KATIE

Verlegen stand Katie da, während die Frau an dem Kleid herumzupfte, das sie gerade anprobiert hatte.

»Es ist ein bisschen weit. Ihre Maße müssen sich geändert haben, seit sie sie Rosie geschickt haben.«

Katie strich über den Stoff an ihren Hüften. »Vielleicht habe ich abgenommen. Manchmal vergesse ich bei der Arbeit zu essen.«

Ungläubig schüttelte Rosie den Kopf. »Ich höre das oft, kann es aber absolut nicht nachvollziehen. Wie, bitte schön, kann man denn vergessen zu essen? Ist mir noch nie passiert.«

»Oft habe ich zu viel zu tun, und manchmal schlagen mir die Dinge, die ich sehe, auf den Magen.«

»Katie ist Ärztin in der Notaufnahme«, erklärte Catherine der Schneiderin. »Diese Frau ist eine Heldin.«

»Keine Heldin.« Katie wand sich, das Gespräch war ihr ebenso unangenehm wie das Kleid. »Es ist mein Job.«

»Nein. Es ist so viel mehr als das. Deine Mutter hat mir erzählt, wie du schon seit Rosies erstem Asthma-Anfall Ärztin werden wolltest. Sie ist so stolz auf dich. Gott sei Dank gibt es Menschen wie dich auf der Welt.« Catherine beugte sich vor und griff nach dem Stoff über ihrer Hüfte. »Ich glaube, hier könnten wir was abnähen.«

Katie hatte sich nie weniger als Heldin gefühlt als heute.

Ich bin eine Hochstaplerin, dachte sie. Nur eine Hochstaplerin.

»Ehrlich, das Kleid ist okay. Es sieht großartig aus. Besser als alles, was ich besitze, das kann ich dir sagen.« Es war schwer, still dazustehen. »Es ist nicht mehr genug Zeit, es anzupassen. Die Hochzeit ist in vier Tagen. Außer ihr wollt sie verschieben.«

Rosie riss die Augen auf. »Machst du Witze?«

»Ha! Natürlich mache ich einen Witz.« Sie machte keinen Witz. »Ich bin überrascht, dass ihr das alles innerhalb so kurzer Zeit auf die Beine gestellt habt, das ist alles. Das muss viel Stress für Catherine gewesen sein.«

»Es war Catherines Idee«, erklärte Rosie, und Katie wurde hellhörig.

War das der Grund, warum ihre Schwester das hier tat? Warum war ihr dieser Gedanke nicht früher gekommen? Vielleicht wurde sie von Catherine unter Druck gesetzt. Gut gemeinten Druck, aber dennoch …

»Ich liebe Winterhochzeiten«, sagte Catherine. »Und ich habe noch nie zwei Menschen erlebt, die verliebter als Rosie und Dan sind, deswegen erschien es mir richtig.«

Katie erschien es nicht richtig. Warum war sie die Einzige, die das Tempo dieser Hochzeit in Frage stellte?

Sie würde am liebsten die Hand heben und schreien: Halt, halt!

War das hier wirklich das, was Rosie wollte?

Zugegeben, bislang hatte Katie nichts über Dan erfahren, das ihr einen Vorwand lieferte, sich einzuschalten und die Vorbereitungen zu stoppen, doch das bedeutete nicht, dass da nichts war.

Vielleicht gab es Vorfälle aus seiner Kindheit, die Hinweise auf seinen Charakter lieferten.

»Eltern erzählen immer, warum sie stolz auf ihre Kinder sind«, sagte sie. »Über die Dinge, die ihnen peinlich sind, sprechen sie selten. Hat meine Mutter erwähnt, wie sie in die Schule beordert wurde, weil Rosie das Schulkaninchen aus seinem Käfig befreit hatte?«

Catherine lachte. »Das ist typisch Rosie.«

»Nicht nur ich hatte meine Momente.« Rosie nahm ihre Haare zusammen und musterte sich im Spiegel. »Das eine Mal musste Mum in die Schule, weil man dich beschuldigt hat, bei einer Prüfung betrogen zu haben. Du hast es abgestritten, und dann gab es diesen riesigen Krach. Du hast die Lehrerin angeschrien, weil sie dich eine Lügnerin nannte. Sie sagten, du müsstest Respekt lernen und nicht zu betrügen.«

»Daran erinnere ich mich. Ich war nie gut darin, mit Ungerechtigkeit umzugehen.«

»Mum wurde einbestellt«, erzählte Rosie an Catherine gewandt. »Sie wollten auch Dad sehen, doch er war auf einer Ausgrabung in Ägypten.«

