Nach einer unruhigen Nacht erwachte Rosie früh.
In der Hoffnung auf eine Umarmung rollte sie zur Seite und erinnerte sich dann, dass sie nicht mit Dan im Bett lag. Sie befand sich im Baumhaus bei ihrer Schwester. Es hatte ein gemütlicher Abend werden sollen, an dem sie wie in alten Zeiten neuesten Tratsch austauschten, doch es hatte sich anders entwickelt.
Anstatt in Pyjamas heiße Schokolade zu trinken, war die Atmosphäre angespannt gewesen, und Rosie hatte sich elend gefühlt.
»Du magst Dan nicht«, hatte sie gesagt, als Katie die Küche aufgeräumt hatte und zu Bett gehen wollte.
»Ich habe nie gesagt, dass ich ihn nicht mag. Ich kenne ihn nicht, das ist alles.«
»Warum kannst du ihn nicht mit der Zeit kennenlernen, wie normale Menschen das eben machen?«
»Weil du bereits in ein paar Tagen heiratest.«
»Genau. Ich heirate ihn. Ich bin diejenige, die den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wird, was geht es dich also an?«
»Ich liebe dich und möchte, dass du glücklich bist. Ich habe Angst, dass du einen Fehler begehst. Nach nur drei Monaten kannst du ihn gar nicht richtig kennen.«
»Genauso lange kannten sich Mum und Dad, als sie geheiratet haben.« Und diese Tatsache bekräftigte sie in dem Glauben, dass ihre Beziehung funktionieren konnte und nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. »Sie sind seit mehr als dreißig Jahren zusammen, Katie. Du weißt, wie glücklich sie miteinander sind. Auf dem Weg vom Flughafen haben sie sich im Wagen fast die Kleider vom Leib gerissen, was ich nicht unbedingt noch mal erleben möchte, wenn ich ehrlich bin, aber es beweist, dass sie nach all den Jahren noch immer selig und glücklich sind. Wenn sie das schaffen, warum nicht auch wir?«
»Ich bin sicher, dass du das kannst.« Katie sah erschöpft aus. »Tut mir leid. Ignorier mich, Ro. Ich liebe dich, das ist alles. Du bist meine kleine Schwester, und der Gedanke, dass du unglücklich sein könntest, macht mir Angst. Es kann sein, dass ich gelegentlich ein wenig überreagiere.«
Rosie spürte Liebe in sich aufwallen. »Sehr. Du reagierst sehr über.«
»Ich bin müde. Die lange Reise. Verzeihst du mir?«
»Natürlich.« Erleichtert umarmte Rosie sie. Ein Zerwürfnis mit ihrer Schwester war das Letzte, was sie wollte. »Schlaf ein bisschen. Morgen kommen wir in der Snowfall Lodge alle zu einem großen Familienfrühstück zusammen, und danach fahren wir mit dem Schneemobil in den Wald.«
Am Ende hatte Rosie nur wenig geschlafen. Die kleine Flamme des Zweifels, die ihre Schwester entfacht hatte, flackerte noch immer in ihrem Kopf.
Als sie erwachte, war sie genauso müde, wie sie es am Abend zuvor gewesen war. Sie wünschte, sie wäre mit Dan aufgewacht. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Wenn sie ihn vermisste, musste das bedeuten, dass sie ihn liebte. Diese Gefühle, mit denen sie am Flughafen gekämpft hatte, schienen verschwunden zu sein.
Sie griff nach ihrem Handy, um ihm zu schreiben, und sah, dass er ihr zuvorgekommen war.
Ich vermisse dich, Liebes.
Ihre Augen waren feucht, als sie ihm zurückschrieb.
Ich vermisse dich auch.
Seine Antwort kam sofort.
Ich hoffe, du hast Spaß mit deiner Schwester.
Bislang nicht, aber das wird sich heute hoffentlich ändern.
Begierig, alle Unstimmigkeiten auszubügeln, ging sie unter die Dusche, zog sich an, machte einen Kaffee und brachte ihrer Schwester einen Becher.
Sie öffnete die Tür, und Katie, die sich gerade den Pyjama auszog, kreischte auf und griff nach einem Bademantel.
»Klopfst du nie an?«
Seit wann klopften sie an? Und warum schlang Katie den Bademantel um sich, als hätte sie etwas zu verbergen? Es war nicht ungewöhnlich für sie, ein Schlafzimmer zu teilen.
