Katie bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmassen am Flughafen. Ellenbogen trafen sie zwischen den Rippen, und scharfkantige Weihnachtsgeschenke schlugen gegen ihre Beine. Ein Baby schrie jämmerlich, und sie drehte sich instinktiv um, bevor sie sich erinnerte, dass sie keine Verantwortung hatte. Heute war sie außer Dienst und keine Ärztin. Sie war nur einer von vielen Menschen, die über die Festtage nach Hause fuhren. Nur dass es in ihrem Fall nicht ihr Zuhause war. Und technisch gesehen war sie krankgeschrieben und nicht im Urlaub.
Angesichts der Menge an Menschen fühlte sie sich unbehaglich und nervös. Vielleicht hätte sie diese Antidepressiva nehmen sollen, statt das Rezept nur in ihre Tasche zu stopfen.
Eine Frau vor ihr kreischte auf und rannte zu einem Mann mit zerzaustem Haar, der sie mit freudiger Miene in die Arme nahm und herumschwang.
Wie fühlte es sich an, so begrüßt zu werden?
Das würde sie vermutlich niemals herausfinden. Außer sie schaffte sich eine Katze an.
Sollte sie sich eine Katze anschaffen?
Nein. Sie war schon für das Leben zu vieler Lebewesen verantwortlich. Wollte sie da noch eines auf die Liste setzen?
Und was sollte die Katze tun, wenn sie arbeitete? Vermutlich wäre sie nicht einmal begeistert, wenn Katie zur Tür hereinkam. Sie würde wie Vicky sein, die ihren Lebensstil missbilligte.
Sie umfasste den Griff ihres Koffers fester und ging an dem Paar vorbei.
Ich liebe dich.
Ich liebe dich auch.
In diesem Moment schien das Leben des Paars perfekt. Katie hoffte, dass an der nächsten Ecke nichts Böses auf sie wartete. Dieser eine dunkle Gedanke störte sie.
Was war los mit ihr? War sie durch ihren Job so desillusioniert, dass sie völlig vergessen hatte, dass den Menschen auch gute Dinge passierten? Menschen verliebten sich, Babys wurden geboren, Freundschaften geschlossen. Manche Menschen gingen durchs Leben, ohne jemals in der Notaufnahme zu landen.
Sie war einsichtig genug, um zu erkennen, dass ihre Sicht der Welt ein wenig verzerrt war.
Ärztin in der Notaufnahme zu sein war, als blicke man durch ein Fenster auf eine Krise. Man bekam einen flüchtigen Eindruck von jemandes Leben, sah aber nie das ganze Bild. Diese Realität bekam sie selten zu Gesicht. Ein Geschäftsmann schritt durch die Menge und sprach am Telefon, als würden die Menschen um ihn herum gar nicht existieren. Ein Paar umarmte sich. Ein kleines Mädchen balancierte auf einem Koffer.
Und sie sah das Lächeln der Menschen, die sich freuten, einander wiederzusehen. Menschen, die nicht ständig darauf warteten, dass eine Katastrophe geschah.
Als sie sah, wie eine Familie von drei Generationen sich umarmte, verspürte sie einen weiteren Stich der Eifersucht. Eifersucht und Einsamkeit. Sie hatte das Gefühl, als ob alle Menschen auf der Welt mit jemandem verbunden wären, nur sie nicht.
Vielleicht würde sie sich anders fühlen, wenn Rosie sie abgeholt hätte. Stattdessen hatte Rosie den Trauzeugen geschickt, der sich darauf zweifellos ebenso freute wie sie. Vier Stunden in einem Auto mit einem Fremden.
Na super!
Warum war Rosie nicht da? Hatte sie wirklich eine Anprobe, oder war sie sauer, weil Katie Zweifel wegen Dan geäußert hatte?
Aber wie hätte sie sich gefühlt, wenn sie nichts gesagt hätte und Dan Rosie unglücklich machen würde?
Vielleicht war diese Fahrt eine Galgenfrist. Ein paar Stunden Ruhe, bevor sie versuchen musste, sich vor ihrer Familie zusammenzunehmen. In Anbetracht der Tatsache, dass Mr. Trauzeuge sie nicht kannte und nur seine Pflicht tat, würde ihm nicht auffallen, dass sie gestresster war als normal. Und wen konnte man besser über den Bräutigam befragen als den Trauzeugen? Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, all die schmutzigen Details zu erzählen, die er in seine Rede einbauen wollte.
Doch davor musste sie den Mann erst einmal finden.
Wie sollte sie ihn erkennen? Rosie, die vermutlich von den Hochzeitsvorbereitungen abgelenkt war, hatte keine Beschreibung geschickt. Sie hatte nur gesagt, dass er sie in der Ankunftshalle erwarten würde.
Dort schienen allerdings eine Million Leute zu warten.
Sie blickte sich um, ob jemand ein Pappschild mit ihrem Namen in der Hand hielt.
Vielleicht würde es darauf hinauslaufen, dass sie Weihnachten am Flughafen von Denver verbrachte. Zumindest würde das lustiger werden als in der Notaufnahme.
»Katie?« Hinter ihr ertönte eine tiefe Stimme, und als sie sich umdrehte, blickte sie auf eine breite Brust und kräftige Schultern.
Schöne Weihnachten, Katie.
Sie hob den Blick und sah über den dunklen Bartstoppeln ein Paar eisblauer Augen. »Hallo«, brachte sie krächzend hervor, sodass sie es gleich noch einmal versuchte. »Ich meine, hallo. Trockener Hals. Vermutlich bin ich vom Flug dehydriert.«
»Kann passieren. Ich bin Jordan. Ein Freund von Dan und sein Trauzeuge.« Er streckte die Hand aus, und sie ergriff sie. Kräftige, warme Finger umfingen ihre Hand.
»Katie. Große Schwester und offensichtlich Brautjungfer.« Die Worte klangen albern in ihren Ohren. Vermutlich versuchte er sie sich bei einer Hochzeit vorzustellen. »Woher wusstest du, dass ich es bin?«
»Ich hatte eine Beschreibung. Einzelne Frau, dunkles Haar, gestresste Miene.«
»Wie bitte?«
»Deine Schwester hat mich vorgewarnt, dass du vermutlich müde und gestresst sein würdest, also habe ich nach jemandem Ausschau gehalten, der blass ist und nicht erfreut scheint, über die Feiertage zu Hause zu sein.«
»Ich bin über die Feiertage nicht zu Hause, sondern in Colorado.« Wo sie einen Fremden mit blauen Augen und Schultern wie ein Boxer traf. Er also war der Trauzeuge und vermutlich der bestaussehende Mann, den sie seit einer Weile getroffen hatte. Sie hörte Vickys Stimme in ihrem Kopf, die sie mahnte, sich eine Gelegenheit wie diese nicht entgehen zu lassen.
Sie ignorierte die imaginäre Vicky ebenso, wie sie das mit der echten Vicky tat.
»Stimmt. Und du scheinst nicht sehr erfreut darüber zu sein. Ist das dein einziges Gepäck?« Er wollte ihr den Koffer abnehmen, doch sie verstärkte den Griff.
»Danke, aber ich kann mich selbst um meinen Koffer kümmern.«
Er hob eine Braue. »Sicher, aber mein Wagen steht weiter weg und …«
»Er hat einen Griff und Räder, und ich habe Muskeln. Ich mach das.« War er einer dieser Männer, die glaubten, eine Frau brauche einen Mann, um durch den Tag zu kommen? Falls ja, stand ihnen eine anstrengende Woche bevor. Wenn er sie bevormundete, würde sie ihm vielleicht eine Injektion verabreichen müssen.
Er musterte sie, und einen beunruhigenden Moment lang hatte sie das Gefühl, als könne er bis auf den Grund ihrer Seele schauen. »Bist du immer so kratzbürstig?«
»Ich bin nicht kratzbürstig.« Kaktus-Katie. »Ich brauche dich nur nicht, um meine Koffer zu tragen, das ist alles. Und falls du dich dadurch irgendwie in deiner Männlichkeit bedroht fühlst …«
»Meiner Männlichkeit geht es gut, aber danke der Nachfrage.«
»Ich habe nicht nachgefragt. Habe ich etwa den Eindruck erweckt?«
Einen Moment lang starrten sie sich an, dann zeigte er den Anflug eines Lächelns und deutete zum Ausgang. »Lass uns gehen, bevor du etwas sagst, das dich heute Nacht wachhält.«
»Warum sollte irgendwas, das ich sage, mich wachhalten?«
»Weil du der Typ Frau bist, die schlaflos daliegt und wünscht, sie hätte etwas anderes gesagt.«
»Du liegst so falsch.« Er liegt so richtig. Warum hatte sie das Gefühl, einen Streit verloren zu haben, obwohl es überhaupt keinen Streit gegeben hatte? »Wir sollten gehen.«
»Ist es okay, wenn ich dir den Weg zeige? Oder soll ich dir lieber die Adresse von meinem Parkplatz geben, damit du ihn selbst findest? Falls es dir lieber ist, treffen wir uns dort.«
Sie setzte schon zu einer scharfen Erwiderung an, als sie das Funkeln in seinen Augen bemerkte.
Immerhin hatte der Kerl Sinn für Humor. »Laut Rosie haben wir eine mindestens vierstündige Fahrt vor uns.«
»Könnte länger dauern, weil es heute geschneit hat.«
»Tut mir leid. Das muss ungelegen kommen.« Ebenso wie die Neuigkeit, dass sie vielleicht länger als vier Stunden mit ihm im Wagen eingepfercht war. Aber immerhin war er nicht schwächlich. Er sah aus, als könnte er gut Schnee schaufeln, wenn es nötig war.
»Hier in der Gegend mögen wir den Schnee, sodass wir Ungelegenheiten in Kauf nehmen. Schnee bedeutet eine gute Skisaison, und das ist gut für die lokale Wirtschaft.«
Sie dachte an das, was sie gelesen hatte. »Wird eure Wirtschaft durch exklusive Einzelhändler in Gang gehalten und unfassbar reiche Leute, die ihre Millionen in eurer Stadt ausgeben?«
»Das auch, doch die meisten dieser unfassbar reichen Leute lieben den Sport und das Outdoor-Leben, sodass wir alle etwas gemein haben. Außerdem halten mich diese reichen Leute beschäftigt und verhelfen mir zu einem Dasein, das ich liebe, also beschwere ich mich nicht.«
Er liebte sein Leben? Derzeit war sie bereit, jeden umzubringen, der sein Leben liebte.
Er deutete in Richtung einer Tür auf der anderen Seite des Terminals. »Wir müssen dorthin.«
Sie ging schnell, nicht weil sie es besonders eilig hatte, sondern weil sie es nicht anders kannte. Zeit war ein kostbares Gut, und sie konnte es sich nicht leisten, sie zu verschwenden.