Katie zuckte die Achseln. »Dad hat sich um diese Art von Dingen sowieso nie gekümmert. Das hat er unserer Mutter überlassen.«

»Ja, und sie bat um Einsichtnahme in deine Prüfung und sagte dann: Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass meine Tochter die Antworten kannte? Die Lehrerin sagte, dass es nicht möglich sei, eine perfekte Note zu bekommen. Also bat Mum sie, dich eine zweite Prüfung schreiben zu lassen, und wieder hattest du eine perfekte Note.« Rosie strahlte sie an. »Sie wusste immer, dass du superklug bist, und hat dafür gesorgt, dass das auch jeder andere begriff. Du hattest ihr gesagt, dass du Ärztin werden willst, und sie wollte alles in ihrer Macht Stehende tun, um dich zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass du dein ganzes Potenzial ausschöpfst.«

Und nun dachte Katie darüber nach, das alles fortzuwerfen. Ihre Arbeit. Die ganze Ausbildung. Die Tätigkeit, die sie schon ein Drittel ihres Lebens ausübte.

Sie würde ihre ganze Familie enttäuschen, besonders ihre Mutter.

Sie sollte mit ihnen reden, doch sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Hallo, Mum, ich weiß, wie stolz du bist, wenn du Leuten erzählst, dass deine Tochter Ärztin ist. Na ja, du musst ihnen jetzt sagen, dass deine Tochter ihren Job als Ärztin aufgegeben hat. Tut mir leid.

Nein, das würde nicht funktionieren. Und wenn diese Hochzeit stattfand, wollte sie nicht der Partykiller sein, indem sie von ihren eigenen Problemen sprach.

»Was ist mit Dan?« Langsam drehte Katie sich um die eigene Achse, während die Schneiderin den Saum begutachtete. »Hat er dich je in Verlegenheit gebracht?«

»Nein, aber seinetwegen habe ich ein paar weiße Haare bekommen. Ich schätze, das machen kleine Jungen einfach mit ihren Müttern.« Catherine trat einen Schritt zurück und schaute sie prüfend an. »Ich frage mich … Vielleicht eine Blume in deinem Haar?«

»War er unartig?«

»Eher abenteuerlustig als unartig. Als Kleinkind war ihm kein Möbelstück zu hoch. Überall ist er dran hochgeklettert. Und die Skipisten, die er runtergebrettert ist, konnten gar nicht steil genug sein. Außerdem war er sehr stur. Wenn er etwas wollte, konnte ihn nichts davon abhalten. Der Junge konnte Felsen mürbe machen.«

War es das? Hatte Dans Entschlossenheit, das zu bekommen, was er wollte, Rosie unter Druck gesetzt? Rosie hasste Konfrontationen. Es mochte in der Situation schwer für sie gewesen sein, den Mund aufzumachen.

Rosies Aufmerksamkeit galt dem Kleid, das Katie trug. »Ist die Farbe okay? Ist es das, was du dir vorgestellt hast? Ich hatte Angst, dass es dir nicht gefallen könnte.«

»Ich liebe es.« Das Kleid war von einem blassen, silbrigen Grau, das im Licht schimmerte. Unaufdringlich und elegant war es ein Stück, das Katie selbst für sich ausgesucht hätte, wenn sie denn Bedarf an einer solch eleganten Robe gehabt hätte. Nicht das Kleid bereitete ihr Sorgen. Vielmehr beunruhigte sie der Umstand, dass die Hochzeit bereits in vier Tagen stattfinden würde und sie noch immer nicht überzeugt war, dass Rosie keinen Fehler beging.

Ließ ihre Urteilskraft sie im Stich? Es wäre nicht das erste Mal. Doch dass ihre Schwester ihre Eltern als Beweis dafür anführte, dass eine stürmische Romanze auch auf lange Sicht überdauern konnte, beunruhigte sie. Man führte nur dann einen Beweis an, wenn man etwas in Zweifel zog.

Sie sollte keinen Beweis brauchen, oder? Sie sollte es wissen. Und wenn Rosie sich so auf die Hochzeit freute, warum wirkte sie dann so angespannt? Überlastet konnte sie nicht sein, denn Catherine schien die ganze Arbeit zu machen. Und das war ein weiterer Punkt, der Katie beschäftigte. Rosie war eine Romantikerin. Sie hatte mit ihren Puppen Hochzeit gespielt, hatte mit Gänseblümchen aus dem Garten Bouquets gestaltet. Sicherlich wollte sie bei den Einzelheiten für ihren großen Tag mehr mitreden?

