KATIE

Katie hatte sich verirrt und sah sich nach allen Seiten um.

Sie war auf dem Weg gewesen, doch dann hatte sie ein Paar mit Schneeschuhen entdeckt, und weil sie geweint hatte und ihre Wangen nass und die Augen rot waren und sie als Allerletztes andere Menschen treffen wollte, war sie auf einen unmarkierten Pfad eingebogen, der in den Wald führte. Eigentlich hatte sie nicht so weit gehen wollen, doch sie war immer weitergelaufen und noch ein paar Mal abgebogen, und jetzt wusste sie nicht mehr, wie sie zurückfinden sollte.

Der Pfad führte steil bergauf und wurde von riesigen Bäumen gesäumt. Der Wald war dicht und mit frischem Schnee bedeckt.

Auf dem Hauptweg war es leicht gewesen, in ihren Schneestiefeln voranzukommen, doch hier, wo der Schnee tiefer und die Oberfläche unberührt war, hatte sie Schwierigkeiten. Sonnenlicht drang zwischen den Bäumen hindurch und ließ die Schneeoberfläche glitzern.

Katie schloss die Augen und atmete die frische Luft ein. Sie hatte sich verirrt, na und? Das war wie eine Metapher für das Leben, in dem sie sich sowohl physisch als auch emotional verirrt hatte. Ihre Eltern, zwei Menschen, von denen sie geglaubt hatte, sie würden für immer zusammen sein, ließen sich scheiden.

Plötzlich ergab die Welt für sie keinen Sinn mehr. Wenn ihre Eltern es nicht schafften, welche Chance hatte dann irgendjemand anders?

Gern hätte sie so getan, als sei das alles nicht wahr, doch sie wusste, dass Verleugnung nie gut war, und zwang sich, das Wort zu denken.

Scheidung.

Sie hatte alles Mögliche zu Weihnachten erwartet, aber das nicht.

Es fühlte sich an, als würde ihr ganzes Leben auseinanderfallen. Erst ihr Job und jetzt das hier.

Ironischerweise war sie unangekündigt zu der Hütte ihrer Eltern gegangen, um nach ihrer Mutter zu sehen. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass sie verstimmt sein könnte, weil Catherine Rosies Hochzeit quasi im Alleingang organisierte. Durch die Fenster des Baumhauses hatte sie ihre Eltern zusammen auf dem Sofa sitzen sehen, ins Gespräch vertieft, und gedacht, wie süß sie doch zusammen waren. Sie hatte sie um ihre Nähe beneidet und sich ein bisschen schuldig gefühlt, sie in ihren zweiten Flitterwochen zu stören.

Ihr Klopfen hatten sie nicht gehört.

Erst als sie das Baumhaus betreten hatte, begriff sie, dass es in dem Gespräch, in das ihre Eltern vertieft waren, um die Einzelheiten ihrer Scheidung ging.

Sie wusste, dass die Dinge zu Hause nicht immer rosig gewesen waren – sie hatte erlebt, wie Rosies Krankheit die Beziehung belastet hatte. Doch das war viele Jahre her, und sie hatte angenommen, dass sie es irgendwie überwunden hatten. Dass dem nicht so war, erschütterte ihre Sicht auf Beziehungen.

Sie hatte ihre Familie für unerschütterlich gehalten, und doch war sie nun offenbar zerbrochen.

Warum jetzt? Es ergab keinen Sinn.

Und warum war sie so verstört deswegen? Auch das ergab keinen Sinn.

Sie war erwachsen und kein kleines Mädchen mehr. Wie ihre Eltern lebten, sollte keinen Einfluss auf sie haben, doch plötzlich konnte sie nur noch an die guten Zeiten denken, die sie zu viert verbracht hatten. All diese idyllischen Jahre im Honeysuckle Cottage. Ihre Eltern, die ihr abwechselnd Geschichten vorlasen, während sie neben ihr im Bett lagen und sie die Seiten umblättern ließen. Ihr Vater, der sie alle mit ins Museum nahm, um ägyptische Mumien anzusehen.

Weihnachten.

Weihnachten war immer ihre liebste Zeit im Jahr gewesen. Sobald sie im Honeysuckle Cottage angekommen war und die brennenden Kerzen im Fenster und die mit Lichterketten geschmückten Bäume gesehen hatte, war der Stress des Jahres irgendwie von ihr abgefallen.

Doch sie wusste, dass es nicht die Lichterketten oder die Kerzen waren, die Weihnachten so besonders machten, und nicht einmal die großartigen Kochkünste ihrer Mutter – es war das Beisammensein mit ihrer Familie.

Sie keuchte, während sie den steilen Pfad emporstieg. Ihre Eltern gaben ihrem Leben ein gewisses Maß an Sicherheit, auch wenn sie sie nicht oft sah.

Ihr Leben war so verrückt, dass sie von einem Moment zum nächsten lebte, ohne viel Kontrolle über ihre Zeit. An den meisten Tagen fühlte sie sich wie ein Blatt im Wind. Seit zehn Jahren teilte sie ein Haus mit Vicky, doch es fühlte sich noch immer nicht wie ein Heim an, eher wie ein Ort, an dem sie schlief und aß. Ihr Zuhause war Honeysuckle Cottage. Würden ihre Eltern es verkaufen?

Katie blieb stehen, weil sie nicht mehr richtig atmen konnte und nicht mehr sah, wohin sie ging.

Wütend auf sich selbst, wischte sie die Tränen fort.

Ihre Eltern waren beide gesund und am Leben. Nur darauf kam es an, das sollte sie doch am besten wissen. Und natürlich würden sie das Cottage verkaufen. Sie konnten nicht an einem Haus festhalten, das zu groß für eine Person war, nur um zweimal im Jahr die ganze Familie unterzubringen. Aber warum machte sie das so traurig?

Vielleicht lag es daran, dass der Rest ihres Lebens instabil schien. In den letzten zehn Jahren hatte sie zwar ein paar Beziehungen gehabt, doch keine davon hatte länger als ein paar Monate gedauert, und sie hatte kaum eine Träne vergossen, wenn sie geendet hatte. Sie hatte Freundinnen, die zu treffen sie oft zu müde war, weil sie ständig arbeitete, und sie hatte einen Job, von dem sie nicht mehr sicher war, ob er ihr gefiel.