Gemeinsam durchquerten sie den Flughafen und betraten einen großen Platz. »Ist das …?« Sie kniff die Augen zusammen und hielt inne. »… eine Eisbahn?«
»Ja.«
»Ihr habt eine Eisbahn im Flughafen?«
»Nicht im, sondern am Flughafen, ja.« Er zuckte die Achseln. »Willkommen in Colorado. Fährst du Schlittschuh?«
»Nein. Ich flicke die Leute zusammen, nachdem sie Schlittschuh gefahren sind. Wir haben in London ein paar Eisbahnen, die zur Weihnachtszeit öffnen, was unsere Arbeitsbelastung erhöht. Ich verstehe nicht, warum die Leute es für eine gute Idee halten, nach einem Weihnachtsdrink mit ihrem Können auf dem Eis zu prahlen – oder mit dem Fehlen desselben.« Sie sah zu, wie ein Mädchen in einem roten Mantel einen spektakulären Sprung vollführte und perfekt landete. Währenddessen sang eine Gruppe von Menschen Weihnachtslieder. »Ich habe noch nie eine Eisbahn in einem Flughafen gesehen. Das ist sehr weihnachtlich.«
»Du liebst Weihnachten? Irgendwie überrascht mich das.«
»Ich kann ausschlafen, zu viel essen, zu viel trinken und muss nicht noch einer Familie sagen, dass ihr Sohn erstochen wurde und wir ihn nicht retten konnten. Was kann man daran nicht mögen?« Verdammt. Hatte sie das wirklich gesagt? Sie kannte diesen Typen nicht einmal.
Er würde sie nicht nur für blass, müde und gestresst halten, sondern sehr wahrscheinlich auch für verrückt.
»Rosie erwähnte, dass du in der ZN arbeitest.« Sein Ton war sanfter als zuvor. »Das muss stressig sein.«
»Die …? Ach so. Zentrale Notaufnahme. Wir sagen einfach nur Notaufnahme. Und es ist nicht so übel. Man gewöhnt sich dran. Nach einer Zeit wird es einfach ein Job. Etwas, mit dem man umgeht.«
»Verstehe.«
»Ich meine, bis zu einem gewissen Grad ist man eine gut ausgebildete Maschine.« Sie spürte, wie sie sich anspannte, als ein kleines Mädchen mit rotem Schal und einem Plüschgeweih quer über das Eis zu seinem Daddy fuhr. Jeden Moment würde es hinfallen und sich den Kopf stoßen. Technisch gesehen war Katie außer Dienst, doch sie wusste, dass sie nicht in der Lage wäre, an einem verletzten Menschen vorbeizugehen.
Jordan räusperte sich. »Wir sollten besser gehen.«
»Gleich …« Das Mädchen mit dem roten Schal war jetzt halb über das Eis gefahren und befand sich in der Mitte der Eisbahn mit Menschen, die um das Kind herumwirbelten. Es sah so klein und verletzlich aus.
»Katie …«
»Warum hält ihr Dad sie nicht an der Hand? Sie könnte hinfallen und sich den Kopf stoßen.«
»Eine Maschine.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte von ihr zu dem Mädchen. »Ja, das sehe ich. Dir ist das völlig egal, nicht wahr? Absolut keine emotionale Beteiligung.«
Sie warf ihm einen Blick zu, den sie sonst nur für Vicky in ihren nervigsten Momenten bereithielt. »Es ist nicht emotional, eine Befürworterin von Unfallprävention zu sein.«
»Überhaupt nicht. Aber dieses Mädchen ist vermutlich auf Schlittschuhen aufgewachsen. Es geht ihm gut. Und jetzt lass uns los.« Jordan trat neben sie, als das Mädchen die andere Seite erreichte und der stolze Vater es in seinen Armen auffing.
Katie entspannte sich. »Okay.« Atme, atme.
»Wenn du eine Maschine bist, dann ist vorgesehen, dass du den Arztmodus abschalten kannst. Programmier dich so, dass du runterfährst.«
»Ich gebe zu, dass dieser spezielle Schalter kaputt sein könnte. Mein System könnte zusammengebrochen sein.«
»Nach ein paar Tagen in den Bergen wird es dir besser gehen. Frische Luft, Sonne und Schnee sind das beste Mittel dagegen.«
»Hoffen wir es.« Sie hatte das Gefühl, dass es mehr als ein paar Tage in den Bergen brauchte, damit es ihr besser ging.
Jordans Wagen war warm und gemütlich, und Katie entspannte sich in ihrem Sitz, erleichtert, dass sie Beifahrerin war und über nichts nachdenken musste. Sie schloss die Augen, doch sofort tauchten unerwünschte Bilder auf, sodass sie sie wieder öffnete. Ein Teil von ihr hatte gehofft, dass sie das hinter sich gelassen hätte, doch offenbar hatte sie sich getäuscht.
»Du sagtest, du liebst dein Leben. Was machst du beruflich?«
»Ich bin Baumpfleger.« Er fädelte sich in den Verkehr ein. »Ein Baumchirurg. Du bist eine Ärztin für Menschen, und ich bin ein Arzt für Bäume, wir haben also was gemeinsam.«
Sie drehte den Kopf. »Glaub mir, wir haben nichts gemeinsam.« Sofort fühlte sie sich schuldig. Was war los mit ihr? Der Typ hatte sie als Freundschaftsdienst am Flughafen abgeholt, und sie führte sich auf, als hätte er sie gegen ihren Willen entführt. Es war, als hätte das Leben ihr normales Ich ausgesaugt und nur noch eine Hülle zurückgelassen. Vielleicht war sie tatsächlich eine Maschine. »Kennst du Dan schon lange?«
»Wir haben uns in der Skischule kennengelernt. Ich war zehn und er acht.«
»Und wie alt bist du jetzt?«
Er hob eine Braue. »Darf ich auch nach deinem Alter fragen?«
»Ich bin einhundertunddrei.«
Er lachte. »Und ich bin dreißig. Dan ist achtundzwanzig.«
Sechs Jahre älter als Rosie.
»Und ihr seid noch immer befreundet. Also gehe ich davon aus, dass er zumindest loyal ist.« Sie spürte einen Anflug von Angst um ihre Schwester, die immer so freundlich war und grundsätzlich das Beste in den Menschen sah. »Erzähl mir von ihm.«
»Was willst du wissen? Dan war schon immer sportbegeistert. Er ist ein großartiger Skifahrer, im College hat er gerudert und jetzt …«
»Nicht das. Erzähl mir von den üblen Sachen. Drogen? Alkohol? Narzissmus? Verhaftungen? Erzähl mir von all den peinlichen Momenten in eurer Freundschaft.«
»Der Begriff Freundschaft beinhaltet normalerweise keine üble Nachrede über den Freund.« Schärfe lag in seiner Stimme, und er verstärkte den Griff um das Lenkrad. »Stellst du diese Fragen über alle Männer, die du datest?«
»Nein. Aber ich stelle sie über alle Männer, die meine Schwester datet, weil sie nie die Schattenseite von jemandem sieht.«
»Das passt zu dem, wie ich sie kennengelernt habe. Sie ist sehr offen. Vertrauensvoll. Gut für Dan.«
Katie wollte lieber wissen, ob Dan auch gut für Katie war. »Worüber wirst du in deiner Rede sprechen?«
»Rede?«
»Du bist der Trauzeuge. Du hältst eine Rede, in der du zweifellos Geschichten über wilde Wochenenden mit Prostituierten preisgeben wirst. Oder eine Spielleidenschaft? Kokain? Der Tag, an dem du ihn nackt an das Empire State Building gekettet zurückgelassen hast?«
Kurz sah Jordan zu ihr herüber. »Wenn das ein Beispiel für die Rede des Trauzeugen sein soll, dann musst du auf einigen sehr interessanten Hochzeiten gewesen sein.« Er fuhr langsamer, als der Verkehr dichter wurde. »Schickst du einem Mann erst einen Fragebogen, bevor du ihn datest?«
»Ich date nicht.«
»Wenn das die Fragen sind, die du stellst, überrascht mich das nicht.«
»Ich date nicht, weil ich keine Zeit habe, nicht, weil ich keine Angebote hätte.«
»Oh, die Maschine hat also Gefühle.« Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, und sie starrte ihn wütend an.
»Wir reden nicht über mich. Wir sprechen über Dan.«
»Nein, wir sprechen nicht, du hast mich zu Dan ins Kreuzverhör genommen. Warum hast du deiner Schwester nicht diese Fragen gestellt?«
»Meine Schwester glaubt, dass sie verliebt ist. Sie ist nicht in der Lage, objektiv zu urteilen.«
»Du glaubst nicht, dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen kann?«
Katie starrte vor sich hin. Wie viel sollte sie verraten? »Sie ist meine Schwester. Ich liebe sie und will sie beschützen.«
»Das glaube ich.«
»Was soll das heißen?«
»Du hast etwas von einem Rottweiler an dir, das ist alles. Muss deine Schwester denn beschützt werden?«
»Manchmal.« Katie runzelte die Stirn. »Ein Rottweiler. Du vergleichst mich nicht nur mit einem Hund, sondern mit einem wilden Hund.«
»Ich vergleiche nur Wesenszüge. Das mache ich immer, wenn ich Menschen kennenlerne. Das hilft mir, zu bestimmen, wer sie sind. Und Rottweiler sind nicht wild. Das sind intelligente Arbeitshunde.«
Ein intelligenter Arbeitshund. Vielleicht war das keine so schlechte Beschreibung. »Wenn ich ein Rottweiler bin, was ist dann meine Schwester?«
Er dachte einen Moment nach. »Vielleicht ein Cockerspaniel.«
Katie tippte die Rasse in ihr Handy und sichtete die Ergebnisse. »Loyal, freundlich und anhänglich.« Sie verzog das Gesicht. »Tatsächlich nicht schlecht. Scheint, als würdest du meine Schwester kennen.«
»Oder sie könnte ein Labrador sein. Gutmütig. Die geben gute Assistenzhunde ab.«
Katie dachte an all die Male, die Rosie in ihrer Kindheit die ältere Nachbarin besucht hatte. Was immer ihre Mutter gebacken hatte, Rosie brachte immer eine Portion von dem, was auf dem Küchentisch auskühlte, zu Enid. Cupcakes. Ein Stück warmen Apfelkuchen. Rosie hatte darauf bestanden, dass sie Enid zum Weihnachtsessen einluden, weil niemand am Weihnachtstag allein sein sollte. Rosie, die es nicht ertragen konnte, irgendjemanden verletzt zu sehen, und niemals verletzen wollte, was einer der Gründe war, warum sie sich so spät von schlechten Freunden trennte. Und davon hatte sie einige gehabt.