»Tut mir leid.« Wieder war das Band zwischen ihnen verletzt. Sie stellte den Kaffee auf den Nachttisch. »Ich dachte, du wolltest Kaffee. Wir treffen uns im Wohnzimmer, wenn du angezogen bist.«
Was war nur los mit Katie? Lag es daran, dass Rosie einen Mann heiratete, den sie noch nicht lange kannte, oder steckte mehr dahinter?
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und zog gerade ihre Handschuhe an, als Katie auftauchte.
»Sorry. Ich wollte dich nicht anschnauzen. Du hast mich überrascht, das ist alles.« Sie ging zur Tür und zog sich Mantel und Stiefel an. »Erinnerst du dich, als du klein warst? Du bist am Weihnachtsmorgen zu mir ins Bett gekrochen und hast mein Augenlid hochgezogen, um festzustellen, ob ich wach bin.«
Rosie war erleichtert, dass ihre Schwester wieder normal schien. »Weil Mum uns sagte, dass ich meinen Strumpf nicht auspacken dürfte, bis du wach bist.«
»Also dachtest du dir, du hilfst mir.« Katie schlang Rosie ihren Schal um Mund und Nase. »Ich möchte nicht, dass du kalte Luft einatmest und so vielleicht ein Anfall ausgelöst wird.«
In Rosies Liebe für ihre Schwester mischte sich Frustration. Sie hatte Katie seit dem Frühsommer nicht mehr gesehen und war überrascht, dass ihre Schwester nicht bemerkte, wie sehr sie sich in dieser Zeit verändert hatte. Aber vielleicht brauchte es Zeit. Bevor sie Dan kennengelernt hatte, hatte sie in einem Notfall immer zuerst Katie angerufen. Seit sie in den USA war, rief Rosie nur zum Klönen an. Sie fühlte sich kräftiger. Selbstbewusster. Und sie wusste, dass dies an Dan lag.
Wenn sie erst einmal ein paar Tage miteinander verbracht hatten, würde Katie hoffentlich erkennen, wie sehr sie sich verändert hatte.
»Lass uns gehen. Ich weiß, dass Mum und Dad es gar nicht erwarten können, dich zu sehen, und ich möchte, dass du Dans Familie kennenlernst. Und es wird dir gefallen, draußen im Wald zu sein.« Außerdem konnte sie es kaum erwarten, allein mit Dan zu sein. Zugegebenermaßen würde das auf einem Schneemobil sein, aber das war besser als nichts. Und vielleicht würde er irgendwo halten, sodass sie sich ein paar Augenblicke allein im verschneiten Wald stehlen konnten. Der Gedanke hob ihre Stimmung. »Entweder gehen wir zu Fuß zur Snowfall Lodge, was ungefähr zehn Minuten dauert, oder jemand holt uns ab, wenn du das vorziehst.«
»Lass uns gehen.« Katie zog ihre Stiefel an, und sie verließen das Baumhaus, stapften die Stufen hinab und gelangten zu dem Pfad zwischen den Bäumen. »Ich war noch nie verliebt, aber in diesen Ort könnte ich mich verlieben.«
»Als Dan mich das erste Mal hergebracht hat, war ich sofort verliebt. Die Blätter wechselten gerade die Farbe, es war spektakulär. Ich dachte, der Herbst wäre meine liebste Jahreszeit, doch jetzt ist es der Winter.« Rosie hielt an, um einen Tannenzapfen aufzuheben, und gab ihn ihrer Schwester. »Schnee überall. Tannenbäume. So sollte Weihnachten sein, meinst du nicht?«
»Vielleicht.« Katie drehte den Tannenzapfen in ihrer Hand hin und her. »Wo werdet du und Dan wohnen, wenn ihr verheiratet seid? Habt ihr schon darüber gesprochen?«
Rosie schob die Hände in die Taschen ihres Mantels. Nein, sie hatten nicht darüber geredet. Sie hatten über gar nichts gesprochen, aber das zuzugeben würde die Besorgnis ihrer Schwester nur steigern. »Wir werden in seinem Apartment wohnen, so wie jetzt.« Sie zögerte. »Ich komme immer noch zu Besuch nach Hause. Und du kannst jederzeit vorbeischauen und bei mir wohnen.«
»Klingt gut.« Katie steckte den Tannenzapfen ein. »Wir sehen besser nach, was Mum und Dad vorhaben.«
Sie gingen durch das Foyer der Snowfall Lodge, vorbei an dem riesigen Weihnachtsbaum und dem Kamin und hinauf in den obersten Stock.