Ihr ganzes Leben war in eine gefährliche Schieflage geraten. Früher war sie sich ihrer Berufswahl so sicher gewesen, doch jetzt stellte sie sie immer mehr in Frage.

Sie griff in ihre Tasche und holte ihr Handy heraus.

Sie sollte nicht an sich denken, sondern an ihre Eltern. Ihre Mutter musste furchtbar unglücklich gewesen sein, und vermutlich war sie jetzt auch unglücklich. Warum hatte sie nichts gesagt?

Frustriert fuchtelte Katie mit ihrem Handy herum und wartete auf ein Empfangssignal.

Als sie an all die Male dachte, die sie es vermieden hatte, zu Hause anzurufen, wurde sie von Schuldgefühlen übermannt. Wenn sie in Kontakt geblieben wäre, hätte ihre Mutter sich ihr vielleicht anvertrauen können.

Und was war mit Rosie? Rosie, die die solide Ehe ihrer Eltern als Beweis anführte, dass eine stürmische Romanze funktionieren konnte. Die ungestüme und impulsive Rosie, die noch immer an Happy Ends glaubte.

Katie würde ihr die Wahrheit sagen müssen. Aber nicht jetzt, denn sie hatte keinen Empfang.

Sie steckte das Handy wieder in die Tasche und stand still da, während sie in die Bäume starrte. Erst jetzt, da sie angehalten hatte, bemerkte sie, wie kalt es war. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft.

Erneut stapfte sie los und setzte ihren Fuß bei jedem Schritt fest in den tiefen Schnee. Überall lagen Tannenzapfen und Fichtenzweige, und die einzigen Geräusche waren das dumpfe Plumpsen, wenn Schnee von einem Baum fiel, der Ruf eines Vogels, das Knacken eines Astes, wenn das Gewicht seiner Schneelast zu groß wurde.

Sie gelangte zu einer Gabelung und hielt inne. Sie musste eine Entscheidung treffen. Links, rechts oder zurück? Sie ging besser weiter, um hoffentlich bald auf einen Wegweiser zu treffen.

Sie war umgeben von friedlichem, duftendem Wald. Über den Baumwipfeln erhoben sich verschneite Gipfel, und von irgendwo weit unten vernahm sie das Rauschen des Flusses. Es war schön. So schön, dass es einen fast wehmütig machte.

Sie dachte an London mit seinen verstopften Straßen. Als sie dorthin gezogen war, hatte sie die energiegeladene Stadt aufregend und inspirierend gefunden. In letzter Zeit hatte sie sie jedoch zusehends erschöpft. Überall Menschenmassen, alle waren in Eile und gestresst.

Hier hatte sie das Gefühl, das einzige Wesen auf dem Planeten zu sein.

Sie wusste nicht, warum sie nach oben sah, doch sie tat es und blickte in ein Paar goldfarbener Augen.

Zum zweiten Mal innerhalb eines Monats wurde sie von echter, qualvoller Panik erfasst.

Sie war nicht das einzige Wesen auf dem Planeten.

Was war dieses Ding? Es war riesig. Und es sah direkt sie an, und das keineswegs freundlich.

Könnte sie fortrennen mit diesen dämlichen, sperrigen Schneestiefeln?

In Anbetracht der Tatsache, dass schon das Gehen eine Herausforderung war, lautete die Antwort: Nein.

Vor einem Moment noch hatte sie vor Kälte gezittert, doch jetzt zitterte sie aus einem anderen Grund.

Vielleicht könnte sie sich zwischen den Bäumen durchschlängeln und hoffen, dass das Tier sie nicht als reizvolle Beute betrachtete.

Sie machte einen Schritt, und das Tier sprang vom Baum und landete vor ihr auf dem Pfad.

Das war es, dachte Katie. So werde ich sterben.

Und man würde ihre Leiche niemals finden, weil niemand wusste, wo sie war.

Plötzlich ertönte hinter ihr eine vertraute Stimme: »Nicht bewegen.«

Vor Erleichterung begannen ihre Beine zu zittern. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie sich freuen würde, Jordan zu sehen, doch als er neben sie trat, tat sie genau das. Sie musste sich beherrschen, ihm nicht um den Hals zu fallen. »Was ist das für ein Ding?«

»Ein Berglöwe.«

Löwe?

Katie wünschte, sie wäre wieder in London. Nie wieder würde sie über die Stadt jammern. »Wir sollten weglaufen.«

»Nicht weglaufen.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wirst du mich als Macho beschimpfen, wenn ich hier einschreite?«

»Bitte …« Ihr Mund war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte. »Schreite überall ein, am besten direkt vor mir.« Sie hätte schwören können, ihn lachen zu hören, und dann machte er einen Schritt, sodass er genau vor ihr stand.

Sein Körper verdeckte die Sicht, trotzdem bemerkte sie, wie er die Arme ausbreitete, und hörte ihn schreien. Einen Moment stand der Löwe da, ganz angespannte Muskelkraft, dann verschwand er im Wald.

Katie hatte das Gefühl, dass ihre Beine ihr den Dienst versagten.

Jordan drehte sich um und umfasste ihre Arme, als bemerkte er, dass sie Halt brauchte. »Wir hatten Glück.«

»Ja.« Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. »Ich bin erleichtert, dass du genau in diesem Moment aufgetaucht bist.«

»Ich meinte, wir hatten Glück, den Löwen zu sehen. Normalerweise meiden sie Menschen.«

»Ich frage mich, warum sich dieser dazu entschieden hat, eine Ausnahme zu machen.«

»Du bist allein unterwegs, was dich interessanter macht. Vermutlich war er fasziniert davon, wie schwer es dir gefallen ist, durch den Schnee zu laufen.«

»Du meinst, er hat darauf gewartet, dass ich hinfalle, um mich fressen zu können?«

»Nein. Ich bezweifle, dass er dich gefressen hätte.« Er ließ sie los, doch nur, um den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Hals hochzuziehen. »Halt die Jacke geschlossen. Kein Wunder, dass du zitterst. Was machst du so weit hier oben?«

»Einen Spaziergang.«

»Das hier ist kein markierter Weg. Du hast dich verirrt.«

»Nicht unbedingt verirrt. Ich bin eher meiner Eingebung gefolgt.«

»Deine Eingebung hat dich zu einem Berglöwen geführt. Und wenn du weiter nach links gelaufen wärst, wärst du abgestürzt. Es ist steil, und der Pfad endet an einer großen Klippe.«