»Sie könnte ein Labrador sein.«
»Hast du einen Hund?«
»Mein Leben verträgt sich nicht mit einem Haustier.«
»Nichts vertreibt Sorgenfalten besser als ein Hund. Vielleicht solltest du dein Leben überdenken.«
In letzter Zeit hatte sie nichts anderes getan. »Ich bin seit zehn Jahren Ärztin. Wenn man die medizinische Fakultät mitzählt, sogar noch länger.«
»Und?«
»Und man überdenkt nicht etwas, was man schon so lange tut.« Sie sah aus dem Fenster und fragte sich, ob sie überhaupt in der Lage wäre, sich um einen Hund zu kümmern. Ein Hund würde regelmäßige Mahlzeiten brauchen, und Pizza würde vermutlich nicht zählen. Und was, wenn ihre Schwester zu Besuch kam? »Die Berge sind schön. Und der Wald. Arbeitest du dort?«
»Ich arbeite überall, wo ich gebraucht werde.«
»Doch die Hälfte der Bäume ist von Schnee bedeckt. Hast du um diese Jahreszeit wenig zu tun?«
Er lächelte. »Im Gegenteil. Die Leute wollen Weihnachtsbäume. Und sie wollen Lichterketten an ihrem Haus.«
»Das machst du auch? Ich verstehe das mit den Weihnachtsbäumen, aber Lichterketten?«
»Ich bin schwindelfrei und daran gewöhnt, an allen möglichen Dingen hochzuklettern.«
»Ich wäre nie auf die Idee gekommen, jemanden zu bezahlen, um Lichterketten anzubringen.«
»Schmückst du nicht zu Weihnachten? Magst du es nicht?«
»Es ist nicht so, dass ich es nicht mag, aber ich übertreibe es nicht. Irgendetwas an Weihnachten lässt die Menschen ein bisschen durchdrehen – sie tragen Weihnachtspullover, in denen man das übrige Jahr nicht tot gesehen werden wollte, es gibt Küsse unterm Mistelzweig, die man zeitlebens bereut.«
»Du bereust die Küsse, die du unterm Mistelzweig hattest?«
Erneut war sie ihm auf den Leim gegangen. »Ich denke, dass man so wichtige Entscheidungen wie die Frage, mit wem man Sex hat, nicht von einer Pflanze abhängig machen sollte. Einer giftigen Pflanze noch dazu.«
»Als Nächstes erzählst du mir, dass du nicht an den Weihnachtsmann glaubst. Ich muss dich bitten, den Gedanken für dich zu behalten. Ich könnte damit nicht umgehen.«
»Weißt du, dass Menschen sich von Weihnachtsmannkostümen tatsächlich Infektionen holen können?«
»Du bist ein Quell an Informationen, um die ich niemals gebeten habe.«
»Bitte schön.« Sie hatte den Eindruck, dass er lachte, und war so müde, dass sie ebenfalls lächelte. »Hör zu, ich will dich nicht verhören, aber ich liebe Rosie. Ich habe Dan noch nie getroffen. Ich möchte, dass sie glücklich ist, das ist alles.«
»Und das ist deine Verantwortung?«
Sie streckte die Beine aus. Sie könnte ihm von Rosies unpassenden Freunden erzählen, vielleicht würde er dann verstehen. Aber gleichzeitig würde sie sich ihrer Schwester gegenüber illoyal fühlen. Und Jordan gehörte zum Team Dan, nicht zum Team Rosie. »Ich war schon immer verantwortlich für sie.«
»Jüngere Schwester? Großer Altersunterschied?«
»Das war ein Scherz, als ich sagte, ich sei einhundertunddrei.«
Er lachte. »Ich verwerfe den Rottweiler. Du hast mehr von einem Terrier. Lebhaft und streitlustig.«
»Warum glaubst du, dass ich streitlustig bin?«
»Vielleicht weil du ständig Streit anfängst.«
»Was vermutlich daran liegt, dass du nervst. Was für eine Rasse wärst du denn?«
Er dachte nach. »Ich bin ein vitaler Outdoor-Typ. Verlässlich, ebenso wie du beschützend gegenüber allen, die ich liebe, umgänglich, außer jemand übertritt eine Grenze.«
Sie fragte sich, wo diese Grenze verlaufen mochte.
Jeder hatte Grenzen, oder? Sie hatte kürzlich ihre eigenen entdeckt. »Dann bist du ebenfalls ein Labrador.«
Er verzog das Gesicht. »Ganz so umgänglich bin ich nicht. Vielleicht ein Deutscher Schäferhund.«
Die Straße schlängelte sich durch ein enges Tal. Riesige Felswände aus Granit und Kalkstein ragten steil in den Himmel, silbergrau und kahl, meist sogar zu steil, um den Schnee zu halten. An den weniger steilen Stellen klebten weiße Flecken, und die Bäume waren schneebedeckt.
»Das ist eine eindrucksvolle Gegend.«
»Willkommen im Glenwood Canyon.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie diese Straße durch die Berge gebaut haben.«
»Ja. Das war ein Kompromiss zwischen den Ingenieuren und den Umweltschützern. Es ist eine der Hauptstraßen durch die Rocky Mountains. Das rechts ist der Colorado River.«
Es war spektakulär.
Begeistert sah sie aus dem Fenster zu den hoch aufragenden Felswänden des Canyons. Es hatte etwas Tröstliches, in einem warmen Wagen zu sitzen und die verschneiten Berge dort draußen zu betrachten. Ihr Leben schien sehr weit weg und weniger bedrohlich zu sein. Ausnahmsweise trug sie keine Verantwortung, und niemand verließ sich auf ihr Urteil. Jordan war ein guter Fahrer, sicher, unauffällig. Nicht, dass sie vorhatte, ihm das zu sagen. Sie hatte den Eindruck, dass er bereits über ein gutes Selbstbewusstsein verfügte.
»Ist diese Straße im Winter manchmal blockiert?«
»Ja, ab und zu schon. Oben am Grizzly Creek ist ein Rastplatz. Wir halten dort kurz. Bist du hungrig?«
Sie stellte fest, dass sie das tatsächlich war.
Nach einem schnellen Snack ging sie mit Jordan hinunter zum Fluss. In den Händen hielt sie den Becher Kaffee, den er ihr gekauft hatte. Die Luft war kalt und frisch, die Berge erhoben sich direkt neben dem Fluss. Schnee lag auf den Felsen, und das Wasser schoss zwischen Eisplatten entlang.
»Ich wette, das Wasser ist kalt.«
»Eisig.« Er stand mit gespreizten Beinen da, die Hände in den Hosentaschen. »Dan und ich waren hier im Sommer immer zum Raften. Weiter flussabwärts gibt es die sogenannten Schoschonen-Schnellen – Tombstone, The Wall und Maneater.«
»Lustig, keiner dieser Namen bringt mich in Versuchung, dich zu bitten, mich zum Rafting mitzunehmen. Keine Ahnung, warum.«
»Komm im Sommer wieder her, und ich nehme dich mit. Ich glaube, es würde dir Spaß machen.«
»Warum glaubst du das? Sehe ich sportlich aus?«
»Nein, eher angespannt. Und sich an einer Seite des Bootes festzuklammern, während du mitten in einer atemberaubenden Landschaft im Wildwasser hin und her geworfen wirst, ist eine gute Methode, dich außer dem Moment alles vergessen zu lassen.«
»Ich werde mich da wohl auf dein Wort verlassen müssen.«
»Dir entgeht ein richtiger Adrenalinschub. Es ist ziemlich aufregend.«
Sie nahm einen Schluck Kaffee und fühlte, wie die Wärme des Bechers in ihre Finger zog. London mit seinem grauen Himmel und dem Regen schien weit entfernt zu sein. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich fast menschlich. »Danke, aber ich hole mir meine Adrenalinschübe woanders.«
Er trank seinen Kaffee aus. »Du solltest keine Angst vor Abenteuern haben.«
»Wer sagt, dass ich Angst habe?«
»Du hast mich wegen Dan in die Mangel genommen, was bedeutet, dass du der Typ Mensch bist, der alles vorher genau recherchiert, bevor er sich einer Sache verschreibt. Du vertraust nicht auf deine Instinkte.«
»Was Dan angeht, habe ich keine Instinkte. Ich habe ihn noch nicht kennengelernt.«
»Genau.« Er warf seinen Becher in den Papierkorb. »Aber du gehst davon aus, dass er eine Vergangenheit hat, die er verbergen muss. Und dabei bist du nicht mal diejenige, die ihn heiratet. Bist du immer so argwöhnisch?«
»Ich bin nicht argwöhnisch.«
»Nein? Wann hast du das letzte Mal etwas getan, das dir Angst gemacht hat?«
Vor dem Termin mit Dr. Braithwaite hatte sie Angst gehabt, und in letzter Zeit hatte sie beinah Panik, wenn sie zur Arbeit ging. »Wir sollten besser los. Meine Familie wartet auf mich.«
Er musterte sie einen Augenblick. »Sicher. Wenn du das möchtest.«
Sie gingen zurück zum Wagen und verbrachten den folgenden Teil der Fahrt schweigend.
Als sie einen Ort namens Glenwood Springs erreichten, folgte er den Schildern nach Aspen.
Katie musste eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, fuhren sie eine schneebedeckte Auffahrt zu einem hell erleuchteten Gebäude hinauf.
»Das ist hübsch.«
»Willkommen in der Snowfall Lodge.«
»Das ist es?« Sie blickte zu dem abfallenden Dach, das von winzigen Lichtern gesäumt war. Es gab eine Terrasse und, wie es schien, in jedem Fenster einen Weihnachtsbaum. Zum ersten Mal seit Wochen regten sich ihre Lebensgeister. Sogar sie sollte an einem Ort wie diesem gesunden können. »Es ist zauberhaft.«
»Es ist ein schönes Hotel. Aber du wohnst nicht hier. Du wohnst in einem der Baumhäuser im Wald.«
Es war, als bekäme man das Paradies gezeigt und erführe dann, dass man keine gültige Eintrittskarte dafür besaß.
In letzter Zeit waren ihre Emotionen ein einziges Chaos gewesen, deshalb war sie verblüfft, wie enttäuscht sie jetzt war.
Sie wollte nicht in einem Baumhaus im Wald wohnen, sondern in diesem Luxushotel mit seinen funkelnden Lichtern und dem Märchenflair. Die Snowfall Lodge war so weit von ihrem Alltagsleben entfernt, dass es ihr wie das Nirwana erschien. Sie wollte sich von der einladenden Wärme und dem flackernden Feuer, das sie durch die Glastüren sah, einhüllen lassen. Doch offenbar stand das nicht zur Debatte.
Goodbye Spa. Goodbye Massage und Thermalbad. Goodbye jede Hoffnung auf Erholung.
»Ein Baumhaus.« Sie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. »Mit Spinnen. Super. Wie bei Hitchcock.«
»Wenn man erst mal oben ist, ist es gar nicht so schlecht, auch wenn ich zugeben muss, dass es eine Herausforderung sein kann, sich am Seil nach oben zu ziehen. Wie steht es mit Ihren Muskeln, Doktor?«
Sie hatte keine Muskeln. »Man zieht sich an einem Seil nach oben?«
»Wie sonst solltest du auf den Baum kommen? Und mach dir keine Sorgen wegen der Spinnen. Sie sind groß, aber nicht giftig. Die meisten Menschen finden die Reiseübelkeit am schlimmsten, aber du bist Ärztin, insofern bin ich sicher, dass du die nötigen Medikamente dabeihast.«
»Reiseübelkeit?«
»Die Hütte liegt hoch oben in den Bäumen. Wenn es windig ist, schwingen die Äste hin und her, und das Haus schwingt mit.« Er konzentrierte sich auf die Straße, während die Scheinwerfer die Schneehaufen am Rand beleuchteten. »Manche Menschen binden sich ans Bett, damit sie nachts nicht rausfallen. Das gleiche Prinzip wie bei Turbulenzen im Flugzeug.«
Im Flugzeug wurde Katie bei Turbulenzen immer übel. Und als Kind hatte sie die Schaukel im Park nicht benutzen können. Sie wollte ihm sagen, dass er umkehren musste. Sie wollte das hier nicht machen. Sie konnte es nicht.