»Das Glitzern macht es gefällig, glaube ich.« Catherine konzentrierte sich wieder auf das Kleid, während sie sich Notizen auf dem Handy machte. »Versuch es mit dem falschen Pelz statt mit dem silbernen Umhang. Der wird wärmer sein.«

Ohne nachzudenken, streifte Katie die Seide ab und hörte Rosie erschrocken aufkeuchen.

»Was ist mit deiner Schulter passiert?«

Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie ihre Schulter völlig vergessen hatte. »Nichts.«

»Nichts? Katie, du hast eine riesige Narbe. Du hast dich verletzt.«

»Ich bin gestürzt, das ist alles, und es heilt gut.« Katie griff nach dem Pelzumhang und schenkte Catherine ein dankbares Lächeln. »Kein Drama.«

Aber natürlich ließ Rosie die Sache nicht einfach so auf sich beruhen. »Wie gestürzt? Wo?«

»Durch eine Glastür. Ich Dummkopf. Vergiss es, es ist peinlich. Ich liebe diesen Pelz.« Sie drehte sich seitwärts und musterte sich in den verspiegelten Wänden des Ladens. »Er ist warm und glamourös, findest du nicht?«

Rosie sah den Pelz nicht einmal an. »Warum solltest du durch eine Glastür fallen?«

»Ich habe das Gleichgewicht verloren. Ich hatte hochhackige Schuhe an. Du weißt, wie ich in solchen Schuhen bin. Tödlich.«

»Nein, das weiß ich nicht.« Rosie runzelte die Stirn. »Ich habe nie erlebt, dass du mit High Heels Probleme hast. Und ich habe nie erlebt, dass du das Gleichgewicht verlierst. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«

»Ich war müde nach einer langen Schicht.«

»Warum hast du High Heels überhaupt getragen? Hattest du ein Date?«

Katie verkniff sich ein hysterisches Auflachen. »Nicht unbedingt. Könnten wir über etwas anderes reden? Es war keiner meiner besten Momente.« Das war vermutlich ihre erste Aussage zu dem Abend, die der Wahrheit entsprach. »Dieser Pelz ist toll, findest du nicht auch, Catherine?«

»Mir gefällt er.« Einen Moment lang sah Catherine sie an und lächelte dann. »Wir müssen überlegen, was wir mit deinem Haar machen. Dein Schnitt ist … ungewöhnlich.«

Dankbar, dass Catherine den Themenwechsel unterstützte, befühlte Katie ihre Haarspitzen. »Das liegt daran, dass ich es mit der Küchenschere geschnitten habe.« Sie bemerkte, wie Dans Mutter das Gesicht verzog. »Ich weiß. Es ist eine Schande, aber was sollte ich machen? Es hat mich genervt, und ich hatte keine Zeit, zum Friseur zu gehen. Die Schere war sauber, versprochen.«

Man musste ihr zugestehen, dass sich Catherine schnell wieder im Griff hatte. »Ich schätze, wir sollten dankbar sein, dass es kein Skalpell war. Und es ist nichts, was unsere Stylistin in der Lodge nicht wieder in Ordnung bringen kann. Ich rufe sie gleich an, und sie kann dich heute Nachmittag einplanen. Ich dachte an eine lockere Hochsteckfrisur zur Hochzeit.« Sie nahm Katies mit der Küchenschere geschnittenes Haar und drehte es sanft zusammen. »Etwas Raffiniertes und Hübsches. Rosie, zeig deiner Schwester dein Kleid.«

Katie fragte sich, ob Rosie es merkwürdig fand, Kleider anzuprobieren, ohne dass ihre Mutter dabei war. Und wie ging es ihrer Mutter damit?

Offenbar hatten ihre Eltern eine andere Verpflichtung und unternahmen etwas Romantisches.

Rosie verschwand und tauchte in ihrem Hochzeitskleid wieder auf.