»Gut zu wissen.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Sollten wir hier nicht abhauen, für den Fall, dass der Löwe Freunde hat? Und sollte er nicht sowieso im Winterschlaf sein oder so was?«

»Berglöwen halten keinen Winterschlaf, aber tagsüber bekommt man sie nur selten zu Gesicht. Normalerweise sind sie in der Morgen- und Abenddämmerung am aktivsten. Der viele Schnee in den letzten Wochen hat ihn vermutlich von den Bergen nach unten getrieben. Oder vielleicht ist er seiner Beute gefolgt – einem Hirsch oder einem Elch – und dir dann über den Weg gelaufen.«

»Großartig.« Katie zitterte. Sie war schon einmal Beute gewesen und hatte es nicht eilig, diese Erfahrung zu wiederholen.

»Normalerweise interessieren sie sich nicht für Menschen. Sie sind hinter Beutetieren her, aber es ist gut, wachsam zu sein. Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was machst du so weit hier draußen?«

Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie so weit gelaufen war. Sie war so verstört gewesen, dass sie ohne nachzudenken losgelaufen war. »Ich brauchte Zeit für mich selbst. Mir war nicht klar, dass es gefährlich ist.«

»Es gibt gefährlichere Dinge als diesen Berglöwen.« Er schob seinen Rucksack zurecht. »Du könntest dich bis zum Hals im Schnee wiederfinden oder ausrutschen und deinen Kopf aufschlagen. Nimm immer jemanden mit, wenn du wandern gehst. Und wenn du einem Berglöwen begegnest, mach dich groß. Sieh ihm in die Augen, damit er weiß, dass du keine Angst hast.«

»Ich hatte keine Angst. Warum glaubst du, dass ich Angst hatte?« Sie bemerkte ein Funkeln in seinen Augen.

»Gut. In dem Fall verabschiede ich mich.« Er drehte sich um und ging, und sie starrte ihm ungläubig hinterher.

Wollte er sie hier tatsächlich alleinlassen? Nein, er wollte sie ärgern. Wollte es ihr zeigen. Jeden Moment würde er sich umdrehen und zu ihr zurückkommen.

Doch das tat er nicht. Er ging einfach weiter.

»Jordan!« Sie war nicht gerade stolz darauf, dass ihre Stimme bebte.

Er drehte sich um. »Was?«

Sie brachte die Worte kaum hervor. »Lass mich hier nicht allein.«

Es folgte eine Pause, bevor er zurück in ihre Richtung ging – langsamer, als er fortgegangen war. »Lass uns eins klarstellen, damit es später keine Missverständnisse gibt. Du bittest mich um Hilfe?«

Sie biss die Zähne zusammen. »Ja.«

»Du gibst zu, dass du dich verirrt hast und dass du hier nicht allein rausfindest?«

Der Mann trieb einen in den Wahnsinn. »Ja, das gebe ich zu.«

»Wow.« Er verschränkte die Arme. »Ich wette, das ist eine Premiere für dich.«

In seinem Ton lag Humor, und normalerweise hätte sie elegant gekontert, doch ihr fiel nichts ein. Sie fühlte sich verloren und traurig und nicht wie sie selbst. Sie wollte nicht zurück zur Snowfall Lodge, aber sie konnte auch nicht weiter im Wald herumwandern. »Zeig mir die Richtung, und ich gehe nach Hause.«

»Was, wenn du noch einem Berglöwen begegnest?«

»Kriege ich hin.«

Behutsam nahm er ihr die Sonnenbrille von der Nase. »Du hast geweint.«

»Habe ich nicht. Die Kälte lässt meine Augen tränen.«

Jeglicher Humor verschwand. Er steckte ihre Brille in die Tasche, zog den Handschuh aus und strich ihr über die Wange. »Du würdest lieber sterben, als zuzugeben, wie verletzlich du bist, also muss es etwas Ernstes sein. Ist was passiert? Was ist los?« Er musterte ihr Gesicht und blickte dann hinunter auf den Pfad. »Was machst du hier draußen?«

»Ich habe es dir doch gesagt. Ich bin spazieren gegangen.«

»Weil du durcheinander bist. Du wolltest weg und hast nicht darauf geachtet, wo du hingegangen bist.«

Es fing wieder an zu schneien, große, schwere Schneeflocken setzten sich auf ihre Kapuze und ihre Jacke.

Die Welt hasste sie offenbar.

Besorgt runzelte er die Stirn. »Wusstest du, dass ein Sturm angesagt wurde?«

»Ich habe nicht an das Wetter gedacht. Der Himmel war blau, als ich losgegangen bin.«

»Jetzt ist er nicht mehr blau. Es schneit, und es wird noch heftiger. Wir sollten los.« Statt den Weg zurückzugehen, ging er weiter bergauf.

»Das ist nicht der Weg zur Snowfall Lodge.«

»Wir gehen nicht zurück zur Snowfall Lodge.«

»Wohin dann?« Sie stolperte in dem tiefen Schnee, und er hielt inne, um ihr seine Hand anzubieten.

»Mein Zuhause ist näher.«

Sie zögerte und nahm dann seine Hand. Entweder das, oder sie würde kopfüber im Schnee landen. »Du wohnst hier? Mitten am Berg? Gibt es hier Häuser?«

»Keine Häuser, nein. Meine Hütte liegt nur zehn Minuten von hier entfernt. Wir haben einen Unterschlupf und können warten, bis der Sturm vorbei ist.«

Seine Hütte.

Sie blieb stehen.

Sie befand sich irgendwo im Nirgendwo, noch dazu mit einem Mann, den sie nicht wirklich kannte. War dies eine kluge Entscheidung? Die Vorfälle der letzten zwei Monate hatten sie nervös gemacht. Früher einmal war sie selbstbewusst durchs Leben gegangen, doch jetzt traute sie ihrem eigenen Urteil nicht mehr. Immer wieder beschlichen sie Zweifel und ließen sie jede Entscheidung hinterfragen. War das sicher? Beging sie einen Fehler? Würde sie später zurückblicken und sich am liebsten in den Hintern treten, so etwas Dummes getan zu haben?

