um sich die Kunstausstellung eines Freundes anzusehen, und hatte dann auch noch bei mir vorbeigeschaut, um mir einen Anzug abzuliefern, den meine Mom für mich gekauft hatte. Einen Anzug für Vorstellungsgespräche. „Was ist los?“
„Ich habe die Stelle für die Forschungsexpedition in diesem Sommer nicht bekommen“, erklärte ich ihr und fühlte mich wie betäubt. „Alle, mit denen ich gesprochen habe, meinten, ich gehöre bereits fest zum Team. Meine Bewerbung wäre nur noch reine Formalität.“
Sie ließ sich auf dem abgenutzten Sofa nieder, das mein Mitbewohner zurückgelassen hatte, als er ausgezogen war. Wenn ich nicht bald einen neuen Mitbewohner fand, musste ich meinen Mietvertrag kündigen und mir für das nächste Semester ein billigeres Zimmer suchen. Entweder das, oder ich musste meine Eltern um Hilfe bitten, was genau an dem Tag passieren würde, wenn die Hölle zufriert.
„Was glaubst du, was da schiefgegangen ist?“ fragte Hallie. „Ich dachte, du arbeitest schon bereits fest mit den Leuten zusammen, die die Expedition leiten?“
„Das habe ich. Das tue ich.“ Ich hatte nicht nur bei der Ausarbeitung des Zuschussantrags zur Finanzierung der Expedition mitgeholfen, sondern auch einen Teil der für die Expedition geplanten Forschungsarbeiten mitentwickelt. Ich war einer von Dr. Raintrees Lieblingsstudenten.
Das alles ergab keinen Sinn.
Die einzige Person, die nicht ganz so von mir überzeugt schien, war mein Professor für Evolutionsbiologie.
Mir wurde ganz flau im Magen. Professor Henry . Die einzige Person in meinem gesamten akademischen Umfeld, die mich immer noch mit kalter Gleichgültigkeit behandelte, war für eine der beiden wichtigsten Empfehlungen in meiner Bewerbung verantwortlich gewesen.
Wenn ich nicht für diese Expedition ausgewählt worden war, dann hatte es ganz bestimmt etwas damit zu tun, was Professor Henry über mich geschrieben hatte.
Meine Fingernägel vergruben sich in meinen Handflächen. „Dieser verdammte Bastard“, zischte ich leise vor mich hin.
Hallies Augen weiteten sich. „Wer?“
„Mein Professor für Evolutionsbiologie. Er sollte mir eigentlich eine Empfehlung für die Teilnahme schreiben, aber der Mann hasst mich. Er nimmt nicht einmal Augenkontakt mit mir auf und tut jedes Mal, wenn ich es auch nur wage, ihm eine Frage zu stellen, so, als würde ich seine Zeit vergeuden. Ich bin mir sicher, dass es an ihm liegt.“
„Warum sollte er dich denn hassen? Du bist so verdammt klug und bist der, der in der ganzen Familie am härtesten arbeitet.“
Ich liebte die Loyalität meiner Cousine. Sie war eine erbitterte Verteidigerin all jener Menschen, die sie liebte. Ich schenkte ihr ein Lächeln. „Danke, Hallie. Aber das ist jetzt nicht mehr wirklich relevant. Es ist entschieden. Und ich kann deren Entscheidung nicht anfechten, ohne meinen Ruf zu ruinieren. Das sind doch dieselben Wissenschaftler und Professoren, die mir später hoffentlich helfen werden, nach meinem Abschluss einen Job zu finden, ganz zu schweigen davon, dass einige von ihnen im Ausschuss für meine Abschlussarbeit sitzen werden. Ich bin mir sicher, dass alles schon in Ordnung kommen wird. Ich muss nur ...“ Ich seufzte.
Ich war so verdammt erschöpft. Ich hatte mir in letzter Zeit regelrecht den Arsch aufgerissen, um meinen Vollzeitjob als Labortechniker behalten zu können und gleichzeitig mein Studium zu absolvieren. Da die Barrington Universität nicht gerade billig war, hatte ich hart daran gearbeitet, mein Studium so schnell wie möglich abzuschließen, damit ich so wenig Schulden wie möglich anhäufte.
Nur für den Fall, dass meine Eltern recht hatten und ich es beruflich nicht schaffen würde.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich schon genug selbst bemitleidet, nachdem ich heute Morgen meine Abschlussprüfung in Evolutionsbiologie hinter mir hatte. Auch wenn ich eigentlich denke, ich habe da ganz gut abgeschnitten, wird mir der Professor wahrscheinlich bei der Note trotzdem dazwischenfunken.“
„Okay“, seufzte Hallie, rollte die Chipstüte mit einem lauten Knirschen zu und setzte sich aufrecht hin. „Weißt du, was du brauchst? Eine Kuschel-Therapie.“
Meine Familie war schon ein wenig seltsam.