»Bist du sicher, dass es in der Snowfall Lodge keine freien Zimmer mehr gibt?«
»Sie haben dieses Haus extra für dich reserviert.«
Karma. Sie mussten gespürt haben, dass sie die Hochzeit lieber verhindern als feiern wollte.
Und Jordan zeigte keinen Funken Mitgefühl.
»Hör zu, ich glaube wirklich, ich kann …«
»Wir sind da.« Er hielt an. »Dort. Schau hin.«
Widerstrebend hob sie den Blick, aufs Schlimmste vorbereitet. Dank ihm hatte sie sich eine klapprige Hütte vorgestellt, zusammengehalten von Spinnweben und vielleicht mit einer alten Hexe in der Tür – quasi als Begrüßungskomitee.
Die Realität unterschied sich so sehr von dem, was sie sich vorgestellt hatte, dass sie einen Moment brauchte, bevor sie sprechen konnte.
Das Baumhaus war nicht in die Äste gebaut, auch wenn es durch das Design so wirkte, als wäre es das. Es stand auf einer Neigung, umgeben von hohen Bäumen, deren Äste sich unter der Last des Schnees bogen. Eine zweistöckige Zuflucht, versteckt zwischen den Bäumen, als wäre sie hier zusammen mit dem Wald gewachsen.
Eine schöne Holztreppe führte hinauf zur Eingangstür. »Kein Seil.« Sie bemerkte sein leichtes Lächeln und kam sich dumm vor. »Ich hasse dich.«
»Ich dachte nicht, dass du mich ernst nimmst.«
»Aber das habe ich. Weshalb hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?«
»Weil du so verspannt warst, dass ich dachte, ein Lacher könnte dir guttun.«
»Siehst du mich lachen?«
Lange schaute er sie an. »Nein, was wirklich schade ist, denn ich wette, du siehst süß aus, wenn du lachst.«
Etwas in ihr regte sich. Etwas, durch das sie sich noch unbehaglicher fühlte als sowieso schon. »Nur damit du es weißt, ich überlege wirklich, ob ich dich umbringen soll.«
»Aber dann würdest du Weihnachten hinter Gittern verbringen, und dieser Ort ist gemütlicher«, gab er unbeschwert zurück. »Mehr Hedonismus als Horror, meinst du nicht? Die Baumhäuser gehören hier in der Gegend zu den begehrtesten Unterkünften. Die meisten von uns Normalsterblichen könnten sich den Aufenthalt gar nicht leisten.«
»Ich werde dich definitiv umbringen.« Sie zögerte. »Schwanken die Baumhäuser, wenn es windig ist?«
»Sie stehen felsenfest. Das kann ich garantieren, weil ich beim Bau geholfen habe.«
»Du?« Langsam ließ sie den Blick von der Snowfall Lodge zu seinem Profil wandern. »Ich dachte, du wärst Baum-Chirurg?«
»Ich arbeite auch mit Holz.«
»Dann schlafe ich also sechs Meter über dem Boden in etwas, das du gebaut hast? Wenn ich runterfalle, werde ich dich verklagen.« Doch die Erleichterung war überwältigend. Der Ort war idyllisch. Wie ein eigener Privatbereich inmitten des Waldes. Im Baumhaus brannte Licht, das einen warmen Schimmer verströmte. Hinter einem der Fenster war ein großer Weihnachtsbaum zu erkennen, und auf dem Terrassengeländer lag Schnee.
Ihre Anspannung, die sich seit Monaten im roten Bereich befand, löste sich ein wenig, was ihr Hoffnung machte. Wenn sie sich an diesem hinreißenden, fast schon unwirklichen Ort nicht entspannen konnte, dann würde ihr das nirgendwo gelingen. Sie fühlte sich eine Million Meilen von den überfüllten Straßen Londons und ihrem beengten Zuhause entfernt. Eine Million Meilen von ihrem wirklichen Leben.
Jordan deutete auf einen sich schlängelnden Weg, der von Lichterketten erhellt wurde. »Von hier aus müssen wir zu Fuß gehen. Es gibt eine Brücke über den Bach, die vereist sein kann. Du wirst vorsichtig sein müssen.«
Der hohe Schnee verwischte die Konturen der Umgebung. Katie entschied, dass die Welt ein besserer Ort zu sein schien, wenn sie in Schnee gehüllt war. Weicher. Mit weniger scharfen Kanten.
»Ich komme zurecht.« Sie erblickte ihre Schwester in einem der Fenster und winkte.
War Rosie sauer auf sie, weil sie darum gebeten hatte, die ersten paar Abende zusammen zu verbringen? Sie hatte Weihnachten als Ausrede genommen – Weihnachten ist unsere gemeinsame Zeit –, doch in Wahrheit wollte sie mit ihrer Schwester allein sein, um zu verstehen, was zu dieser höchst impulsiven Entscheidung geführt hatte. Und wenn Rosie und Dan tatsächlich heiraten sollten (der Himmel mochte das verhüten), würden einige Abende weniger sie nicht umbringen, oder?
Nachdem Katie ihre Schuldgefühle zurückgedrängt hatte, stieg sie aus dem Wagen und spürte, wie die Kälte durch ihre Kleidung drang. Sie hatte den Winter immer gehasst, doch jetzt begriff sie, dass sie den Winter in London gehasst hatte und diese langen düsteren Tage, die alles in einen Mantel von Schwermut hüllten. Den Regen, der in die Schuhe drang und jedes herausgeputzte Mädchen in eine ertrunkene Ratte verwandelte. Das hier war anders. Hier war die Luft trocken und frisch, und über ihr funkelten Millionen Sterne am klaren Nachthimmel. Das hier war Winter, wie sie sich ihn immer ausgemalt hatte. Nicht dunkel, feucht und deprimierend, sondern hell, fröhlich und frisch.
Tief atmete sie ein und genoss die unterschiedlichen Gerüche. Ein Hauch von Kaminfeuer. Fichtenwald. Sie dachte an das Weihnachten, als sie klein gewesen war, als sie und ihre Mutter Rosie mitgenommen hatten, um einen Baum auszusuchen. Sie hatten wegen der Größe diskutiert, hatten ihn dann nach Hause getragen und seine üppigen, stacheligen Äste mit Schmuck verziert, der das Jahr über in einer speziellen Kiste aufbewahrt wurde. Dabei hatte ihre Mutter jedes einzelne Teil gewürdigt. Da war ein Stern, den Katie in der Schule gebastelt hatte, als Rosie geboren worden war. Ein schiefer Engel, den Rosie an jenem Weihnachten, an dem sie einen schlimmen Asthma-Anfall gehabt hatte, im Krankenhaus gebastelt hatte. Und dann waren da noch die seltsamen und wunderbaren Teile, die ihr Vater von seinen Reisen mitgebracht hatte. Ein mit bunten Steinen besetztes Kamel, das im Licht glitzerte, mundgeblasene Glasfiguren, die er auf einem Basar in Kairo gekauft hatte.
In diesem Jahr würde es keinen Stern geben. Keinen Baum, der mit Erinnerungen geschmückt war.
Katie blinzelte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so emotional zu werden. Gleich würde sie sich an Jordans Schulter ausweinen. Sie konnte sich vorstellen, wie er darauf reagieren würde. »Danke fürs Abholen, Jordan.«
»Wirst du mir verzeihen, dass ich dich aufgezogen habe?«
»Vielleicht im nächsten Jahrhundert.«
»Gut zu wissen, dass du Humor hast.« Er holte ihren Koffer aus dem Wagen. »Ich bring ihn dir hoch.«
»Ich habe schon unter Beweis gestellt, dass ich meinen Koffer selbst tragen kann. Und angesichts der Tatsache, dass ich mich damit nicht an einem Seil hochziehen muss …« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »… schaffe ich das allein.« Tatsächlich freute sie sich nicht darauf, ihren Koffer zu tragen, weil ihre Schulter noch immer schmerzte, aber sie hatte noch einen anderen, gesunden Arm und würde sich lieber beide Schultern auskugeln, als Jordan um Hilfe zu bitten.
»Die Brücke könnte vereist sein. Sie räumen sie jeden Tag, aber manchmal ist es …«
»Sag’s nicht. Da lebt ein Troll im Wasser, der ab und zu herausspringt und mich fressen könnte. Ich schaff das schon.« Ein Lichtstrahl erhellte ihre Umgebung, und als sie aufsah, erblickte sie Rosie, die im Türrahmen stand. Ihre Schwester trug einen warmen grobgestrickten Pullover, enge Jeans und dicke Socken. Katie spürte Liebe in sich aufwallen, so stark, dass es ihr fast den Atem verschlug. Immer wenn sie Rosie nach längerer Zeit wiedersah, erinnerte sie sich an sie als Kleinkind. Anhänglich. Vertrauensvoll. »Danke, Jordan. Wir sehen uns auf der Hochzeit.«
Es tat ihr nicht leid, ihn zurückzulassen. In den fünf Stunden mit ihm im Wagen hatte sie ein breiteres Gefühlsspektrum durchlebt als in den ganzen letzten fünf Monaten. Sie hoffte, dass sie nicht viel Zeit miteinander verbringen würden.
»Ich helfe dir über die Brücke.«
Katie riss der Geduldsfaden. »Weil ich eine Frau bin? Weil du glaubst, dass ich wegen meiner DNA schlechter laufen kann als du? Du solltest wissen, dass ich als Jahrgangsbeste an der renommiertesten medizinischen Universität in London abgeschlossen habe. Pro Tag laufe ich im Schnitt zwanzigtausend Schritte und schaffe es, dabei nicht hinzufallen.«
»Ich glaube dir ja, aber das bedeutet nicht, dass du das richtige …«
»Das richtige was? Ich kann dir versichern, dass ich alles habe, was ich brauche.« Sie zerrte ihren Koffer über den Schnee und begriff sofort, dass dies nicht so einfach war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Zum einen war die Oberfläche nicht glatt. Offensichtlich war der Weg zuvor geräumt worden, doch seitdem war wieder Schnee gefallen, und es war glatt und eisig. Immerhin war der Bach gefroren, sodass sie nicht ertrinken würde, wenn sie fiel.
Während sie den Koffer hinter sich herzog, brach ihr der Schweiß aus. Und sie musste ihn noch diese bezaubernden, aber erschreckend gewundenen Stufen zur Eingangstür hochtragen. Um es noch schlimmer zu machen, beobachtete Jordan sie, was bedeutete, dass nicht nur ihre Knochen einen Knacks bekommen könnten, sondern auch ihr Stolz leiden müsste, wenn sie hinfiel.
Warum fuhr der Mann nicht einfach weg?
Als sie die Brücke erreichte, merkte sie, wie sie ins Rutschen geriet, und griff nach dem Geländer, doch das war unter einem Haufen Schnee versteckt. Ihre Beine rutschten weg, und sie fragte sich, ob Jordan der Typ Mann war, der betonte: Ich hab’s dir doch gesagt, als starke Arme sie auffingen und festhielten.