Sie atmete tief ein. Manchmal zwang einen das Leben, sich zwischen zwei alles andere als perfekten Optionen zu entscheiden. Ein Sturm näherte sich, insofern würde der Versuch, allein den Weg nach Hause zu finden, nicht gut enden. Dieser Mann wusste, wo sie sich befanden und wo sie Unterschlupf fanden. Und er war kein Fremder. Sie kannte ihn. Er und Dan waren seit Ewigkeiten befreundet.

Er wartete, überraschend geduldig. »Du bist besorgt, aber das brauchst du nicht zu sein.«

Das war peinlich. »Du hältst mich für blöd.«

»Nein, tue ich nicht.«

Dennoch fühlte sie sich genötigt, es zu erklären. »Ich bin nicht immer …« Sie strich sich Schnee aus dem Gesicht. »Vor nicht allzu langer Zeit habe ich eine falsche Entscheidung getroffen, und das ging nicht gut aus.«

»Und jetzt traust du dir selbst nicht mehr und befürchtest, dass du eine Situation falsch einschätzen könntest.« Er ließ ihre Hand los und zog ihr die Kapuze dichter über den Kopf, um die Kälte und den Schnee abzuhalten. »Diese Situation gehört nicht dazu, Katie. Alles wird gut. Vorausgesetzt, wir gehen jetzt, bevor wir beide Frostbeulen bekommen.«

Sie hatte Sarkasmus erwartet oder einen ihrer üblichen bissigen Wortwechsel, nicht aber, dass er so freundlich war. Er hatte gütige Augen. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen?

»Lass uns gehen.« Dieses Mal griff sie nach seiner Hand, und sie hielt sie fest, als der Schnee tiefer und der Weg enger wurde. Die Bäume waren kaum zu sehen, und die Welt bestand nur noch aus wirbelndem Schneegestöber. Von Minute zu Minute wurde die Sicht schlechter, und sie zitterte, teils wegen des eisigen Windes, teils bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn sie Jordan nicht begegnet wäre. Sie wäre dieser Situation allein und schutzlos ausgeliefert gewesen.

Sie war dankbar für seinen festen Griff und seine Anwesenheit, verstand jedoch nicht, wie er sich inmitten dieses Schneechaos zurechtfand. »Haben wir uns verirrt?«

»Nein. Sei vorsichtig …« Er bog für sie einen Zweig zur Seite, und sie stolperte daran vorbei. Sie war sich bewusst, wie viel Schnee auf den Ästen und Zweigen über ihr lastete.

»Es ist wie in Narnia.« Sie sah ihn an. »Aus dem Buch Der König von Narnia

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Nur weil ich in den Bergen lebe, heißt das nicht, dass ich ungebildet bin.«

»Ich wollte nicht so unhöflich klingen. Nicht alle Menschen lesen die gleichen Bücher, das ist alles.«

»Vorsicht. Das klingt fast nach einer Entschuldigung.«

»Es war eine Entschuldigung.« Sie stapfte neben ihm her, wobei der tiefe Schnee an ihren Stiefeln klebte. Das Gehen war anstrengend, sogar in den Schneestiefeln, und sie war erleichtert, als er am Rand des Weges stehen blieb und sie die Lichter zwischen den Bäumen sah.

»Wir sind da.« Der Schnee erstickte alle Geräusche, doch die Lichter flackerten weiter zwischen den Bäumen, und dann öffnete sich der Wald plötzlich, und sie erblickte die Hütte.

»Oh …« Sie blieb stehen und starrte durch das Schneegestöber.

»Was? Es ist nicht so schick wie die Snowfall Lodge, aber es ist ein Zuhause.« Er drückte ihre Hand, und sie gingen die letzten paar Schritte zu der Hütte.

»Es ist unglaublich. Wie aus einem Märchen.«

Er stieß die Tür auf. »Das sind die Geschichten, in denen immer jemand stirbt, oder? Meinst du, eine böse Hexe wartet drinnen, um dich mit Keksen zu füttern?«

»Ich hoffe es. Für einen Keks würde ich es auch mit einer Hexe aufnehmen.« Sie war überrascht von der Wärme seines Lächelns, und es war unmöglich, es nicht zu erwidern. Sie folgte ihm nach drinnen und war dankbar, dem Schnee entronnen zu sein. »Ist das nicht ein sehr einsames Leben hier draußen im Nirgendwo?«

»Zufällig ist dieser Ort für mich ein Irgendwo, kein Nirgendwo. Und ich bin mit meiner eigenen Gesellschaft zufrieden.« Er half ihr, den Reißverschluss ihres Mantels zu öffnen. »Du zitterst. Setz dich ans Feuer, und ich mache dir was Heißes zu trinken.«

Sie streifte die Stiefel ab, rieb sich über die Arme und trat durch einen gewölbten Eingang in den Wohnbereich der Hütte. Sie war sofort verliebt. In den dicken, weichen Teppich auf dem Holzboden. In die vollgepackten Regale, die sich über drei Wände erstreckten. In die uralten Skier, die über dem Kamin an der Wand hingen. Dieses Zimmer war nicht durchgestylt, sondern gemütlich. Die Bücher hatten Eselsohren, die Ski waren verkratzt und abgenutzt.

»Sie gehörten meinem Urgroßvater.« Jordan ging durch den Raum in die kleine Küche. »Er würde lachen, wenn er sehen könnte, was wir heute benutzen. Deine Kleidung ist nass. Möchtest du duschen und dich umziehen?«

Umziehen?

»Mir geht’s gut, aber danke.« Sie hatte nicht vor, lange zu bleiben.

»Hast du Hunger?«

Sie hatte Croissants zu ihren Eltern mitgenommen, um mit ihnen zu frühstücken, doch dazu war es nicht gekommen. »Ja, aber ich habe ein schlechtes Gewissen, dir plötzlich so zur Last zu fallen.«

»Vor einem Tag noch hätte es dir Spaß gemacht, mich in Bedrängnis zu bringen, also bin ich jetzt offiziell beunruhigt. Ich werde mich umziehen und uns dann etwas zu essen machen.«

Er ging aus dem Zimmer und kam einen Moment später mit einem Handtuch zurück. »Hier – trockne dir zumindest die Haare.«

Nickend nahm sie das Handtuch entgegen und sah ihm nach, wie er aus dem Zimmer ging. In seiner Gegenwart fühlte sie sich immer ein bisschen unbehaglich. Wenn sie in besserer Verfassung wäre, hätte sie vielleicht temperamentvoller reagiert.