Das Esszimmer schien voll von Menschen, und der Tisch bog sich unter der Last von Essen.
Von ihren Eltern war keine Spur zu sehen.
»Hier ist sie! Die wunderschöne Braut.« Mit großen Schritten kam Catherine auf sie zu und umarmte sie fest. »Wir wollten schon einen Suchtrupp losschicken, Liebes. Und dies muss deine Schwester sein, Katie. Oder soll ich Dr. White sagen?« Sie umarmte Katie herzlich.
»Eindeutig Katie.« Verlegen erwiderte Katie die Umarmung. »Ich bin nicht im Dienst. Zumindest hoffe ich das.«
»Rosie hat uns so viel von dir erzählt. Und Maggie und ich hatten gestern auch einen ausgiebigen Plausch. Ich habe bereits das Gefühl, dich zu kennen. Sie hat mir von dem Buchstabierwettbewerb an der Schule erzählt, bei dem du einen Fehler gemacht hast und so wütend auf dich selbst warst, dass du dich vierundzwanzig Stunden in dein Zimmer eingeschlossen hast. Und wie du immer, wenn du dich verschrieben hast, gleich die ganze Seite rausgerissen hast. Ich bin genauso. Ich will alles perfekt haben. Das hat Dans Vater immer verrückt gemacht, aber ich bin ein sehr detailverliebter Mensch, und alles muss stimmen. Jetzt komm, und lern alle kennen. Von meiner Seite ist meine Mutter da, Dans Großmutter, Granny Sophie. Und ihre Schwester, Großtante Eunice. Von der Seite von Dannys Vater …« Sie zog Katie durch den Raum und stellte sie allen vor.
Katie wirkte ein bisschen verstört. Rosie konnte es ihr nicht verdenken. Catherine war der netteste Mensch, den sie je kennengelernt hatte, doch manchmal war das Zusammensein mit ihr, als stünde man direkt vor einem Schneepflug. Wenn man nicht schnell auswich, wurde man plattgemacht.
Immerhin bombardierte Katie sie bislang noch nicht mit Fragen über Dan.
Sie war charmant zu allen, und nach ein paar Minuten blickte sie sich suchend im Zimmer um.
»Catherine, hast du meine Eltern gesehen?«
»Maggie rief an und sagte, dass sie sich ein wenig verspäten. Vermutlich liegt das an der erlesenen französischen Wäsche, zu deren Kauf ich deine Mutter gestern überreden konnte.« Catherine zwinkerte ihr vieldeutig zu. »Jordan ist auf dem Weg, sodass er sie mitnehmen kann.«
Rosie versuchte, das Bild ihrer Mutter, die in sexy Unterwäsche um das Baumhaus stolzierte, aus ihrem Kopf zu verscheuchen.
»Jordan?« Katies freundliches Lächeln erstarrte.
»Glaub mir, deine Eltern sind sicher bei ihm. Jeder ist sicher bei Jordan. Er ist wie ein Sohn für mich. Und was der Junge nicht über Bäume weiß, ist das Wissen auch nicht wert. Ich sagte deiner Mutter, dass sie ihn bei ihrer Begeisterung für den Garten mit Fragen bestürmen sollte. Katie, bedien dich beim Essen, Liebes. Halt dich nicht zurück. Die Pancakes sind exzellent, der Schinken wird hier in der Lodge geräuchert, und der Ahornsirup stammt von den Bäumen von Großtante Eunice, also solltest du das nicht verpassen.«
»Klingt gut. Sag mal, Catherine, wie war Dan als Kind?«
»Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, Kinderfotos rauszuholen.« Rosie zog ihre Schwester fort, bevor Catherine antworten konnte, und lenkte sie zum Buffet. »Iss. Füll deinen Mund. Alles, damit du aufhörst zu reden.«
Sie stapelte gerade Pancakes auf ihren Tellern, als ihre Eltern im Türrahmen auftauchten – Hand in Hand.