»Ich habe versucht, dir zu sagen, dass du nicht das richtige Schuhwerk anhast. Du bist sauer auf mich, das habe ich verstanden, aber nimm jetzt bitte meine Hilfe an, und sei später sauer auf mich.« Jordans Stimme drang an ihr Ohr, tief und beruhigend. Sie sollte ihr ein Gefühl von Sicherheit geben, doch irgendwie tat sie das nicht. Noch nie hatte sie jemanden gebraucht, und sie wollte auch jetzt niemanden brauchen, nicht einmal als Stütze auf einem eisigen Pfad. Sie benötigte dringend einen Beweis, dass sie noch dieselbe Person war, die sie immer gewesen war. Kompetent. Unabhängig.
»Ich bin mit Absicht ausgerutscht, um dir die Gelegenheit zu geben, mich zu retten und dich dann gut zu fühlen.« Da er sie dicht an seinem muskulösen Körper hielt, fühlte sie ihn lachen.
»Wie schon gesagt: Du hast echt Sinn für Humor. Und außerdem natürlich recht. Ich kann nicht schlafen, wenn ich im Laufe des Tages nicht mindestens zehn Bäume und fünf Jungfrauen in Not gerettet habe.«
Irgendetwas an seinem starken Körper war auf ärgerliche Weise tröstlich. »Wirke ich auf dich, als sei ich in Not?«
»Ja, auch wenn ich bezweifle, dass es viel mit dem Eis zu tun hat, und auch wenn ich weiß, dass du es mir nicht danken wirst, dass ich es bemerke.« Seine Stimme wurde weicher. »Lass den Koffer los und leg die Arme um meinen Hals, Katie.« Wie er ihren Namen sagte, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen.
»Ich werde dir weder jetzt noch sonst irgendwann die Arme um den Hals legen, außer um dich zu erwürgen.«
»In dem Fall …« Er ließ sie los. Sofort rutschten ihre Füße weg, und sie griff nach dem Revers seines Mantels.
»Verdammt.«
Etwas glomm in seinen Augen auf. »Weißt du, es ist völlig in Ordnung, ab und an ein bisschen Hilfe von jemandem anzunehmen.«
Die Betriebsärztin hatte das Gleiche gesagt. »Ich brauche keine Hilfe.«
»Hast du romantische Absichten?«
»Wie bitte?«
»Es muss einen Grund geben, warum du dich an meinen Mantel klammerst. Wenn du keine Hilfe brauchst, muss es daran liegen, dass du mich küssen willst. Oder vielleicht wartest du darauf, dass ich dich küsse.«
»Ich bin nicht der Typ, der wartet, Mr. Baumdoktor. Wenn ich dich küssen wollte, hätte ich das schon getan.« Wie würde er reagieren, wenn sie es tat? Und warum hatte sie überhaupt solche Gedanken? Vielleicht aus Verzweiflung. Schließlich war es fast sechs Monate her, dass sie einen Mann geküsst hatte, und die Anziehung war nicht ansatzweise so stark gewesen wie die zwischen ihr und Jordan. »Ich brauche etwas, an dem ich mich festhalten kann, das ist alles.« Sie keuchte kurz auf, als er sie hochhob und sich im Feuerwehrgriff über die Schulter legte. »Was machst du da?«
»Ich gebe dir die Hilfe, um die du nicht bitten willst. Meine Pflicht als Trauzeuge besteht darin, auf den Bräutigam aufzupassen. Wenn sich die Schwester der Braut beide Beine bricht, gefährdet das die Hochzeit. Außerdem möchte ich nicht, dass meinem besten Freund eine Klage droht.«
»Ich hasse dich.«
»Ja, ich weiß.« Dennoch setzte er sie nicht ab.
Als sie mit den Fäusten auf seinen Rücken trommelte, hörte sie ihre Schwester lachen.
Um die Demütigung noch größer zu machen, trug er mit seiner freien Hand mühelos ihren Koffer.
»Das ist unbequem. Du wirst wichtige innere Organe verletzen.«
Er ignorierte sie und ging weiter, wobei seine Stiefel die Oberfläche des Schnees durchbrachen.
»So, angekommen.« Sanft ließ er sie zu Boden. »Heile Knochen, alle Organe sind intakt, Temperament und loses Mundwerk funktionieren ebenfalls prächtig.«
Sie standen am Fuße der gewundenen Treppe, die zu der Terrasse hinaufführte.
»Mit meinem Mund ist alles in Ordnung, danke.«
Einen Augenblick sah er sie an, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Endlich sind wir uns mal einig.«
Sie war so verblüfft, dass sie verstummte.
Sein Lächeln wurde breiter. Dann nahm er ihren Koffer und lief die Stufen hinauf, als wöge er nichts.
Sie hörte ihn lachen und ein paar Worte mit Rosie wechseln, dann stand er wieder vor ihr.
Bevor sie sich rühren konnte, beugte er sich vor und fuhr mit den Lippen über ihre Wange. »Geben Sie’s ruhig zu, Frau Doktor. Ich stelle Ihre Welt auf den Kopf.«
»Meine Welt hat sich keinen Deut verändert. Nicht ein bisschen.«
Sein Blick fiel auf ihren Mund und verweilte dort so lange, dass sie einen Moment zu atmen vergaß. Wenn ein Patient eines der Symptome zeigte, die sie gerade aufwies, würde sie den roten Knopf für das Wiederbelebungsteam drücken und schreien: Ich brauche Hilfe!
Stattdessen sagte sie nichts.
Genau wie er.
Dann ließ er den Blick wieder zurück zu ihren Augen wandern, und das Prickeln zwischen ihnen zog ihr fast den Boden unter den Füßen weg. Ihre Welt stand nicht nur kopf, sie war erschüttert und völlig aus den Fugen. Aber das ergab keinen Sinn. Sie war eine Expertin darin, Männer abzublocken. Er sollte zurücktreten, ihr einen ähnlich eisigen Blick zuwerfen und zu dem Schluss kommen, dass sie eindeutig nicht sein Typ war. Er sollte sie nicht auf die Weise ansehen, so als wollte er sie …
In köstlicher Selbstvergessenheit neigte sie den Kopf. Ihr Mund näherte sich seinem, als würde er von einer unsichtbaren Kraft angezogen. Ihre Wimpern senkten sich.
Und dann, als sie dachte, das Herz würde ihr in der Brust zerspringen, ergriff er das Wort: »Viel Spaß mit deiner Schwester. Und du solltest Dan bitten, sich deine Schulter anzusehen, solange du hier bist. Ich weiß nicht, wie du sie dir verletzt hast, aber er ist ein sehr guter Sport-Physiotherapeut.«
Die Worte katapultierten sie zurück in die Gegenwart. Schnell öffnete sie die Augen, doch er stand nicht mehr vor ihr.
Was? Wo?
Benommen drehte sie sich um und sah ihm nach, wie er zum Wagen zurückging. Was war da gerade geschehen? War sie krank? Sie legte sich die Hand auf die Stirn. Sie sollte Fieber messen und vielleicht ein paar Bluttests machen. Einen Scan. Sie musste doch krank sein, oder? Einen anderen Grund für ihre merkwürdigen Symptome gab es nicht.
Hatte er es bemerkt?
Reiß dich zusammen, Katie.
Sie starrte ihm nach, und jeder seiner selbstbewussten Schritte nervte sie. Und wie konnte er von ihrer Schulter wissen? Rutsch auf dem Eis aus, verdammter Kerl.
»Nicht mal einen winzigen Ausschlag auf der Richterskala«, rief sie ihm hinterher. »Und ich wäre auch ohne dich über die Brücke gekommen. Heil und gesund.«
Das Letzte, was sie hörte, bevor er einstieg, war lautes Lachen.
Verdammt sollte der Kerl sein!
Wenn sie ihn niemals wiedersah, war das immer noch zu früh.
Vorsichtig ging sie die Stufen hinauf – nicht weil sie befürchtete, sie könnten rutschig sein, sondern weil ihre Beine offenbar vergessen hatten, wozu sie da waren.
Und jetzt lag ein weiteres Problem vor ihr. Was sie mit ihrer Schwester tun sollte. Mit ihrer romantischen, verträumten Schwester. Wenn sie Rosies Blut unter dem Mikroskop untersuchen würde, wären ihre roten Blutkörperchen wahrscheinlich wie Herzchen geformt.
»Beeil dich, die ganze Wärme zieht raus«, rief Rosie von der Tür des Baumhauses herunter. »Warum brauchst du so lange?«
Katie war nicht sicher, ob es einen klinischen Fachbegriff gab, der ihre derzeitigen Symptome umriss. Sie begriff, dass Rosie nicht hatte sehen können, was geschehen war. Die umlaufende Terrasse hatte Schutz vor neugierigen Blicken geboten.
»Ich komme!« Sie schleppte sich die letzten Stufen hinauf. »Wo ist meine kleine Schwester?« Als sie den Terrassenabsatz erreichte, wurde sie sofort mit einer Umarmung empfangen. Rosie zog sie so fest an sich, dass sie um ihre Rippen fürchtete. Sie wollte gerade protestierten, da hatte sie plötzlich eine Haarsträhne von ihrer Schwester im Mund. »Hey. Ebenfalls schön, dich zu sehen. Au. Das ist ein kräftiges Willkommen.« Sie wischte sich das Haar aus dem Mund und versuchte sich aus der Umarmung ihrer Schwester zu lösen. »Gehst du ins Fitnessstudio? Du hast mich fast zerquetscht.«
»Ich freue mich, dich zu sehen, das ist alles. Und natürlich gehe ich ins Fitnessstudio. Mein Verlobter ist ein Sportfanatiker. Schlaffis sind nicht erlaubt. Komm rein, sieh dir dein neues Zuhause an, und erzähl mir, was du von Jordan hältst. Ich kann kaum glauben, dass du dich von ihm hast tragen lassen!«
»Ich hatte keine große Wahl.«
»Ist er nicht süß?« Rosie öffnete die geschnitzte Tür des Baumhauses, und Katie zog den Koffer über die Schwelle.
»Nervig trifft es eher.« Sie versuchte, nicht an Jordan zu denken, und sah sich im Raum um. Ein riesiger Weihnachtsbaum ragte bis zu der hohen Decke. Winzige Lichter schimmerten in den Ästen, und Baumschmuck glitzerte und leuchtete. Passend zum Waldthema bestand der Schmuck aus zarten Blättern, kleinen Vögeln und Schmetterlingen, die in allen Perlmuttfarben schimmerten oder silbrig funkelten. Ehrfürchtig starrte Katie den Baum an. »Okay, das stellt den künstlichen Baum, den ich online bestellt habe, in den Schatten.«
»Du hast einen künstlichen Baum gekauft? Warum?«
»Weil ein echter bei mir eingehen würde.« Und sie hatte keinen weiteren Tod auf ihrem Gewissen haben wollen. »Dieser sieht aus, als hätte ihn ein Innenarchitekt geschmückt.«
»Das ist alles Catherines Werk. Sie schmückt für jedes Baumhaus einen Baum und sechs für die Gemeinschaftsräume in der Snowfall Lodge.«
»Sie hat auf jeden Fall Talent.« Der Baum war perfekt, doch noch immer fühlte Katie einen Stich, wenn sie an den Schmuck dachte, der normalerweise bei ihnen zu Hause am Baum hing. Vielleicht waren die einzelnen Stücke nicht perfekt, doch sie erzählten alle eine Geschichte. »Sie hat deine Hochzeitsplanung übernommen?«
»Ja, zum Glück. Allein hätte ich das nicht geschafft.«
Katie blickte aus dem Fenster und fragte sich, ob Catherine ihre Schwester unter Druck setzte. Rosie war so liebenswürdig, sie würde nie jemandem sagen, dass er sich zurückhalten sollte.