Sie hörte, wie sich eine Tür öffnete und schloss, dann das Rauschen von Wasser. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie gut es sich anfühlen musste, unter einem Strahl heißem Wasser zu stehen.

Während sie sich geistesabwesend die Haare frottierte, setzte sie sich aufs Sofa.

Als Jordan zurückkam, trug er ein mit Essen beladenes Tablett. Sein Haar kräuselte sich feucht über dem Kragen seines dicken Strickpullovers. »Bedien dich.«

»Danke.« Sie versuchte, nicht darauf zu achten, wie seine Jeans seine Schenkel umspannten. Ihre Hose klebte ebenfalls an ihr, doch das lag daran, dass sie feucht war. Doch welchen Sinn hatte es, sie auszuziehen, wenn sie sie wieder anziehen musste, um zur Lodge zurückzugehen? Und außerdem wollte sie nicht in Unterwäsche in seiner Hütte herumlaufen.

Er nahm ihr das Handtuch ab. »Bist du sicher, dass du nicht heiß duschen möchtest?«

»Mir geht’s gut, danke. Das sieht köstlich aus.«

Auf dem Tablett lagen ein frisches Brot und eine dicke Scheibe cremiger Butter. Flaschentomaten, Bergschinken und Käse.

Sie versuchte, ihre feuchte Kleidung zu ignorieren, und nahm einen Teller. »Das Brot sieht köstlich aus. Warst du heute Morgen einkaufen?«

»Nein, ich hab’s selbst gebacken.« Er lächelte, als er ihre überraschte Miene sah. »Was? Meinst du, ich kann nur Frauen aus Eis und Schnee retten?«

»Ich musste nicht gerettet werden.«

»Das sieht dir viel ähnlicher. Ich habe deinen Widerspruchsgeist schon vermisst.« Er schnitt ein paar Scheiben von dem Brot ab, spießte eine auf und legte sie auf ihren Teller.

Sie wusste, dass sie undankbar war, und ließ die Schultern sinken. »Du hast recht. Ich brauchte Hilfe. Und ich bin dir dankbar. Danke. Nicht nur für das Essen, sondern dafür, dass du mich gerettet hast.«

Er häufte Schinken und Käse auf ihren Teller. »Willst du mir sagen, was los ist?«

Sie bestrich das Brot mit Butter, nahm einen Bissen und stöhnte genussvoll auf. »Das ist gut. Ich habe kein frisches Brot mehr gegessen, seit ich das letzte Mal zu Hause war, was Monate her ist.« Sie bediente sich beim Käse und fing seinen Blick auf. Sie war nicht fair, oder? »Ich schätze, ich schulde dir eine Erklärung.«

Er streckte die langen Beine aus. »Wenn ich darüber nachdenke, kann das warten. Iss. Hör mal für fünf Minuten auf, dir Sorgen zu machen.«

Das war einfacher gesagt als getan, doch sie griff hungrig zu, zumal sie wusste, dass sie Kraft für den Weg zurück zur Snowfall Lodge brauchte. »Wann wird es dunkel?«

»In ein paar Stunden.«

Sie sah auf die Uhr und begriff, dass fünf Stunden vergangen waren, seit sie die Hütte ihrer Eltern verlassen hatte. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so spät ist.« Sie stand auf. »Ich muss los.«

Jordan schnitt sich ein weiteres Stück Käse ab und legte es auf seinen Teller. »Und wo genau willst du hin?«

»Zurück zur Snowfall Lodge. Wohin sonst? Meine Familie wird sich fragen, wo ich bin. Meine Eltern, vor allem meine Mutter, werden sich Sorgen machen.« Und ausnahmsweise war sie die Ursache. Sie, die sich so sehr bemühte, ihren Eltern keine Sorgen zu bereiten, war aus ihrem Baumhaus gestürmt, ohne ihnen überhaupt die Gelegenheit zu geben, irgendwas zu erklären. Sie hatte niemandem gesagt, wo sie hinwollte, weil sie nicht gewusst hatte, wohin sie ging.

Was dachten sie jetzt? Vielleicht hatten sie sie schon als vermisst gemeldet.

»Sie machen sich keine Sorgen. Sie wissen, dass du bei mir bist.«

»Woher können sie das wissen?«

Er schnitt mehr Brot ab.

»Ich habe Dan eine Nachricht geschickt, als ich dich im Wald getroffen habe. Noch mehr Käse?«

»Nein danke. Du hast ihm eine Nachricht geschickt?« Sie runzelte die Stirn. »Ich hatte keinen Empfang.«

»Der kommt und geht. Du kannst dich entspannen. Niemand wird sich Sorgen machen.«

»Ich würde noch immer gern selbst mit ihnen sprechen.« Was genau hatte sie zu ihren Eltern gesagt? Sie erinnerte das ganze Gespräch nur bruchstückhaft. Hatte sie ihrer Mutter wehgetan? Das wollte sie als Allerletztes, doch sie war so verstört gewesen. »Kann ich dein Telefon benutzen?«

»In der Hütte hast du keinen Empfang. Du musst den Pfad ein Stück hochgehen, und bei diesem Wetter ist das unmöglich. Entspann dich, Katie. Wir werden eine ganze Weile hier festsitzen, also kannst du dich ebenso gut beruhigen.«

»Wenn du jemandem sagst, er soll sich beruhigen, ist das eine sichere Methode, um die Person zu stressen und wütend zu machen, das weißt du, oder?«

»Ja.« Er strich Butter auf das Brot. »Ich mag dich lieber, wenn du wütend bist. Diese ganze Offenheit und deine Verletzlichkeit bringen mich aus dem Konzept.«

Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. »Ich muss zurück. Selbst wenn sich meine Eltern keine Sorgen machen, muss ich trotzdem mit meiner Schwester reden. Und das dringend. Dafür gibt es Gründe.«

»Sind das dieselben Gründe, warum du ziellos durch den Wald gelaufen bist, als ich dich gefunden habe?«

Sie ging näher ans Kaminfeuer. »Ich habe heute Morgen erfahren, dass meine Eltern sich scheiden lassen.«