Sie hatten beide rosige Wangen und waren außer Atem, als ob sie sich beeilt hätten. Mit der freien Hand zupfte ihre Mutter an ihrer Kleidung herum, als hätte sie sich in aller Eile angezogen.
»Tut uns leid, wir sind zu spät. Wir haben völlig die Zeit vergessen.«
Rosie war peinlich berührt. Genug jetzt! Doch hoffentlich würde diese Zurschaustellung ehelicher Harmonie ihre Schwester zum Schweigen bringen. Sie goss Sirup auf ihre Pancakes und beugte sich zu Katie. »Siehst du? Turteltauben, auch nach fünfunddreißig Jahren noch.«
Katie nahm einen Bissen Pancake. »Normalerweise stellen sie ihre Zuneigung nicht so demonstrativ zur Schau. Vor allem nicht in der Öffentlichkeit.«
Rosie füllte Heidelbeeren auf Katies Teller. »Hier, ein bisschen Vitamin C. Du siehst blass aus. Mum erzählte Catherine, dass sie dies als zweite Flitterwochen betrachten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das romantisch oder peinlich finde. Warum runzelst du die Stirn?«
»Weil es ihnen gar nicht ähnlich sieht, romantisch zu sein. Letztes Jahr hat Dad Mum eine Geschirrspülmaschine zu Weihnachten geschenkt.« Sie drückte Rosie ihren Teller in die Hand und durchquerte den Raum, um ihre Eltern zu begrüßen.
Rosie stellte beide Teller ab und folgte ihr.
Sie sah, wie ihr Vater den Arm um Katies Schulter legte und sie an sich drückte. Ihre Schwester zuckte zusammen und löste sich.
Rosie stutzte. Hatte sie sich die Schulter verletzt?
Sie realisierte, dass Katie seit ihrer Ankunft praktisch nichts von sich erzählt hatte, nur dass es bei der Arbeit stressig und anstrengend war.
»Meine Mädchen! Ich habe euch so vermisst.« Ihre Mutter zog sie beide in eine Umarmung, bevor sie den Kopf wandte, um Katie zu küssen. »Es ist so lange her, dass wir euch beide zusammen gesehen haben.«
Und das beschäftigte Rosie ebenfalls. Sie war in den USA gewesen, doch welche Entschuldigung hatte Katie? Warum hatte sie ihre Eltern seit dem Sommer nicht mehr besucht?
»Hey.« Dan erschien, frisch geduscht und die Haare noch feucht. Er ging direkt auf Rosie zu und küsste sie auf den Mund. »Hast du alle Pancakes aufgegessen?«
Sie spürte, wie ihre Anspannung wich, wie so oft, wenn sie mit Dan zusammen war.
»Ich bin sicher, dass wir ein paar übriggelassen haben.« Sie griff nach seiner Hand, ging zurück zum Tisch und füllte einen Teller. »Da wir jetzt einen Moment allein haben, möchte ich sagen, dass es mir leidtut wegen gestern Abend. Ich weiß, dass Katie es übertrieben hat, aber sie tut das nur, weil sie mich liebt.«
»Schon okay.« Er löffelte Heidelbeeren auf den Teller, den sie hielt. »Du musst dich für gar nichts entschuldigen.«
»Du bist nicht sauer auf sie? Sag mir, dass du meine Schwester nicht hasst.«
Er nahm ihr den Teller ab und stellte ihn auf den Tisch. Dann zog er sie in die Arme. »Ich hasse deine Schwester nicht. Im Gegenteil! Ich finde es toll, dass ihr so viel an dir liegt. Du hast Glück, sie zu haben.«
Und sie hatte Glück, ihn zu haben. Warum konnte Katie das nicht sehen?
Sie hatten keine Gelegenheit, weiter miteinander zu reden, weil sich seine Mutter zu ihnen gesellte, um über Einzelheiten der Hochzeit zu sprechen.
Dan aß, während sie redeten, und nach dem Frühstück gingen sie zur Rückseite des Hotels, wo die Schneemobiltouren arrangiert wurden.
Catherine hatte Daunenanzüge und Helme für alle besorgt. »Ihr denkt vielleicht, dass sie nicht sehr schmeichelhaft aussehen, aber ihr werdet dankbar sein, wenn ihr draußen in der Kälte und dem Wind seid.«
»Wohin fahren wir?«, erkundigte sich Katie, während sie in ihren Anzug stieg.