Draußen schneite es, eine Flocke nach der anderen trudelte in einer sanften Pirouette vom Himmel. »Wie in einer Schneekugel.«
»Ist es nicht herrlich? Wenn ich könnte, würde ich immer hier wohnen. Ich beneide Jordan.«
Katie wollte nicht an Jordan denken und besonders nicht an jenen beschämenden Moment, als sie ihm ihre Lippen dargeboten hatte.
Sie beugte sich hinunter, um ihre Stiefel auszuziehen. »Wie fühlst du dich?«
»Womit?«
»Mit der Hochzeit. Hast du deine Meinung geändert? Denn du kannst immer …«
»Nein!« Drohend funkelte Rosie sie an. »Hör auf. Ich bin glücklich, Katie. Ich liebe Dan, und ich hoffe, du wirst ihn ebenfalls lieben.«
»Ich bin sicher, das werde ich, aber lass uns darüber nicht länger grübeln. Wo ist er?«
»Du wirst ihn rechtzeitig kennenlernen.«
Katie wollte ihn jetzt kennenlernen. Die Hochzeit war in weniger als einer Woche, und die Uhr tickte. Je näher der große Tag heranrückte, desto schwerer würde es werden, diesen Schlamassel aufzulösen. Sie wusste, dass Rosie die Hochzeit auf keinen Fall in letzter Minute absagen würde. Sie war der Typ, der weitermachen und heiraten würde, weil sie niemandes Gefühle verletzen wollte. Aber Katie wusste, dass sie sie nicht zu sehr drängen durfte. Gemach, gemach, Katie. »Wie geht es allen anderen? Hat Mum den Flug überlebt?«
»Sie hatte ein bisschen Hilfe.«
»Du meinst Dad?«
»Nein, eher den Alkohol. Sie war tatsächlich betrunken, als sie aus dem Flugzeug gestiegen ist. Kannst du dir das vorstellen?« Rosie warf sich auf das gemütliche Sofa und streckte die Beine aus. »Sie war so peinlich, dass ich fast die Wagentür geöffnet und sie auf die Straße geschubst hätte.«
»Warum war es peinlich? War Dan sauer?«
»Nein, Dan war nicht sauer, aber ich. Wenn dein Verlobter deine Mutter kennenlernt, wünschst du dir nicht gerade, dass sie betrunken ist.«
»Warum? Hattest du Angst, er würde dich verlassen, weil er dachte, deine Mutter hätte ein Alkoholproblem?«
Vielleicht war ihre Mutter gar nicht betrunken gewesen. Vielleicht hatte sie nur so getan, um den Charakter ihres zukünftigen Schwiegersohns zu testen.
Nein, so dachte ihre Mutter nicht. Und Rosie hatte ihre Liebenswürdigkeit geerbt.
»Ich hatte keine Angst, dass Dan mich verlässt. Was ist los mit dir?« Rosies Wangen röteten sich, und sie reckte das Kinn. »Bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass diese Beziehung das Beste ist, was mir je passiert ist?«
»Nein, und ich möchte nicht so denken. Du bist die Romantikerin in der Familie. Ich bin die Pragmatische, erinnerst du dich?« Katie ging zum Kaminfeuer und wärmte sich die Hände. Ihr war kalt, innen wie außen.
»Du meinst, du bist die Pessimistin. Warum gehst du immer davon aus, dass alles schiefgeht? Das Leben hat auch schöne Seiten, Katie.«
Sofort verspürte Katie Schuldgefühle. Sich mit ihrer Schwester zu zerstreiten war das Letzte, was sie wollte. »Tut mir leid.« Zerknirscht drehte sie sich zu Rosie um. »Ich bin müde, schlecht gelaunt, und die letzten Wochen waren hart.«
»Oh nein!« Besorgt schwang Rosie die Beine auf den Boden und stand auf. »Meinetwegen?«
»Nein, nicht deinetwegen. Glaub es oder nicht, Schwesterchen, ich habe ein Leben, in dem du nicht vorkommst.«
»Warum waren die letzten Wochen hart? Erzähl es mir.«
Katie begriff, dass sie selbst in die Falle getappt war, und suchte nach Ausflüchten. »Es war viel zu tun bei der Arbeit. Mach dir keine Gedanken deswegen.«
»Bist du sicher? Denn du kannst es mir erzählen, das weißt du.«
Als Schwestern hatten sie sich immer nahegestanden, auch wenn Katie sich bewusst war, dass ihre Beziehung sich von der mit Vicky oder anderen Freundinnen unterschied. In ihren Gefühlen für Rosie schwang etwas Mütterliches mit. In der Beziehung mit ihrer Schwester war sie diejenige, die Unterstützung bot, nicht diejenige, die Unterstützung suchte. Nie zuvor hatte sie über eigene Probleme gesprochen und würde jetzt nicht damit anfangen. Sie war die Starke. »Da gibt es nichts zu reden«, sagte sie. »Es geht mir gut.«
»Na ja, du bist jetzt im Urlaub, also kannst du für ein paar Wochen aufhören, Ärztin zu sein.«
Sie hatte vor mindestens einem Monat aufgehört, Ärztin zu sein, doch das wusste ihre Schwester nicht. »Einmal Ärztin, immer Ärztin. Benutzt du deinen Inhalator?«
»Ja. Ich bin nicht blöd. Ich hatte seit Ewigkeiten keinen Anfall mehr, also kannst du aufhören, dir Sorgen zu machen.«
Das, dachte Katie, wird nie geschehen.
Sie blickte hinauf in das hohe Dach des Baumhauses. »Also, wo ist Dan? Wann werde ich den Kerl kennenlernen, der meine Schwester von den Socken gehauen hat?« Sie wollte ihn unter die Lupe nehmen. Sie hätte auch nichts dagegen, einige seiner Zellen unter dem Mikroskop zu vergrößern. Vielleicht konnte sie ihm ein Haar ausreißen, um es für Tests ins Labor zu schicken.
»Morgen.«
»Warum nicht jetzt?«
»Er ist drüben in der Lodge und erledigt dringenden Papierkram. Du bist seit vierzehn Stunden unterwegs und sagtest, du wünschst dir Schwesternzeit.«
»Ja, stimmt, aber das können wir später nachholen. Ruf ihn an. Hol ihn rüber. Bis er da ist, habe ich geduscht und bin wieder ein Mensch.«
Rosie schaute sie an, als wären ihr Hörner gewachsen. »Ich dachte, du wolltest ins Bett. Ich wollte Käse, Wein und ein frühes Zubettgehen vorschlagen.«
»Ich nehme den Käse und den Wein. Das Bett kann warten. Ich möchte Dan kennenlernen.« Die Zeit lief. »Was ist mit Mum und Dad? Wo sind sie jetzt?«
»Mom war den größten Teil des Tages mit Catherine shoppen, was interessant gewesen sein muss mit ihrem Kater. Sie haben in der Stadt zu Mittag gegessen, sodass sie und Dad einen ruhigen Abend haben. Sie sind auch davon ausgegangen, dass du früh ins Bett möchtest, weshalb wir uns alle morgen zum großen Familienfrühstück in der Snowfall Lodge treffen, um den Hochzeitsablauf zu besprechen.«
Katies Plan sah vor, dass es keinen Hochzeitsablauf geben würde.
»Shoppen? Das sieht Mum gar nicht ähnlich.« Erst verkündete ihre Schwester, dass sie heiraten wollte, und nun ging ihre Mutter shoppen? Was passierte hier mit ihrer Welt?
»Die Fluggesellschaft hat ihr Gepäck verloren. Wenn du sicher bist, dass du Dan kennenlernen willst, sage ich ihm, dass er herkommen soll.« Rosie lächelte und hielt dann mit dem Telefon in der Hand inne. »Du wirst ihn aber nicht verhören, oder?«
»Ich?« Katie setzte eine unschuldige Miene auf. »Wieso glaubst du das?«
»Erfahrungssache. Erinnerst du dich, wie du Anton verschreckt hast?«
»Anton?« Katie durchforstete ihr Hirn. »Dürrer Kerl, studierte Geografie? Ich habe ihm nur ein paar Fragen gestellt.«
»Offenbar so bohrend, dass er entschied, mich zu verlassen.«
Katie verspürte leichte Gewissensbisse. »War das meine Schuld?«
»Ja, und damals war er übrigens sehr verunsichert wegen der Scheidung seiner Eltern, weshalb wir überhaupt zusammengekommen sind. Ich fand ihn weinend in der Bibliothek und nahm ihn mit zu mir, um ihm einen Tee zu machen.«
»Und dann hat er sich auf dich fixiert, und du wolltest seine Gefühle nicht verletzen, wenn du ihm sagst, dass du nicht interessiert bist. Aber du warst nicht interessiert, oder?«
Rosie wurde rot. »Nicht besonders.«
»Genau. Also warst du mit ihm zusammen, weil er dir leidgetan hat.«
»So würde ich es zwar nicht unbedingt ausdrücken, aber es stimmt, dass er nicht mein Seelenverwandter war. Ich war achtzehn. Seitdem habe ich viel dazugelernt.«
Über die Risiken überstürzter Beziehungen? Offensichtlich nicht. »In puncto Männer triffst du nicht immer die besten Entscheidungen. Ich habe dir geholfen.«
»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass mir vielleicht all meine falschen Entscheidungen geholfen haben, dieses Mal die richtige zu treffen? Ich liebe Dan, Katie. Sei nett zu ihm. Ich möchte nicht, dass du wieder deine Rottweiler-Nummer abziehst.«
Das war das zweite Mal an diesem Tag, dass man sie einen Rottweiler nannte. Wenn es noch mal geschah, würde sie vielleicht zubeißen.
»Ich bin immer nett. Außer wenn ein Mann meine Schwester mitten in der Nacht in einem schäbigen Klub sitzen lässt. Ich gebe zu, dass das meine brutale Seite zum Vorschein bringt.«
Während Rosie Dan anrief, schlenderte Katie im Wohnzimmer herum und hielt vor dem Regal inne.
Sie wollte das Gespräch nicht mithören, doch es war unmöglich, es nicht mitzubekommen.
So registrierte sie auch, dass Rosies Stimme beim Sprechen weicher wurde. Ja, sie ist hier. Ja, bring doch gerne Pizza mit. Gute Idee. Nein, sie ist nicht zu müde.
Katie nahm ein Buch übers Bergsteigen aus dem Regal.
Ich liebe dich.
Da waren sie – die Worte, die sie noch nie zu jemandem gesagt hatte und vermutlich nie sagen würde.