„Du klingst wie deine Hippie-Schwägerin“, murmelte ich. Einer meiner Cousins von der Wilde-Seite der Familie hatte eine Frau namens Nectarine geheiratet, die Yoga machte und auch sonst an allen möglichen alternativen Scheiß glaubte.
„Ich habe erst letzte Woche einen Artikel darüber gelesen und brenne darauf, es bei jemandem auszuprobieren. Weißt du noch, als du und ich auf Docs und Grandpas Hochzeitstag waren und alle meinten: Oh, sieh dir nur diese beiden Seelenverwandten an, die erst Sex haben und dann die ganze Nacht hindurch kuscheln werden , und du und ich sagten beide gleichzeitig: Igitt, wie wäre es nur mit dem Kuschel-Teil ?“
Ich starrte sie an und versuchte herauszufinden, was zum Teufel sie mir hier eigentlich zu sagen versuchte. Ich erinnerte mich zwar daran, dass ich das damals gesagt hatte, aber ich hatte dabei nach Strich und Faden gelogen. Ich hatte den Sex schon gewollt, ich hatte nur Kuscheln mehr gewollt.
Sie seufzte. „Also, in dem Artikel, den ich gelesen habe, stand, dass es da eine App gibt, die wie eine Dating-App ist, aber auch noch andere Dinge beinhaltet, wie eine Rubrik für Kleinanzeigen, wo man Hilfe für Dinge rund ums Haus bekommen kann und so weiter. So etwas in der Art.“
„Du meinst Heart2Heart?“
Sie zeigte auf mich. „Ja, das ist sie. Nun, sie haben da auch diese platonische Rubrik, wo man ganz ehrlich sagen kann, dass man jemanden nur zum Händchenhalten oder Kuscheln sucht. In diesem Artikel ging es um ... warte mal. Alter , ich habe dir den Artikel doch geschickt! Du hast ihn nicht gelesen?“
Sie wartete nicht auf meine Antwort, bevor sie mit der Hand in der Luft abwinkte, als ob es keine Rolle spielen würde. „Wie auch immer, ich habe ihn dir geschickt, weil es um das evolutionäre Bedürfnis nach menschlicher Berührung ging und wie es zu einem biologischen Imperativ für ... ich weiß nicht mehr weiter. Irgendein hirnverbrannter Schwachsinn über neurale Schaltkreise. Der Punkt ist: Du brauchst das.“
Ich blinzelte sie an. „Ich brauche was?“
Ich brauchte schon etwas, aber ich brauchte die Art von menschlicher Berührung, bei der auch ein Schwanz im Spiel ist. Und hartes Ficken. Ich brauchte wilden Sex, um meine Frustration über die Zurückweisung bei der Expeditionsteilnahme abzubauen. Das war zumindest das, was ich wollte . Aber ich hatte nicht vor, es auch zu realisieren.
Nach einer besonders schlechten Erfahrung mit einem Kerl, der einfach zu nervig und grob gewesen war, legte ich eine längere Pause vom Sex mit Fremden ein. Diese Erfahrung damals war nicht wirklich gefährlich gewesen, aber sie war gerade nahe genug herangekommen, um mich daran zu erinnern, dass es tatsächlich hätte passieren können . Und diese Art von Stress konnte ich im Moment echt nicht gebrauchen, zusätzlich zu allem anderen, was ich schon zu bewältigen hatte.
„Es wäre schon schön, jemanden zum Kuscheln zu haben“, gab ich zu. „Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, mit wem ich das letzte Mal geschlafen habe, wo es auch um Kuscheln und Umarmen ging.“
Hallie seufzte. „Ja. Geht mir ebenso. Du bist seit Lowell mit niemandem mehr ausgegangen, stimmts?“
Ich starrte sie an. „Ich habe gerade eine Absage für die wichtigste Karrierechance meines Lebens bekommen, und du musst ausgerechnet jetzt Lowell erwähnen? Hasst du mich so sehr?“
Sie streckte ihr Bein über das Sofa aus und stupste mit ihrem Fuß meine Hüfte an. „Tut mir leid, Jack. Er war ein Arsch. Wahrscheinlich ist er das immer noch. Außerdem war er wahrscheinlich von Anfang an nicht gut im Kuscheln. Der Mann war in etwa so anschmiegsam wie ein Sack voller pieksiger Stöcke und Steine.“
Hallie hatte da nicht ganz unrecht. Mein Ex war nicht nur steif und seltsam förmlich, sondern er bestand auch nur aus Ellbogen und Knien. Und er interessierte sich viel mehr für Mikroplastik im Meer und dessen Auswirkungen auf die Nahrungskette als für mich. Und das war auch gut so. Meeresverschmutzung war in der Tat ein ernstes Thema. Aber mein Bedürfnis nach Kuscheleinheiten war es eben auch.