Falls er überrascht war, ließ er sich das nicht anmerken. »Und das war ein Schock?«

»Ja! Du hast doch gesehen, wie sie miteinander sind. Sie benehmen sich wie verliebte Teenager. Wir dachten alle, sie wären in den zweiten Flitterwochen.« Plötzlich bemerkte sie, wie sich seine Miene veränderte. »Hast du das nicht gedacht?«

Er schnitt ein weiteres Stück Käse ab. »Ich dachte, sie wirken wie ein Paar, das sich zu sehr bemüht. Das eine Show für die Öffentlichkeit liefert.«

Verblüfft starrte sie ihn an und setzte sich wieder. »Verdammt, du hast recht. Warum habe ich das nicht gesehen?« Sie schlug die Hände vors Gesicht und ließ sie dann wieder sinken. »Wieder mal habe ich eine Situation komplett falsch eingeschätzt.«

»Wieder einmal?«

»Spielt keine Rolle.« Sie biss sich auf die Lippen und starrte ins Feuer. »Du hast recht, sie haben sich tatsächlich zu sehr bemüht. Ganz untypisch für sie.« Es ärgerte sie, dass sie nicht mehr Fragen gestellt hatte. Sie war darauf trainiert, aufmerksam zu beobachten, und doch hatte sie es nicht bemerkt. »Ich bin so wütend auf sie. Und ich bin traurig. Und …« Sie sah ihn an. »Tut mir leid. Du musst dir das nicht anhören.«

»Red nur weiter, Katie.« Er schob seinen Teller beiseite. »Klingt, als ob du das bräuchtest.«

Würde Reden überhaupt helfen? Sie war sich nicht sicher. Sie wusste nur, dass sie sich abgrundtief elend fühlte. »Ich kann nicht fassen, dass sie es uns nicht gesagt haben. Und es ist so ein Durcheinander. Es ändert alles. Ich habe mich im Wald verirrt, weil ich versehentlich ein Gespräch von ihnen mit angehört habe und aufgewühlt war. Ich war zum Frühstück dort, weil ich sehen wollte, wie es meiner Mutter geht, und da habe ich sie über die Scheidung sprechen hören und bin rausgerannt. Was vermutlich nicht gerade mein erwachsenster Moment war, aber ich konnte nicht klar denken.«

»Du bist nicht zu deiner Schwester gegangen?«

»Ich brauchte Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten und zu entscheiden, wie ich sie am besten unterstützen kann.«

»Wir wär’s mal mit jemandem, der dich unterstützt? Lehnst du dich jemals bei jemandem an?«

Sie runzelte die Stirn. »Nein. Das muss ich nicht.«

Er betrachtete sie einen Augenblick. »Also bist du losgelaufen, ohne wirklich zu wissen, wo du hingehst.«

»Ich war auf dem Hauptweg, aber ich habe versucht, anderen Menschen auszuweichen, und deshalb eine der schmaleren Abzweigungen genommen. Bevor ich mich’s versah, hatte ich mich verirrt. Und traf den Berglöwen …« Sie zog die Beine unter sich und versuchte, nicht daran zu denken, wie schlimm ihr Verzweiflungsspaziergang hätte enden können. »Du hältst mich vermutlich für unglaublich dumm und unverantwortlich.«

»Ich glaube, dass du verstört warst. Herauszufinden, dass die Eltern sich scheiden lassen, ist immer ein Schock.«

»Es ist ja nicht so, dass ich noch ein Kleinkind oder ein Teenager wäre. Es sollte keine Rolle spielen.«

»Aber sie sind noch immer deine Eltern. Es ist normal, schockiert zu sein. Mir ging es genauso, als meine Eltern sich scheiden ließen. Was wenig Sinn ergab, wenn man bedenkt, wie sie miteinander umgegangen sind.«

Seine Eltern waren geschieden. Sie war nicht der einzige Mensch auf der Welt, der das durchmachen musste.

Erneut stiegen Tränen in ihr auf. Vor Jordan weinen? Wirklich? Sie blinzelte. »Ich bin sauer auf mich selbst, dass meine Gefühle meine Urteilskraft getrübt haben.« Beim letzten Mal hatte das ernste Konsequenzen nach sich gezogen.

»Wenn dir nach Weinen zumute ist, dann tu das ruhig. Meinetwegen brauchst du dich nicht zurückzuhalten.«

»Ich heule nie.«

»Bist du ein Roboter?«

»Wie bitte?«

»Seit ich dich am Flughafen abgeholt habe, verhältst du dich, als hätte man dich programmiert. Du bist sauer, dass Gefühle deine Urteilskraft getrübt haben, aber das macht einen menschlich. Ehrlich gesagt bin ich erleichtert, dass es deine Gefühle noch gibt. Ich hatte Angst, dass du sie erstickt hättest, so fest, wie du sie im Griff hast.«

»Meine Arbeit verlangt, dass ich meine Gefühle unter Kontrolle habe. Ich kann nicht jedes Mal zusammenbrechen, wenn ich etwas Trauriges oder Schockierendes sehe.«

»Du musst dich mir gegenüber nicht verteidigen. Ich greife dich nicht an.«

»Es fühlt sich aber so an.«

»Weil du nicht gern zugibst, dass du genauso menschlich bist wie wir anderen. Du wirst wütend auf dich, sobald du dein persönliches Maß an Perfektion nicht erreichst. Ich wette, dass du dir jeden Abend eine Note gibst.«

Genau das tat sie. »Du bist der nervigste Mann, der je auf dieser Erde gelebt hat.«

»Meine Exfrau würde dir da sicher zustimmen.«

Ihr fiel die Kinnlade herunter. »Du warst verheiratet?«

»Schwer vorstellbar, ich weiß.« Er sah müde aus. »Lass uns noch mal neu anfangen. Ich wollte mitfühlend sein, aber ich schätze, ich kann besser mit Bäumen als mit Menschen umgehen. Ich bin sicher, dass du eine hervorragende Ärztin bist, aber du darfst ab und zu auch mal außer Dienst sein. Gönn dir eine Pause, Katie.«