Sie stellte das Buch zurück und drehte sich um, als ihre Schwester den Anruf beendet hatte. »Wo ist die Dusche?«
Sie folgte Rosie in ein Luxusbadezimmer mit einer frei stehenden Wanne, von der aus man einen wunderbaren Ausblick auf den Wald hatte. »Was, wenn hier jemand reinschaut?«
»Wird nicht passieren. Das hier ist ein privates Grundstück. Wenn du Glück hast, siehst du einen Elch.«
»Mm.« Katie schob ihre Schwester aus dem Badezimmer, zog sich aus und trat in die Dusche. In einem Baumhaus hätte sie ein bestenfalls rudimentäres Badezimmer erwartet. Einen dünnen Wasserstrahl, vermutlich kalt. Stattdessen wurde sie von kräftigen Wasserdüsen mit heißem Wasser massiert. Einen Moment stand sie da und ließ die Wärme in ihre Haut dringen. Dann wusch sie sich das Haar und verließ widerstrebend den heißen Dampf, der sich gebildet hatte.
Sie nahm sich zwei der flauschigen Handtücher von dem beheizten Handtuchhalter, schlang das eine um ihren Körper und das andere um ihr Haar.
Dann rieb sie den beschlagenen Spiegel frei und drehte sich um, um ihre Schulter ansehen zu können. Die Narben waren gut sichtbar. Nur im Handtuch aus dem Badezimmer zu gehen würde Fragen nach sich ziehen, die sie nicht beantworten wollte. Also nahm sie einen der Bademäntel, die an der Tür hingen.
Angemessen bedeckt trat sie aus dem Badezimmer. »Rosie?«
»Ich bin in deinem Schlafzimmer.« Rosie erschien aus einem der Zimmer neben dem Badezimmer. »Hier. Dies ist dein Schlafzimmer. Von dort überblickt man den Wald. Das andere ist auf der Galerie und wunderschön, aber das hier ist privater.«
Es war luxuriös und hatte grüne Vorhänge, die bis zum Boden reichten. Dadurch wurde das Zimmer irgendwie Teil des Waldes. Katie sah zum Bett und wünschte, sie könnte sich hineinfallen lassen.
Warum hatte sie nur darauf bestanden, Dan heute Abend kennenzulernen?
»Dieser Ort ist wunderbar.«
Rosie trat einen Schritt vor, um sie wieder zu umarmen. »Ich bin froh, dass du hier bist. Tut mir leid, dass ich Weihnachten zum Chaos mache.«
Ihr ganzes Leben war ein Chaos, nicht nur zu Weihnachten. »Die ganze Familie ist zusammen. Was brauchen wir mehr?«
Rosie trat einen Schritt zurück. »All diese Jahre, die wir am Fenster vom Honeysuckle Cottage saßen und auf Schnee hofften, um einen Schneemann bauen zu können. Und jetzt haben wir endlich weiße Weihnachten und all den Schnee, den man sich nur wünschen kann.«
»Wenn du das andeuten willst, von dem ich denke, dass du es andeuten willst, lautet die Antwort Nein. Ich bin zu alt, um einen Schneemann zu bauen.«
»Wie wär’s dann mit einer Schneeballschlacht?«
»Eindeutig zu alt dafür.«
»Schlittenhundefahrt? Schneeschuhwandern?«
»Vielleicht Schneeschuhwandern. Gibt es hier einen Föhn?«
Rosie holte einen, zusammen mit einem Paar dicker Socken in Creme und Grau. »Die hier sind ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk. Sie halten hier drinnen deine Füße warm. Ich bin im Wohnzimmer, wenn du fertig bist. Dan und Jordan sind in etwa zehn Minuten hier.«
»Warte – hast du gesagt, Dan und Jordan? Warum kommt Jordan mit?«
»Weil er und Dan gerade ein paar Unterlagen durchgegangen sind, als ich anrief. Und so oder so ist er Trauzeuge. Du musst ihn kennenlernen.«
»Ich habe mit dem Typen fünf Stunden im Wagen verbracht. Glaub mir, ich weiß alles, was ich wissen muss. Ich dachte, wir wären zu dritt. Ich wollte Dan kennenlernen.«
»Man kann viel über jemanden erfahren, wenn man sich die langjährigen Freunde ansieht. Dan und Jordan sind seit der Kindheit befreundet. Beeil dich, und zieh dir was an, sonst bist du nackt, wenn sie kommen.«
Katie wartete, bis Rosie das Zimmer verlassen hatte, und öffnete dann ihren Koffer. Sie zog Unterwäsche hervor, eine saubere Jeans und einen weichen weißen Pullover. Trotz des Schnees draußen war es im Baumhaus behaglich und warm.
Sie zog ihre Sachen an und föhnte sich die Haare.
Jordan würde mitkommen.
Das war unangenehm.
Sie zog die Socken von Rosie an und ging zurück ins Wohnzimmer mit dem eleganten Weihnachtsbaum. »Nicht in einer Million Jahren wäre ich in der Lage, einen Baum so perfekt aussehen zu lassen wie diesen. Es passt alles zusammen.«
»Ich weiß. Nicht wie unserer zu Hause. Mum hängt immer noch den Engel auf, den ich mit sechs in der Schule gemacht habe. Und dann ist da noch dieses Paillettending von dir.«
»Das ist ein Stern.« Sie berührte die Zweige und sog den Duft ein. Der Geruch allein reichte, um Weihnachtsgefühle heraufzubeschwören. Er rief Erinnerungen wach an Gelächter und gemütliche Tage, an denen sie Geschenke vor dem Kaminfeuer ausgepackt hatten. Plötzlich wurde sie von Nostalgie erfasst. War in der Vergangenheit alles einfacher gewesen, oder war das reines Wunschdenken?
Rosie schenkte Rotwein in zwei Gläser. »Mum und Dad haben sich ein bisschen merkwürdig aufgeführt.«
Katie nahm ein Glas entgegen und nippte daran. Sie wusste, dass sie auf dem Sofa einschlafen würde, wenn sie zu viel trank. »Wie meinst du das? Du weißt, dass Mum das Fliegen hasst. Vermutlich lag es an dem Drink. Unterschätze nie, wie sehr Alkohol die Persönlichkeit verändern kann. Bei der Arbeit erleben wir das ständig.«
»Wie ging es ihr, als du sie das letzte Mal gesehen hast?«
Katie nahm einen Schluck Wein. »Ich war lange nicht mehr zu Hause.« Noch etwas, das man ihrer Liste von Versäumnissen hinzufügen musste.
»Aber Mum kommt nach London, um mit dir zu Mittag zu essen.«
»Nicht seit deiner großen Abschiedsfeier im Sommer.«
Rosie stellte das Glas ab. »Du hast unsere Eltern seit dem Sommer nicht mehr gesehen?«
»Ich habe viel gearbeitet. Wir hatten einen Termin geplant für Oktober, aber dann …«
»Dann was?«
Katies Herz schlug höher. Sie erinnerte sich an die Hände um ihren Hals und wie er zugedrückt hatte. An den Schmerz in seiner Stimme und in ihrer Schulter. »Es wurde hektisch, und ich habe ihn abgesagt.« Sie hatte mit niemandem darüber sprechen können, was geschehen war. Und jetzt fühlte sie sich schuldig. Sie hätte Zeit für ihre Eltern finden sollen. Sie war eine schlechte Ärztin und auch keine besonders gute Tochter.
»Wusstest du, dass Mum ihren Job hasst?«
»Was? Wer hat dir das gesagt?«
»Mum hat es Dan erzählt, in einem ganz sachlichen Ton, als ob das etwas wäre, das wir alle hätten wissen sollen. Ich dachte immer, sie liebt ihren Job, oder?«
»Ich … ich habe nie darüber nachgedacht.« Als Katie klein gewesen war, war ihre Mutter immer da gewesen, wenn sie von der Schule nach Hause gekommen war, um ihr zu geben, was sie brauchte. Ein frisch gekochtes Essen, Hilfe bei den Hausaufgaben oder einfach ein offenes Ohr. Von ihrem Vater erinnerte sie, dass er kam und ging, doch ihre Mutter war die Konstante gewesen. »Bist du sicher, dass da nicht der Alkohol aus ihr sprach?«
»Es mag am Alkohol gelegen haben, dass sie es gesagt hat, aber das bedeutet nicht, dass es nicht so ist.«
»Ich würde mir keine Gedanken machen. Wegen des Fluges war sie vermutlich insgesamt verunsichert.«
»Ich hasse den Gedanken, dass Mum sich bei ihrer Arbeit schlecht fühlt.«
»Wenn sie sich so schlecht gefühlt hätte, hätte sie gekündigt.« Oder nicht? Katie fühlte sich auch schlecht, und sie hatte nicht gekündigt, oder? Es war nicht einfach, mit etwas aufzuhören, das man schon sein ganzes Erwachsenenleben tat.
Rosie schlenderte zum Fenster. »Sie sind hier. Mit zwei großen Pizzaschachteln. Immer ein gutes Zeichen.« Sie winkte ausgelassen und strahlte über das ganze Gesicht. »Ich habe ihn erst vor ein paar Stunden gesehen, aber es fühlt sich an, als sei es ewig her. Ist das kitschig?«
»Nein, das ist nicht kitschig.« Es war beängstigend. »Ich kann’s gar nicht erwarten, ihn endlich kennenzulernen.«
Sie hörte Männer lachen, schwere Schritte, dann öffnete ihre Schwester die Tür, und ein Schwall kalter Luft kam herein. Rosie schlang die Arme um einen großen dunkelhaarigen Mann, dessen Schultern mit Schnee bedeckt waren.
Unbehaglich stand Katie neben ihnen, während sie sich küssten.
Ihr Blick traf den von Jordan.
Einen Moment lang sah er sie an und überreichte ihr dann die Pizzaschachteln, zog die Stiefel aus und hängte seinen Mantel auf. Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. »Hallo, Dr. Frost.«
»Wie nett.« Sie lächelte süßlich und ging an ihm vorbei zu dem Mann, der ihre Schwester umarmte. »Hallo.« Sie streckte ihm die freie Hand hin. »Ich bin die angsteinflößende große Schwester. Katie.«
Dan befreite sich aus Rosies enthusiastischer Umarmung und schüttelte ihr die Hand. »Schön, dich endlich kennenzulernen.«
Nach den Fragen, die sie ihm stellen wollte, würde er das vielleicht anders sehen. »Wollen wir uns beim Essen unterhalten? Die Pizza riecht gut, und ich komme um vor Hunger.«
»Wir holen Teller.« Rosie ergriff Dans Hand, und gemeinsam gingen sie in die Küche. Gelächter und Geklapper ertönten, während Katie verlegen neben Jordan stand.