Katie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete – eine Gefühlsaufwallung, die ihr die Sprache verschlug. Liebe. Sie hatte ihr Herz erfüllt, seit ihre Mutter ihr die neugeborene Schwester vorsichtig in die Arme gelegt hatte. Sei vorsichtig. Stütz ihren Kopf. Lass sie nicht fallen. Sie war groß geworden mit der Erfahrung, dass Liebe mit Angst verbunden war. Sie hatte sie im Gesicht ihrer Mutter gesehen, als ihre Schwester ihren ersten Asthma-Anfall gehabt hatte. Und danach immer wieder, wenn ihre Schwester anfing zu keuchen. In der Notaufnahme hatte sie schon viele Dinge gesehen, aber es gab kaum etwas Beängstigenderes, als keine Luft mehr zu bekommen. Als Kind hatte sie ihre Mutter aufmerksam beobachtet und bemerkt, wie sie ruhig blieb, obwohl sie keineswegs ruhig war. Katie hatte das imitiert, ohne zu wissen, dass sie diese Fähigkeit bei verängstigten Patienten und besorgten Angehörigen zukünftig wieder und wieder einsetzen würde. Sie hatte ruhig neben Rosies Bett gesessen, von allen vergessen und ignoriert, und zwar die medizinischen Ausdrücke nicht verstanden, wohl aber die ernsten Mienen des Ärzteteams interpretieren können. Manchmal schien ihr Körper nicht groß genug zu sein, um all die Liebe zu fassen, die sie für ihre Schwester empfand. Sie hatte nicht nur das Gewicht des zerbrechlichen Bündels in ihren Händen gespürt, sie spürte es in ihrem Herzen.

Fiel es ihr deshalb so schwer, eine längere Beziehung mit jemandem einzugehen?

Schreckte sie unbewusst vor einem solch intensiven und beängstigenden Gefühl zurück?

Hatte sie irgendwann begonnen, die Liebe abzuwehren?

Oder vielleicht nicht Liebe, aber Verletzlichkeit. Sie hatte nicht verletzlich sein wollen, denn das erlebte sie ständig bei der Arbeit. Die Angst in den Augen eines Angehörigen, die Panik im Gesicht einer Patientin, die spürte, wie das Leben sich dem Ende neigte.

Ihre Erfahrungen bei der Arbeit hatten das gleiche Gefühl von Hilflosigkeit hervorgerufen, das sie als kleines Mädchen erlebt hatte. Unbewusst hatte sie eine Schutzschicht um ihr Herz gelegt, um den Schmerz weniger zu spüren.

Sie fühlte sich nicht gern verletzlich, doch genauso fühlte sie sich, als sie jetzt ihre Schwester ansah.

»Wow, du siehst …« Sie schluckte. »Du siehst hinreißend aus. Das Kleid ist hinreißend.«

»Ich liebe es auch.« Langsam drehte Rosie sich einmal um sich selbst, wobei sich das Licht in der elfenbeinfarbenen Seide spiegelte und ihr Haar schimmerte.

Catherine betrachtete sie. »Wenn ich deine Haare so offen sehe, überlege ich, ob du sie vielleicht so tragen solltest. Das passt mehr zu dir als eine Hochsteckfrisur, oder? Was meinst du, Katie?«

»Sie trägt sie gern offen.« Sie dachte an all die Male, die sie ihrer Schwester vor der Schule die Haare gemacht hatte. Zöpfe. Pferdeschwanz. Sie hatte das alles gelernt.

Catherine wickelte sich eine Strähne von Rosies Haar um den Finger und wog die Möglichkeiten gegeneinander ab. »Wir halten den Blumenschmuck einfach. Blattwerk und Zweige von hier, weiße Orchideen. Vielleicht könnte es mit Blumen in deinem Haar funktionieren.«

»Das klingt gut. Ach, Katie, ich habe übrigens vergessen, dir was zu sagen.« Rosie wandte sich ihrer Schwester zu. »Wir werden eine Bar für heiße Schokolade haben für Gäste, die sich aufwärmen müssen.«

Sie musste sich zusammenreißen.

»Dort wirst du mich finden. Dort oder neben dem Champagner. Catherine, würdest du ein Foto von uns beiden machen, das ich meiner Mutter schicken kann?«

Catherine machte das Foto, und Katie stand still, als die Schneiderin letzte Änderungen an ihrem Kleidersaum vornahm.

Schließlich waren sie fertig, und sie und Rosie bahnten sich durch den frischen Schnee einen Weg zum Wagen, während Catherine blieb, um letzte Einzelheiten zu besprechen. Rosie hakte sich bei Katie unter.

»Tut es weh?«

»Tut was weh?«

Rosie stöhnte frustriert und schloss den Wagen auf. »Manchmal könnte ich dich umbringen.«

Verständnislos sah Katie sie an. »Was?«

Rosie stieg ein, und Katie folgte ihr.