Sie lehnte den Kopf zurück und blickte nach oben zum Dach der Hütte. »Ich bin keine hervorragende Ärztin. Und nach heute Morgen bin ich ziemlich sicher, dass ich auch keine besonders gute Tochter bin. Bleibt also nur meine Rolle als Schwester. Und auch da bin ich nicht sicher. Ich strenge mich an, aber ich glaube nicht, dass ich das bin, was Rosie braucht oder sich wünscht. Weißt du, dass ich gestern Abend in einem Club war? Rosie sagte mir, dass wir uns nie amüsieren würden, also ging ich los, um mich zu amüsieren. Ich habe getanzt.«

»Kommt das selten vor?«

»Ungefähr so selten, wie einem Berglöwen mitten in Oxford zu begegnen. Du hättest mich sehen sollen. Ich war die Stimmungskanone des Abends. Ich will nicht verschweigen, dass mir ein paar Margeritas dabei geholfen haben.« Erneut stand sie auf. Alle Muskeln in ihrem Körper schmerzten. »Ich muss zurück. Ich muss für Rosie da sein. Unsere Eltern werden es ihr inzwischen gesagt haben, und sie wird unter Schock stehen.«

»Wegen der Scheidung?«

»Nicht nur deshalb. Rosie nimmt die stürmische Romanze und die lange Ehe unserer Eltern als Beweis, dass ihre Ehe mit Dan funktionieren wird. Wenn sie erfährt, dass sie sich trennen, wird das die Dinge verändern.« Sie fing seinen Blick auf. »Du glaubst, dass ich mich einmische, aber du kennst Rosie nicht so wie ich. Sie ist impulsiv. Spontan. Ich bin mir keineswegs sicher, ob sie nicht die Romantik des Ganzen hier mitgerissen hat und sie tief in sich aber eigentlich etwas anderes will.« Konnte es andererseits sein, dass ihr Urteilsvermögen in der Sache genauso beeinträchtigt war, wie es das in anderen Situationen gewesen war?

»Meinst du nicht, dass sie das selbst entscheiden sollte?«

»Doch, das meine ich. Aber die Neuigkeit über unsere Eltern könnte ihre Entscheidung beeinflussen.«

»Eine Ehe ist so einzigartig wie die beiden Menschen, die sie eingehen. Die Beziehung deiner Eltern hat keine Relevanz für deine Schwester. Falls sie Zweifel hat, sollte sie darüber mit Dan sprechen, nicht mit dir.«

»Ich kenne sie ihr ganzes Leben lang. Er kennt sie erst seit ein paar Monaten. Egal …« Sie hob die Hand. »Wir sind uns einig, dass wir uns uneinig sind. Sie ist meine Schwester. Ich möchte nicht, dass sie verletzt wird.«

»So oder so wird das Gespräch mit deiner Schwester warten müssen.«

Und dies war natürlich der Punkt, in dem ihre Uneinigkeit am größten war.

»Ich weiß, dass du meinst, deinen Freund beschützen zu müssen, aber Dan will keine Frau heiraten, die Zweifel hat. Ich sage, dass ich mit ihr sprechen muss.«

»Und ich sage, dass dein Gespräch bis morgen warten muss. Du kannst nicht gehen.«

»Natürlich gehe ich. Was willst du andeuten? Dass ich über Nacht bleibe?«

»Ich deute es nicht an. Ich sage dir, dass genau das passieren wird.«

»Willst du mich provozieren? Geht es hier darum, wieder den Macho rauszukehren?« Sie verschränkte die Arme. Tippte mit dem Fuß auf. Versuchte, diese blauen Augen zu ignorieren, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. »Ich bin in deiner Höhle, und da bleibe ich, ist es das? Warum wirfst du mich nicht über die Schulter, wie du es schon einmal getan hast, und bringst mich direkt ins Schlafzimmer? Oder vielleicht willst du die Tür abschließen und mich ans Sofa fesseln?«

Lange starrten sie einander an. Eine Sekunde verschmolz mit der nächsten, bis Katie jedes Zeitgefühl verlor. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

Sie waren eingehüllt vom warmen Feuer in der Hütte, dem fallenden Schnee und der Macht der Anziehung.

Schließlich brach Jordan das angespannte Schweigen. »Wann hast du das letzte Mal aus dem Fenster gesehen?« Seine Stimme war sanft. »Man nennt das einen Blizzard.«

»Es schneit, das weiß ich, aber wenn du mir die richtige Richtung zeigst, komme ich zurecht.«

Überzeugt davon, dass er übertrieb, ging sie hinüber ans Fenster. Mit einem Blick erkannte sie, dass er das nicht tat. Irgendwann während ihres Gesprächs musste sich der Sturm verschlimmert haben. Die Bäume um die Hütte waren nicht mehr zu erkennen. Die Welt dort draußen hatte keinerlei Konturen mehr. Katie sah nur noch eine wirbelnde Masse von Weiß. Plötzlich stieg Panik in ihr auf. Sie war gefangen. »Du musst doch ein Schneemobil oder so was haben, das ich leihen kann. Irgendwas mit Scheinwerfern. Irgendeine Möglichkeit, den Weg runterzukommen.«

»Du wärst tot, bevor du überhaupt nur den Weg finden würdest, und du würdest die Mitglieder des Rettungsteams gefährden. Das kann ich nicht zulassen.«

Nein, natürlich konnte er das nicht zulassen, denn er hatte nicht nur die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte, sondern er war auch ein anständiger Mensch.

Verzweiflung erfasste sie. »Wie lange wird der Sturm dauern?«

»So lange, wie die Natur es vorgesehen hat.«

Es nervte sie, dass er so entspannt war. »Du genießt das, oder?«

»Bild dir bloß nichts ein. Bislang warst du keine großartige Gesellschaft, obwohl ich überzeugt bin, dass sich das ändern könnte, wenn du dich ein bisschen abregst.«

Prompt bekam sie Gewissensbisse. Ohne ihn wäre sie von einem Berglöwen angefallen worden oder hätte sich im Schneesturm verirrt. »Ich bin ein bisschen gestresst.«

»Das merke ich.«

»Ich muss mich um Rosie kümmern. Du musst doch irgendeine Möglichkeit haben, jemanden zu kontaktieren. Das ist ein Notfall.«

»Wir haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was einen Notfall ausmacht.«