»Zu den Maroon Bells.« Dan half ihr mit dem Helm. »Berge. Du wirst deine Kamera mitnehmen wollen.«
»Fahre ich selbst mit dem Schneemobil? Brauche ich keinen speziellen Führerschein oder so was?«
»Nein. Keinen Führerschein. Wir dachten, dass du dieses Mal vielleicht lieber Passagierin sein möchtest.« Dan zog ihr Kopfband enger. »Auf diese Weise hast du all den Spaß und kannst die Aussicht genießen.«
»Klingt gut. Wer ist der beste Fahrer?«
Catherine lachte. »Mein Dan. Jordan ist natürlich auch gut, doch er fährt mir zu schnell. Immer wenn ich mit ihm unterwegs bin, wird mir schlecht.«
»Ich fahre mit Dan«, sagte Katie. Rosie wollte sagen, dass sie mit Dan fuhr, doch ihre Schwester schwang schon ihr Bein über das Schneemobil und legte die Hände auf Dans Taille.
Wählte Katie ihn, weil er der sicherste Fahrer war, oder war das eines ihrer Kennlern-Spielchen?
Andererseits würde es ihnen vielleicht guttun, Zeit miteinander zu verbringen. Immerhin würde Katie dann sehen, welch toller Mensch Dan war, und mit ihren Verhören aufhören. Sie würden bald verwandt sein. Und da sie sie beide liebte, wollte sie, dass sie sich verstanden.
Sie sah, wie ihre Eltern ungeschickt ein Schneemobil bestiegen, ihre Mutter auf dem Fahrersitz. Schnell wandte sie sich ab und wollte selbst auf eines steigen.
Jordan winkte ihr. »Komm mit mir. Du siehst müde aus. Hattest du eine schlechte Nacht?«
»Ja, schlecht geschlafen.« Sie ging hinüber zu ihm, der Schnee knirschte unter ihren Füßen. »Das hier sollte mich wach machen.«
»Vielleicht schläfst du heute Nacht besser bei Dan. Die Braut sollte keine dunklen Ringe unter den Augen haben.«
»Keine Chance. Ich habe meine Schwester seit dem Sommer nicht mehr gesehen. Ich möchte wirklich mit ihr quatschen, aber gestern Abend war sie …«
»… wie ein Hund, der seinen Knochen verteidigt?«
»Ich wollte sagen, sehr beschützend. Sie möchte sichergehen, dass ich das Richtige tue. Wir müssen miteinander reden, das ist alles.«
»Es ist deine Beziehung, Rosie, nicht ihre«, erklärte er sanft. »Deine Meinung ist die einzige, die zählt. Solange du dir sicher bist, dass du das Richtige tust, ist nur das wichtig.«
Sie war sich sicher. Oder nicht? War sie sich sicher? Sie wünschte, die Leute würden aufhören, sie danach zu fragen. Je mehr sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie.
»Ja, ich bin mir sicher.« Hatte er ihr Zögern gespürt? Was, wenn er etwas zu Dan sagte? Sie sollte die ganze Sache mit Dan bereden, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie es ansprechen sollte. Die Pläne für die Hochzeit waren praktisch fertig. In wenigen Tagen würden die Floristen das Esszimmer der Snowfall Lodge in ein magisches Winterwunderland verwandeln, passend zu einer Märchenhochzeit.
Nirgendwo in diesem Szenario gab es Raum für eine Panikattacke der Braut.
»Warum fährt deine Schwester bei Dan mit?«
»Ich nehme an, sie möchte Zeit mit ihm verbringen.«
Er bestieg das Schneemobil. »Ich bringe deine Schwester wieder zurück. Auf diese Weise habt Dan und du ein bisschen Zeit zu zweit.«
»Danke. Seid ihr beide auf dem Weg vom Flughafen miteinander klargekommen?«
Jordans Miene blieb unverändert. »Ja, wir sind gut klargekommen, mach dir keine Sorgen. Jetzt lass uns fahren, bevor wir zu weit zurück sind, um sie einzuholen.«
Sie schlang die Arme um seine Taille, während sie über den Schnee rasten und dem präparierten Weg folgten, der durch das Tal in die Berge führte, durch Espenhaine und riesige glitzernde Schneefelder, die im Sommer Wiesen waren, auf denen Wildblumen in allen möglichen Farben blühten.