Der Wagen bot Schutz vor der Kälte, aber nicht vor ihrer Schwester.

Rosie zog ihre Handschuhe aus und blies sich in die Hände. »Das verletzt meine Gefühle, Katie. Ich erzähle dir fast alles, und es kränkt mich, dass du dich mir umgekehrt offenbar nicht anvertrauen kannst. Nicht«, sagte sie rasch, als Katie den Mund öffnete. »Sag mir nicht, es gäbe nichts zu erzählen, oder ich muss dich wirklich umbringen. In Wahrheit siehst du mich einfach nicht als ebenbürtig an, oder?«

Völlig überrumpelt schwieg Katie. Rosie hasste Konfrontationen und tat alles, um sie zu vermeiden.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Du behandelst mich nicht wie eine Schwester oder eine Freundin, du bemutterst mich. Das hast du schon immer getan.«

Sei vorsichtig. Stütz ihren Kopf. Lass sie nicht fallen.

»Ich beschütze dich, das stimmt.«

»Das tue ich bei dir auch, aber es besteht ein großer Unterschied zwischen beschützen und bemuttern. Es ist normal, Dinge vor unseren Eltern zu verbergen, jeder macht das. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu, und offenbar wollen wir sie nicht mit Geschichten aus dem wahren Leben erschrecken. Aber es ist nicht normal, es vor seiner Schwester zu verbergen. Wir sollten Dinge teilen, aber du lässt mich nicht teilhaben. Warum nicht? Vertraust du mir nicht?«

Katie hatte ihrer Schwester nie zuvor Rede und Antwort stehen müssen. »Natürlich vertraue ich dir.«

»Tatsächlich? Denn in den meisten unserer Gespräche fragst du mich aus. Ob ich den Inhalator benutze, ob ich im Krankenhaus war und ob ich sicher bin, dass ich diesen Mann heiraten will. Aber wann hast du dich mir jemals anvertraut?«

»Ich …« Sie schluckte. »Ich vertraue mich niemandem wirklich an.«

»Genau. Und warum nicht? Wir sind eine Familie, Katie. Ich bin nicht irgendeine Fremde, der du nicht vertrauen kannst.«

»Wir reden die ganze Zeit.«

Rosie zuckte die Achseln. »Immer wenn wir reden, analysierst du meine Probleme, und meistens möchte ich noch nicht mal, dass du sie analysierst. Ich will nicht, dass du dich in mein Leben einmischst.«

Sie kümmerte sich um sie, ja, aber sie mischte sich nicht ein. Oder?

Sie zwang sich, genauer darüber nachzudenken, und erkannte, dass es durchaus möglich war, dass Rosie ihr Eingreifen als Einmischung und nicht als liebevolle Sorge interpretierte.

»Ich schätze, ich teile meine Probleme nicht mit dir, weil ich dich schützen will.«

Ernst sah Rosie sie an. »Du musst mich nicht vor dem Leben beschützen, Katie. Ich lebe es, direkt neben dir. Wann haben wir uns das letzte Mal gemeinsam amüsiert?«

Bevor Katie Gelegenheit hatte, eine Antwort zu formulieren, tauchte Catherine auf. Katie war nicht sicher, ob sie frustriert oder erleichtert war über die Gnadenfrist. Vor allem war sie beunruhigt. Es sah Rosie gar nicht ähnlich, so in die Offensive zu gehen und die Konfrontation zu suchen.

Und nichts deutete darauf hin, dass sie sich entschuldigen oder nachgeben wollte. Sie griff nicht nach Katies Hand oder formte ein stummes Sorry mit den Lippen oder irgendwas von den Dingen, die Katie erwartet hätte.

Und wann hatten sie sich das letzte Mal gemeinsam amüsiert?

Während sie zurück zur Lodge fuhren, saß Rosie stumm neben ihr.

»Ich hoffe, eure Eltern haben Spaß«, unterbrach Catherine das Schweigen. »Mit dem Hundeschlitten zu fahren ist normalerweise ein Highlight für unsere Gäste.«

Katie konnte sich ihre Eltern nicht ansatzweise beim Schlittenfahren vorstellen, aber was wusste sie schon? Im Moment dachte sie nicht an ihre Eltern, sondern an ihre Schwester. Laut Rosie konnte man sich mit ihr nicht amüsieren.

Sie plauderte höflich mit Catherine und sah dann aus dem Fenster auf die Berge. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihre Schwester enttäuscht zu haben.