»Sie sind süß zusammen, oder?«
Sie biss die Zähne zusammen. »Ja, allerliebst.«
»Nun schaut euch an, ihr flüstert schon miteinander, als würdet ihr euch ewig kennen.« Rosie stellte Teller auf den Tresen, legte Servietten dazu und öffnete die Pizzaschachteln. »Lasst uns essen, solange die Pizzas noch heiß sind. Drüben in der Snowfall Lodge haben sie einen Pizzaofen.« Sie schob die Schachtel in Katies Richtung. »Das ist die beste Pizza, die du je essen wirst. Und bevor du mir wegen meiner Ernährung in den Ohren liegst, dies ist eine seltene Belohnung.«
Katie setzte sich auf einen Stuhl. »Also, Dan«, begann sie und nahm sich ein Stück Pizza. »Erzähl mir alles. Ich möchte alles über dich erfahren und darüber, wie du Rosie kennengelernt hast.«
Jordan warf ihr einen scharfen Blick zu, worauf sie lächelte und ihre Zähne in das Stück Pizza grub. Rottweiler.
Lächelnd schenkte Dan für alle Wasser ein. »Willst du die zensierte oder die unzensierte Version?«
Rosie stöhnte auf. »Sag so etwas nicht zu meiner Schwester.«
»Zensierte Versionen sind für Eltern.« Katie kaute und genoss den Geschmack von geschmolzenem Käse, reifen Tomaten und viel Oregano. Rosie hatte recht. Die Pizza war köstlich. »Ich weiß nur, dass du als Personal Trainer arbeitest.«
»Stimmt. Ich war gerade mit einem Kunden fertig, als ich Rosie entdeckte.«
Erstaunt sah Katie ihn an. »Meine Schwester? In einem Fitnessstudio?«
Rosie errötete. »Ich war gerade in Boston angekommen und hatte mir vorgenommen, ein wenig gesünder zu leben.«
Dan bediente sich bei der Pizza. »Ich sah, dass sie nicht gut in Form war, und ging rüber, um ihr zu helfen. Wir kamen ins Gespräch. Sie wollte ein Fitnessprogramm, war aber nicht sicher, ob es das Geld wert wäre, wenn sie stattdessen genauso gut im Park laufen gehen konnte. Dann erzählte sie mir, wie schwer es als Kind gewesen war, ihr Asthma zu kontrollieren, und wie wichtig es wäre, dass sie trainierte, um gut in Form zu sein.« Er griff nach einer Serviette. »Und sie erzählte mir, wie schlecht sie sich zum Training motivieren konnte. Mir gefiel gleich von Beginn an, wie offen und vertrauensvoll sie war.«
In Katies Kopf schrillten die Alarmglocken. »So ist sie halt, und zwar zu jedem – vom Postboten bis zu dem Menschen, der im Supermarkt hinter ihr in der Schlange steht.«
»Stimmt doch gar nicht.« Rosie blitzte sie an und griff nach ihrem Wein.
»Du glaubst, die ganze Welt ist gut und dass man jedem trauen kann.«
»Ich glaube nicht, dass die ganze Welt gut ist, aber eben auch nicht, dass alles schlecht ist. Und normalerweise kann man Menschen vertrauen.«
»Meiner Erfahrung nach leider nicht.« Gern hätte sie hinzugefügt: Und nach deiner auch nicht, entschied aber, dass ein solcher Kommentar zu einem gewaltsamen Rauswurf führen könnte. Nicht durch Dan, der bemerkenswert entspannt wirkte, wohl aber durch Jordan, der sie eindringlich und mit grimmiger Miene ansah. Sie hatte das Gefühl, dass er sie sich wieder über die Schulter werfen würde, wenn sie etwas Falsches sagte. Beim nächsten Mal würde sie ihm auf die Nieren schlagen.
Freundlich blickte Dan sie an. »Rosie sagte mir, du arbeitest in der Notaufnahme. Ist bestimmt nicht einfach.«
Hände um ihren Hals. Das Geräusch von klirrendem Glas. Du nennst dich eine verdammte Ärztin? Ich bring dich um, du Schlampe. Plötzlich war ihr der Appetit vergangen, und sie legte ihr Pizzastück auf den Teller. »Nein, ist es nicht.«
»Rosie ist so stolz auf dich, nicht wahr, Liebling?« Dan griff nach Rosies Hand.
Fasziniert beobachtete Katie, wie er mit dem Daumen sanft über ihre Handfläche strich.
Die beiden sahen sich an und tauschten einen so persönlichen und intimen Blick, dass Katie das Gefühl hatte, sie sollte den Raum verlassen.
»Hier.« Jordan schenkte ihr nach. »Trink.«
Sie fragte sich, ob er sich ebenso unbehaglich fühlte wie sie. »Ich hatte schon ein Glas.«
»Dann trink halt noch eins. Vielleicht wirst du dann ein bisschen lockerer.«
»Ich bin locker.«
Er hob eine Braue. »Wie bist du denn, wenn du angespannt bist?«
»Angsteinflößend.« Sie griff nach ihrer Pizza und räusperte sich. Rosie und Dan ließen einander los. »Also, Rosie hat dir erzählt, dass sie eine Couch-Potato ist, und du hast die Möglichkeit gesehen, deinen Kundenstamm zu erweitern.«
Jordans Augen verengten sich, doch Rosie lachte und sah Dan bewundernd an.
»Er brauchte keine weiteren Kunden. Er hatte schon eine Warteliste.«
»Und trotzdem hast du es offenbar irgendwie ganz nach oben auf die Liste geschafft.« Fehler Nummer eins, dachte sie. Es war nicht sehr professionell, ihre Schwester zu bevorzugen.
»Kunden mit medizinischen Problemen haben bei mir immer Priorität.« Dan schenkte sich mehr Wasser ein. »Ich wusste, dass ich ihr helfen konnte. Es geht nur darum, herauszufinden, was Menschen motiviert. Das ist der beste Teil des Jobs.«
»Und es war so toll, mit ihm zu arbeiten«, schwärmte Rosie. »Du weißt, wie sehr ich es hasse zu trainieren. Viel lieber liege ich auf dem Sofa, esse Donuts und sehe Filme, doch Dan hat es geschafft, dass ich Spaß daran habe, mich sportlich zu betätigen, und fitter werden möchte. Die Trainingseinheiten wurden schnell zu meinem täglichen Highlight. Wir konnten auch über alles reden.« Sie griff nach seiner Hand. »Erinnerst du dich an diesen Abend, als wir ganz spät trainiert und so lange gequatscht haben, bis das ganze Studio leer war und die Lichter ausgeschaltet wurden?«
Dan lächelte. »Klar erinnere ich mich.«
Katie zog eine Grimasse. Die beiden konnten nicht aufhören, sich anzufassen. Wie bekamen sie jemals etwas erledigt? »Und wie bist du nach deinem Late-Night-Training nach Hause gekommen?«
Verblüfft sah Rosie sie an. »Dan hat mich nach Hause gebracht.«
»Oh. Okay.« Immerhin hatte er ihre Schwester sicher nach Hause begleitet. Daran konnte sie nichts Falsches erkennen. »Und was hat dich in erster Linie an meiner Schwester angezogen, Dan?«
Rosie verschluckte sich fast. »Was für eine Frage ist das denn?«
»Eine übergriffige«, mischte Jordan sich ein.
Für einen Typen, der angeblich ein ruhiges Outdoor-Leben führte, schien er außergewöhnlich angespannt.
Im Wagen hatte er recht entspannt gewirkt. Vielleicht lag es an ihr. Vielleicht brachte sie das Schlechteste in ihm zum Vorschein. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie eine solche Wirkung auf einen Mann hatte.
Dan ignorierte ihn. »Als ich Rosie das erste Mal sah, kämpfte sie mit einem Laufband.«
»Das war eine komplizierte Maschine«, verteidigte sich Rosie. »Ich wollte nur laufen.«
Dan beugte sich vor. »Laufen ist natürlich gut, aber Fitness ist mehr als Ausdauer. Ich wusste, dass es helfen würde, wenn ich Rosie dazu bringen würde, mit Gewichten zu arbeiten. Erinnerst du dich an den ersten Tag?« Er lächelte Rosie zu. »Du hattest dein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, und die Hälfte war herausgerutscht. Ich war die ganze Zeit von diesen super gestylten und selbstbewussten Frauen umgeben, die alle CEOs oder Rechtsanwältinnen sind, und dann bist du aufgetaucht – und warst so erfrischend anders. So sanft und freundlich.«
Oh ja, dachte Katie. Das war Rosie.
Rosie sah sie nicht an. Sie blickte zu Dan. »Und du hattest Muskeln, wie ich sie nie zuvor gesehen habe. Ich war eingeschüchtert.«
Katie runzelte die Stirn. »Eingeschüchtert?«
»Eingeschüchtert von seiner Fitness.«
»Okay, dann bist du also seinem knackigen Körper verfallen und seinen Versprechungen, dich in eine Fitnessgöttin zu verwandeln.«
»Nicht nur das. Wir konnten gut miteinander reden.«
Dan beugte sich vor und küsste sie. »Ich brauchte gerade mal zehn Minuten, um festzustellen, dass Rosie ebenso klug wie schön ist.«
Katie nahm ein weiteres Stück Pizza. Hatte irgendjemand sie schon einmal so angesehen, wie Dan ihre Schwester ansah? Nein, und wenn es jemand getan hätte, hätte sie ihn zum Arzt geschickt. »Dann ist dir Aussehen also wichtig?«
»Nicht unbedingt, aber wenn du fragst, ob ich deine Schwester schön finde, dann ja, das tue ich.«
Katie kaute. »Arbeitest du schon lange in deinem Studio?«
»Fünf Jahre. Davor war ich Rudertrainer, und davor habe ich selbst gerudert – im College.«
»Hast du ein Haus oder eine Wohnung?«
»Ich habe ein kleines Apartment in der gleichen ruhigen Gegend, in der ich aufgewachsen bin.«
»Wie lange hast du in deiner Wohnung gewohnt?«
»Vier Jahre. Willst du Referenzen?« Dan klang amüsiert, doch Rosie starrte sie wütend an. »Hör auf! Was ist bloß los mit dir, Katie?«
»Sie überprüft, ob ich beim Weihnachtsmann auf die Artig- oder die Unartig-Liste gehöre.« Dan zwinkerte Katie zu, und sie musste unwillkürlich lächeln. Zumindest wirkte er sehr ausgeglichen.
»Ich lerne Dan kennen, das ist alles. In weniger als einer Woche werdet ihr heiraten, und wir sind verwandt. Ich möchte ein bisschen über die Menschen wissen, die ich Familie nenne.«
»Na ja, es wirkt aber eher wie ein Verhör.« Offenbar peinlich berührt, nahm Rosie einen großen Schluck Wein, und Dan legte die Hand auf ihre.
»Das ist in Ordnung. Entspann dich. Unsere Beziehung hat sich recht schnell entwickelt. Da ist es nur verständlich, dass deine Familie Fragen hat.«
»Mum und Dad haben dich praktisch nichts gefragt.«
Katie nippte an ihrem Glas. Warum nicht? Immerhin schien er gut zu ihrer Schwester zu sein, das musste sie ihm zugestehen.
»Tut mir leid, wenn das wie ein Verhör gewirkt hat. War nicht meine Absicht.«
Jordan stieß einen missbilligenden Laut aus, doch als sie ihn ansah, war seine Miene ausdruckslos, was sie mit einem übertrieben freundlichen Lächeln quittierte.
Über Dan hatte sie sich noch keine Meinung gebildet, aber Jordan stand eindeutig auf der Unartig-Liste.