Heute erstrahlte die Landschaft in tausend verschiedenen Weißtönen.
Die Berge erhoben sich aus den Fichten- und Tannenwäldern, und die zerklüfteten, schneebedeckten Gipfel spiegelten sich silbrig schimmernd auf dem teilweise zugefrorenen See.
Die Kälte biss in ihre Wangen und drang durch die dicken Kleiderschichten.
Sie erreichten den See, wo Katie und Dan bereits an einem Becher mit heißer Schokolade nippten.
»Das war unglaublich.« Katies Wangen waren gerötet, die Hände hatte sie um den Becher geschlungen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft wirkte sie glücklich und entspannt. »Welch ein perfekter Ort. Dan sagte, dass er oft vor der Morgendämmerung herkommt, um den Sonnenaufgang zu fotografieren.«
»Im Sommer ist es hier so überlaufen, dass man kaum einen Platz am Ufer findet«, sagte Jordan. »Selbst bei Sonnenaufgang.«
Groß und schlank, in einer weißen Winterjacke und schwarzen Skihosen, stand Catherine da und machte Fotos.
»Sie hat bereits Tausende Bilder«, meinte Dan. »Trotzdem macht sie immer noch mehr.«
»Ich richte hier im Frühjahr eine Hochzeit aus«, rief seine Mutter über die Schulter und stellte sich breiter hin, als sie eine Serie von Fotos schoss.
Rosie blickte sich um und entdeckte ihre Eltern, die ein Stückchen weiter weg einander gegenüberstanden. »Was machen sie da?«
Katie grinste. »Sie streiten sich. Offenbar ist Mum eine beängstigende Fahrerin. Dad sagte, dass er in der Wüste auf Kamelen geritten sei, die sanfter unterwegs waren. Das kam nicht gut bei ihr an.«
Rosie wollte nicht hören, dass sie stritten.
Sie wollte Beweise, dass sie noch immer selig und glücklich waren.
Wie aufs Stichwort stellte sich ihre Mutter auf die Zehenspitzen, um ihren Vater zu küssen. Und dann steckte sie ihm einen Schneeball in den Nacken.
Einen kurzen Moment stand ihr Vater erstarrt da, dann rächte er sich, indem er sich rasch bückte, einen Schneeball formte und Maggie jagte.
Sie rannte davon und fuchtelte mit den Armen, als sie sich durch den kniehohen Schnee mühte. Sie kreischte wie ein Teenager und versuchte, ihren Kopf und ihren Nacken zu schützen.
»Ich wusste gar nicht, dass sie so schnell laufen kann«, sagte Katie verhalten.
»Ich auch nicht. Autsch.« Rosie zuckte zusammen, als sie sah, dass ihr Vater aufholte. Er hielt ihre Mutter fest und einen riesigen Schneeball in die Höhe.
Ihre Stimmen drangen zu ihnen herüber.
»Denk dran, Mags, du hast damit angefangen.« Er stopfte ihr den Schneeball in den Nacken, und sie kreischte auf vor Kälte. Schnell schob sie mehr Schnee zusammen, während er sich duckte und lachte. Sie kabbelten sich weiter, duckten und bückten sich, um sich weiche Schneebälle entgegenzuschleudern, bis sie beide komplett mit Schnee bedeckt waren.
Rosie konnte sich nicht erinnern, ihre Eltern je so gelöst gesehen zu haben. Normalerweise machte ihre Mutter ein Aufhebens um sie und prüfte, ob es ihr gut ging, ob sie ihren Inhalator benutzte, ob sie auch keine Erkältung oder Grippe bekam. Seit ihrer Ankunft in Aspen schien Maggie verändert. Rosie konnte nicht genau sagen, was sich verändert hatte, doch irgendetwas war geschehen. Die Beziehung ihrer Eltern wirkte noch enger als zu der Zeit, als Rosie noch zu Hause gewohnt hatte. Vermutlich änderten sich Partnerschaften ebenso wie Menschen.
Rosie kuschelte sich in ihren Mantel und lächelte. Es war schön, sie so glücklich zu sehen, und das nicht nur, weil sie sich selbst dadurch besser fühlte.