Trotz des Unbehagens zwang sie sich, ihre Beziehung zu analysieren. Es stimmte nicht, dass sie ihre Schwester nicht als ebenbürtig betrachtete. Vielmehr war es so, dass es ein Ungleichgewicht in ihrer Beziehung gab. Katie war zehn Jahre alt gewesen, als Rosie zur Welt gekommen war. Als Katie sechzehn gewesen war, war Rosie sechs geworden. Sie hatten ihre verschiedenen Lebensphasen zu unterschiedlichen Zeiten durchlaufen.

»Ich werde euch in der Snowfall Lodge absetzen, weil die Floristin um drei kommt«, sagte Catherine. »Katie, Becca kann sich erst um fünf um dein Haar kümmern, aber ich dachte, du und Rosie wollt in der Zwischenzeit vielleicht ein bisschen schwimmen gehen und euch massieren lassen. Sozusagen eure gemeinsame Zeit genießen.«

Ihre gemeinsame Zeit.

Wie sollte die aussehen?

Katie verlagerte das Gewicht auf ihrem Sitz. Es lag an ihr, etwas anders zu machen, und sie musste es jetzt tun. »Schwimmen klingt gut, aber ich habe keinen Badeanzug dabei.« Galt Schwimmen als amüsieren? Sie wusste es nicht.

»Wir verkaufen Badeanzüge und schwören auf die entspannende Wirkung des Wassers.« Catherine bog in die Straße zur Lodge ein. »Heute Abend gehen eure Eltern zu ihrem romantischen Dinner, und ich habe meine Buchgruppe, die ich nicht ausfallen lassen kann, weil es das letzte Mal in diesem Jahr ist und ich für das Essen verantwortlich bin. Kommt ihr zwei zurecht?«

Rosie nickte. »Ich werde mit Dan Abendbrot essen. Ist das in Ordnung für dich, Katie? Du kannst dir in deinem Baumhaus den Zimmerservice bestellen und bei einem Film entspannen.«

Nein, das war nicht in Ordnung. Plötzlich erschien es wichtig, dass sie und Rosie sich zusammen amüsierten.

»Da wir die Haare gemacht bekommen und aufgehübscht werden, sollten wir vielleicht ein letztes Mal als Single-Schwestern losziehen und tanzen gehen. Es muss doch etwas in Aspen geben, wo man tanzen gehen kann?«

»Tanzen?« Rosie sah sie an, als hätte sie vorgeschlagen, eine Kunstgalerie auszurauben.

»Ich finde, wir sollten feiern. Und es wäre schön, uns zusammen zu amüsieren.«

Ihre Schwester hielt ihrem Blick stand. »Gut.«

»Ich finde, das ist eine wunderbare Idee«, sagte Catherine. »In letzter Zeit geht es immer nur um die Hochzeit, die Hochzeit, die Hochzeit, und so hast du Gelegenheit, mit deiner Schwester zu entspannen. Dan wird das nichts ausmachen. Ihr zwei habt noch den Rest eures Lebens, um zusammen zu sein.«

Katie konzentrierte sich auf ihren Atem. Bei dem Gedanken, dass Rosie den Rest ihres Lebens mit einem Mann verbrachte, den sie kaum kannte, verspürte sie Panik. Aber sie würde sie ignorieren. Achtsamkeit. Meditation. Medikation. Was auch immer es brauchte. Sie würde nichts mehr dazu sagen. Rosie war erwachsen und in der Lage, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Vielleicht hatte ihre Schwester recht. Vielleicht nahm sie ihre Beschützerinnenrolle zu ernst. Und was verstand sie schon von der Liebe? Nichts. Auch war sie nicht sicher, ob sie Ahnung davon hatte, wie man sich amüsierte, doch sie war entschlossen, es zu lernen.

Den Nachmittag verbrachten sie in dem beheizten Dachpool der Snowfall Lodge. Unter der Glaskuppel hatte man das Gefühl, als wäre man direkt in den Bergen.

Sie und Rosie hatten den Pool ganz für sich allein. Als Katie ins Wasser stieg, wärmte es ihre Haut und linderte die Spannung in ihren Muskeln.

Sie achtete darauf, Körper und Schultern unter Wasser zu halten, während sie die zerklüfteten Berge und die verschneiten Baumspitzen bewunderte. Als ob man die Welt weiß angemalt hätte.

Unter anderen Umständen hätte sie sich fast entspannen können.

Rosie trieb mit geschlossenen Augen neben ihr.