„Toll, jetzt bin ich von enttäuscht zu verbittert mutiert“, maulte ich. „Vielleicht brauche ich jetzt besser Alkohol.“
Hallie beugte sich vor und griff nach meinem Laptop. „Nein. Du brauchst einen großen Teddybären von einem Kerl, der dich heute Nacht so richtig durchknuddelt. Ich werde dich verkuppeln.“
Ich ignorierte sie, als sie anfing zu tippen, weil meine Gedanken plötzlich von ihrer Erwähnung eines großen Teddybären abgelenkt wurden.
Professor Henry war ein großer Bär von einem Kerl. Ich hatte die gesamten ersten zwei Wochen meines Einstiegsemesters damit verbracht, von ihm nackt zu träumen. Im Gegensatz zu vielen meiner anderen Professoren war Professor Henry noch ziemlich jung. Es würde mich wundern, wenn er schon auf die Vierzig zugehen würde.
Er war groß, breit gebaut, muskulös und so verdammt tiefsinnig. Sein dickes, gewelltes Haar schien immer wie vom Winde verweht zu sein und passte perfekt zu dem dunklen Bart, den er trug. Das unterstrich er natürlich noch mit dem Holzfäller-Look, den er mit seinem typischen „Jeans und Flanellhemd-Ensemble“ bestimmt ganz bewusst anstrebte.
Aber er war auch ein griesgrämiges Arschloch. War ja klar. Nach diesen ersten zwei Wochen meines noch unwissenden Glücks hatte ich schmerzlich gelernt, dass er es auf mich abgesehen hatte. Er rief jeden auf, nur mich nicht. Er gab mir meine eingereichten Arbeiten mit harscher Kritik und ernsten Ermahnungen zurück, es besser zu machen.
Und er mied mich sogar während seiner Bürozeiten.
Das hatte ganz schön wehgetan.
Ich war Yi Shao begegnet, gerade als sie aus Professor Henrys Büro kam und strahlte, als hätte sie die Antworten für die bevorstehende Prüfung schon alle im Voraus erfahren. Doch als ich an den Türrahmen klopfte, um ihm lediglich eine kurze Frage zu stellen, erklärte er mir unwirsch, er sei bereits zu spät dran für eine Fakultätsbesprechung und ich müsste meine Frage stattdessen per E-Mail stellen.
Seine Antwort auf meine E-Mail war auch kurz und wenig hilfreich ausgefallen. Er erinnerte mich lediglich daran, dass die erfolgreichsten Doktoranden diejenigen waren, die es verstanden, die Antworten selbst zu finden, die sie brauchten, ohne zu erwarten, dass sie ihnen auf einem Silbertablett serviert wurden.
Professor Henrys Kritik hatte mich richtig eingeschüchtert und dazu geführt, dass ich meine Beziehungen zu jedem anderen Professor meines gesamten Studiengangs infrage gestellt hatte.
Und nun stand ich hier und sah mich einer weiteren von ihm verursachten Ablehnung gegenüber.
Ich spürte, wie mein Selbstvertrauen bröckelte. Normalerweise hatte ich eine positive Einstellung und war ziemlich gut darin, auch solche Herausforderungen zu meistern, aber heute Abend ... heute Abend war ich wirklich versucht, in die tröstenden Arme eines Fremden zu kriechen und jede einzelne zärtliche Berührung dankbar anzunehmen, die ich auch nur erhaschen konnte.
Ich blickte auf und sah Hallies fragend hochgezogene Augenbrauen und ihre Finger auf der Tastatur liegen. Lässt du mich das für dich tun?
Ich atmete aus und nickte.
Warum zum Teufel eigentlich nicht? Eine Nacht in den Armen eines Fremden zum rein platonischen Kuscheln. Wenn ich nicht ernsthaft darüber nachdachte, wie erbärmlich das leider klang, könnte es sogar eine nette Abwechslung zu der in Alkohol schwimmenden Mitleidsparty sein, die ich bereits für mich geplant hatte.
Nach einem Semester, in dem ich das Gefühl hatte, der unsympathischste Mensch auf Erden zu sein – unter anderem dank Professor Henry –, konnte ich eine Nacht gebrauchen, in der jemand wenigstens so tat, als würde er sich für mich interessieren.