Katie ging hinüber, um etwas zu Dan zu sagen, und Rosie wandte sich an Jordan.
»Benehmen sich deine Eltern auch so?«
»Ob sie sich gestritten haben? Oh ja, die ganze Zeit. Nur dass sie Teller und andere Gegenstände geworfen haben statt Schnee. Schließlich haben sie sich scheiden lassen, insofern schätze ich, dass sie es irgendwann leid wurden, mit Gegenständen zu werfen.«
Zum ersten Mal gab er etwas Persönliches von sich preis. Bislang hatte sie nur gewusst, dass er sich gern draußen aufhielt, dass er ein begabter Tischler und Dan für den größten Teil seines Lebens ein treuer Freund war.
Die Schreie ihrer Eltern verhallten im Hintergrund.
Sie berührte seinen Arm. »Das wusste ich nicht. Tut mir leid.«
»Muss es nicht.« Er steckte die Hände tief in die Taschen. »Es war eine Erleichterung für alle, die sie kannten. Man musste kein Beziehungsexperte sein, um zu wissen, dass sie niemals hätten zusammenkommen sollen.«
»Warum?«
»Weil sie einander nicht mochten. Alles, was sie tat, nervte ihn, und alles, was er tat, nervte sie. Keine gute Basis für eine Ehe. Wenn ich die Beziehung meiner Eltern in einem Wort zusammenfassen sollte, würde ich sagen: Verachtung.«
»Autsch. Ist das der Grund, warum du nie geheiratet hast?«
Eine kurze Pause entstand. »Ich war verheiratet, aber das ist lange her.«
»Was? Ich hatte ja keine Ahnung.« Sie sah ihn an, konnte seinem Profil aber nichts entnehmen. »Dan hat es nie erwähnt.« Warum nicht? Wie viele andere wichtige Dinge hatte er nicht erwähnt?
»Er weiß, dass ich es lieber vergessen würde. Und unsere Beziehung war kein bisschen wie die von dir und Dan, falls dich das beunruhigt.«
»Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Ich glaube, dass es ein Vorzug und kein Makel ist, leicht zu durchschauen zu sein. Normalerweise gebe ich keine Ratschläge, aber ich werde es trotzdem tun, weil Dan wie ein Bruder für mich ist und ich nicht möchte, dass er verletzt wird – genauso wenig wie du.« Jordan sah weiter starr geradeaus. »Vergleich deine Beziehung nie mit der von anderen. Die einzigen Menschen, die wissen, was in einer Ehe passiert, sind die beiden Betroffenen.«
Ihr Herz schlug gegen ihre Rippen. »Du glaubst, ich würde Dan verletzen?«
»Nicht absichtlich. Aber ich denke, dass du dich zu leicht von anderen beeinflussen lässt.«
Er hatte recht. »Ich … ich werde das beherzigen.«
»Und hier ist noch ein Rat: Wenn du dir wegen etwas Sorgen machst, beispielsweise wegen der Hochzeit, sprich mit Dan, nicht mit deiner Schwester.«
Das war ein guter Rat. Das war das, was sie tun musste.
»Magst du meine Schwester nicht?«
Eine kurze Stille entstand.
»Sie ist die erste Frau, die ich innerhalb der ersten fünf Minuten hätte umbringen können.«
»Oh.« Rosie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Es war so großzügig von dir, sie vom Flughafen abzuholen. Es tut mir leid, wenn sie … kratzbürstig war?«
»Das muss dir nicht leidtun. Sie liebt dich. Aber sie ist so damit beschäftigt, dich zu beschützen, dass sie nicht darüber nachdenkt, ob du ihren Schutz brauchst oder überhaupt willst.«
»Eigentlich ist sie der warmherzigste, netteste Mensch, den ich kenne.«
»Das glaube ich dir, aber lass sie nicht kaputtmachen, was du hast, Rosie.« Er sah sie an, die Augen voller Wärme. »Nicht, dass du an meiner Meinung interessiert sein solltest, denn die einzige Meinung, die zählt, ist deine. Aber zufällig weiß ich, dass du das Beste bist, was Dan je passiert ist.«
Rosie fühlte einen Schmerz in ihrer Brust. »Warum sagst du das?«
Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Weil ich seine anderen Freundinnen kennengelernt habe.«