»Bist du sauer auf mich?«

Rosie öffnete die Augen. »Nein. Aber manchmal ist es ein bisschen frustrierend, dass du mich immer noch wie ein Kind behandelst.«

»Das ist nicht wahr.« Katie wischte sich Wasser aus den Augen. »Okay, vielleicht ist es wahr, aber das liegt, glaube ich, daran, dass du meine kleine Schwester bist.«

»Ich bin zweiundzwanzig.«

»Du wirst immer meine kleine Schwester sein, egal, wie alt du bist, genauso wie wir immer Mums Kinder bleiben werden, auch wenn wir fünfzig sind.«

Wie würde Rosie reagieren, wenn Katie sich ihr anvertraute? Nicht nur von dem Angriff erzählte, sondern auch, dass sie mittlerweile daran zweifelte, den richtigen Beruf gewählt zu haben?

Sie bemerkte, dass Rosie wieder zu ihrer Schulter blickte, und hechtete ins Wasser, um eine Bahn nach der anderen zu schwimmen, bis die Sonne unterging und jemand kam, um ihr zu sagen, dass sie im Friseursalon erwartet wurde.

Sie duschte und zog sich rasch um. Im Salon setzte sie sich ruhig hin und ließ der Friseurin freie Hand.

»Darf ich vorn ein paar Highlights setzen?«

»Gern«, antwortete Katie. »Tun Sie alles, was Sie für richtig halten.«

»Ich werde Ihnen am Morgen der Hochzeit die Haare machen«, sagte Becca. »Da ist es gut, eine Gelegenheit zu haben, schon vorher mit Ihren Haaren zu arbeiten. Gibt es etwas, das Sie besonders mögen? Etwas, das Sie nicht mögen?«

»Sie ist konservativ.« Rosie schraubte die Wasserflasche auf. »Machen Sie nichts Radikales.«

»Vielleicht wäre radikal gut.« Katie musterte sich im Spiegel. War sie wirklich so blass? Sie musste mehr Make-up auftragen. Oder eine Möglichkeit finden, mehr Schlaf zu bekommen.

Rosie nahm einen Schluck Wasser. »Hast du überhaupt Klamotten zum Tanzen?«

»Nein. Ich werde deine Garderobe plündern und so tun, als sei ich wieder ein Teenager.«

Drei Stunden später waren alle Spuren der Küchenschere getilgt, und Katies Haar fiel ihr in sanften Stufen ums Gesicht.

»Du siehst wunderbar aus.« Rosie strich Katies Haar zurück. »Jetzt musst du nur noch aufhören, die Stirn zu runzeln.«

»Runzel ich die Stirn?«

»Immer. Du bist immer ernst.« Rosie umarmte sie. »Dies ist meine Hochzeit. Du darfst bei meiner Hochzeit nicht die Stirn runzeln.«

»Wo gehen wir heute Abend hin? Ich möchte nicht auf unsere Eltern treffen und ihre zweiten Flitterwochen stören.«

»Das wird nicht passieren. Wir gehen in einen Club, wo es den besten DJ weit und breit gibt. Er ist sehr cool. Und ich habe das perfekte Kleid für dich. Ich habe es für eine Party im Sommer gekauft.«

»Ein Kleid für Frostbeulen. Super. Muss ich darauf hinweisen, dass etwa ein Meter Schnee liegt?«

»Ich habe Dan geschrieben. Er fährt uns hin und holt uns auch wieder ab, sodass wir nicht lange an der frischen Luft sind. Und du kannst deinen Mantel tragen.«

Zurück im Baumhaus, machte sich Rosie über den Koffer her, den sie in der Lodge rasch gepackt hatte. »Hier.« Sie zog ein Kleid heraus. »Probier’s an. Ich habe mich auf den ersten Blick darin verliebt.«

»So wie bei Dan?«

Ihre Schwester lachte. »Ja. Nur dass er sehr viel wärmer ist als dieses Kleid.«

Katie zog sich das Kleid über. »Ich bin zu alt, um so etwas zu tragen.«

»Nein, du denkst, dass du zu alt bist, und benimmst dich so, aber heute Abend wirst du deinen überentwickelten Sinn für Verantwortung hinter dir lassen und dein junges und sexy Ich auf dem Dancefloor austoben.«

»Vermutlich lassen sie mich nicht mal rein.«

»Stimmt, der Club ist exklusiv, aber jeder hier in der Gegend kennt die Reynolds.«

»Wir sind keine Reynolds.«

»Werden wir aber bald sein – oder ich jedenfalls.« Rosie schlüpfte in einen roten Jumpsuit. »Rosie Reynolds klingt cool, findest du nicht?«

»Du heiratest ihn wegen seines Namens?« Katie fing Rosies warnenden Blick auf. »War nur ein Witz! Wow, du siehst unglaublich aus. Wie etwas, das vom Weihnachtsbaum gefallen ist.«

»Ich tue mal so, als sei das ein Kompliment.«

»Ist es auch. Du hast wirklich Stil. Habe ich immer gesagt.«

»Warte bis zur Hochzeit. Sie wird perfekt.«

»Catherine scheint das meiste vorbereitet zu haben, und sie ist nicht mal deine Mutter.« Und das beschäftigte sie. War ihre Mutter verärgert, weil sie nicht stärker an den Hochzeitsvorbereitungen beteiligt war? War sie traurig, dass sie nur eine Beobachterin war und nicht aktiv ins Geschehen eingreifen konnte? War ihre Mutter dankbar oder fühlte sie sich überflüssig, wenn Catherine Seide und Blumen auswählte und über Menüs nachdachte? Sie war ein so zupackender, engagierter und fürsorglicher Mensch, sie musste verärgert sein, oder? Während sie darüber nachdachte, verspürte Katie neuen Respekt vor ihrer Mutter, die keins ihrer Mädchen je unter Druck setzte. Sie hatte Rosie immer nur unterstützt. »Da wir gerade von Mum sprechen, ich muss ihr das Foto weiterleiten. Sie wird es lieben.«

Und morgen früh würde Katie als Erstes nach ihr sehen. Ihr die Gelegenheit geben, zu erzählen, wie es ihr mit der Hochzeit ging.

»Catherine ist großartig. Welche Frau würde die ganze Sache nicht gern von einem Profi planen lassen?« Rosie schien gar nicht auf die Idee zu kommen, dass ihre Mutter deswegen traurig sein und sich zurückgesetzt fühlen könnte.

»Du. Du hast immer vom Heiraten geträumt.« Katie suchte in ihrer Handtasche nach der Mascara. »Normalweise würdest du sagen: ›Ich möchte Eukalyptus … Oh, warte, ich habe mich umentschieden. Vielleicht doch eher Efeu …‹ Aber wenn es um die Hochzeit geht, bist du seltsam still. Bist du mit allem einverstanden? Ich mache mir Sorgen, dass sie dich überrollt.« Ohne ihre Schwester nur anzusehen, wusste sie, dass sie es wieder getan hatte. »Vergiss, dass ich das gesagt habe. Sie liebt dich. Das ist offensichtlich.«

»Du kannst nicht anders, oder?« Rosies Wangen waren hochrot. »Warum bist du so überzeugt, dass diese Heirat ein Fehler ist? Du bist genauso schlimm wie Grandma.«

»Wir haben unsere Großmutter nie kennengelernt.«

»Ich weiß, aber Mum hat uns erzählt, wie sehr sie die rasche Hochzeit missbilligt hat. Und sieh dir an, was daraus geworden ist.«

Katie dachte daran, wie ihre Eltern wie Kinder im Schnee herumgetollt waren und nun zu einem romantischen Dinner gingen. »Okay, du hast recht. Ich bin lächerlich.« Sie musste damit aufhören. Sie musste aufhören, immer nach Hinweisen auf das Negative statt auf das Positive zu suchen. Warum war sie so neben der Spur? Was auch immer der Grund war, sie musste sich unter Kontrolle bekommen.

Sie musste aufhören, ihre Schwester zu beschützen, und sie stattdessen unterstützen.

Sie durchquerte den Raum und umarmte Rosie. »Sag mir, dass du glücklich bist. Das ist alles, was ich hören will.«

»Ich bin glücklich.«

»Das ist das Einzige, was mir wichtig ist. Abgesehen vom Tanzen natürlich. Tanzen ist mir wichtig. Ist das Dan da draußen?« Sie griff nach ihrem Mantel und ihrer Tasche. »Lass uns gehen und uns amüsieren.«

Von jetzt an würde sie sich zwingen, sich auf das Positive zu konzentrieren, nicht auf das Negative.

Immer wenn ihr ein dunkler Gedanke über stürmische Romanzen kam, würde sie sich daran erinnern, wie ihre Eltern im Schnee herumgetollt waren und sich geküsst hatten wie frisch verknallte Teenager.

Für sie hatte es funktioniert. Es gab keinen Grund, warum es nicht auch für Rosie funktionieren sollte.