»Wir haben unterschiedliche Vorstellungen von den meisten Dingen. Ist alles eine Frage der Perspektive. Eingeschneit zu sein und ohne jede Möglichkeit der Kommunikation, das ist in meiner Welt ein Notfall.«

»Aber heute sind wir in meiner Welt. Ich habe immer genug Vorräte in der Hütte. Und ich habe einen Generator, falls der Strom ausfällt. Ich habe so ziemlich alles, was ich brauche, um in einer Situation wie dieser zu überleben. Du wirst weder verhungern noch erfrieren.«

»Wie oft kommt so was wie jetzt vor?«

»Zwei-, dreimal jeden Winter. Manchmal öfter. Wir sind in den Bergen.«

Sie rieb sich die Arme und ging zurück zum Feuer. Die ganze Situation war surreal. Was hatte sie nur geritten, in den Wald zu laufen? Warum war sie nicht in die Bar der Snowfall Lodge gegangen, hatte sich einen großen Wodka bestellt und ihre Probleme im Alkohol ertränkt? »Es muss hier doch irgendwo Empfang geben.«

Er griff in die Hosentasche und zog sein Handy hervor. »Sieh selbst. Und wenn du schon dabei bist, schau dir die Nachricht von Dan an.«

Sie nahm das Handy, sah, dass es keinen Empfang hatte, und las seine letzte Nachricht an Dan.

Habe Katie gefunden. Werde sie über Nacht hierbehalten.

Dan hatte geantwortet:

Danke. Ich gebe der Familie Bescheid.

Sie war bestürzt, aber auch erleichtert. Zumindest würde ihre Mutter nicht befürchten, dass sie irgendwo tot im Wald lag. Sie gab ihm das Handy zurück. »Was jetzt also?«

»Na ja, ich habe nicht vor, dich über die Schulter zu werfen und ins Schlafzimmer zu tragen, also werden wir wohl eine andere Möglichkeit finden müssen, uns die Zeit zu vertreiben.«

Sie fühlte sich unbehaglich. »Also … willst du Lebensgeschichten austauschen?«

»Ich werde erst mal Holz nachlegen. Du solltest dich hinsetzen und dich entspannen.«

»Und du solltest inzwischen wissen, dass ich nicht weiß, wie man sich entspannt.«

»Versuch es.« Er ging aus dem Zimmer und schloss die Tür.

Sie schnitt eine Grimasse und fühlte sich kindisch. Wenn er sie nicht gefunden hätte, befände sie sich noch immer auf dem Weg, und der Blizzard hätte jede Möglichkeit, ihren Heimweg zu finden, hinweggefegt.

Besorgt um ihre Schwester, ging sie hinüber zum Bücherregal. Jordan war offenbar ein begeisterter Leser. Es gab mehr Sachbücher als Romane, viele Bücher über Arktisexpeditionen und Klettern. Und mehrere Regale mit Biografien.

Als er ein paar Minuten später wieder ins Zimmer kam, saß sie auf dem Sofa und las in einem Buch über Ernest Shackletons unglückliche Reise in die Antarktis.

Er warf die Holzscheite, die er trug, in den Korb neben dem Kamin. »Das Buch wird dich nicht wärmen.«

Sie klappte das Buch zu. »Nach deinem Bücherregal zu urteilen, liebst du das Leben in der freien Natur.«

»Ja, das tue ich.« Vorsichtig schob er einen Holzscheit ins Feuer. »Ich schätze, du bist eher der Stadttyp und bleibst lieber drinnen.«

»Ich arbeite in der Stadt, und mein Job ist drinnen, insofern habe ich da keine große Wahl. Die meisten Menschen suchen sich ihren Job nicht nach der Umgebung aus. Ich wette, du schon.«

»Ich würde nirgendwo anders als in den Bergen wohnen wollen.«

»Du hast keine große Meinung von mir. Du glaubst, dass ich ein Kontrollfreak bin und mich überall einmische.«

Er stand auf. »Ich glaube, dass du deine Schwester liebst.«

»Bist du Einzelkind?«

»Ja.«

»Und deine Eltern?«

»Meine Mutter lebt im nächsten Tal. Der Verbleib meines Vaters ist seit der Scheidung unbekannt.«

»Er ist nicht in Kontakt mit dir geblieben?« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater nicht Teil ihres Lebens war. »Das tut mir leid.«

»So ist das Leben. Solche Dinge geschehen. Ist dir warm genug?«

»Ja. Danke. Tut mir leid, dass du nun einen spontanen Hausgast hast.« Vielleicht würde sie eines Tages auch so gelassen über die Scheidung ihrer Eltern reden können, wie er es tat. Um sich zu beruhigen, stand sie auf und schlenderte im Zimmer herum, wobei sie all die kleinen Details in sich aufnahm. Die maßgeschneiderten Regale. Die wunderschön geschnitzte Holztreppe, die nach oben zur Galerie führte. »Diese Hütte ist toll. Wie hat man es geschafft, so etwas mitten in den Wald zu bauen?«

Er setzte sich aufs Sofa. »Es gab viele Herausforderungen, das ist mal sicher.«

Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern über den Handlauf. »Das ist eine wunderschöne Arbeit.«

»Danke. Damals hat mich die Arbeit halb umgebracht.«

»Du hast das gebaut?«

»Warum so überrascht?«

»Na ja, weil …« Sie betrachtete die Treppe. »Weil sie unglaublich ist. Du hast echtes Talent und handwerkliche Fähigkeiten. Um ehrlich zu sein, habe ich nie darüber nachgedacht, wie Treppen gemacht werden.«

Er lächelte. »Du bist der Typ Mensch, der in einem Haus lebt, ohne sich zu fragen, wer es gebaut hat.«

»Ich hege keinerlei Bewunderung für die Person, die mein derzeitiges Haus gebaut hat. Tatsächlich würde ich sie vielleicht sogar umbringen, wenn ich sie träfe. Jeden Winter gibt der Boiler den Geist auf, in meinem Schlafzimmer ist es feucht. Das ist das einzig Gute an meiner Arbeit: dass sie mich davon abhält, mein Haus allzu oft von innen zu sehen.«

»Magst du deine Arbeit nicht?«

»Doch, aber manchmal ist es hart.« Sie verschloss sich, so wie sie sich immer verschloss, wenn sie über eine Sache nicht reden wollte. Sie hatte ihre Probleme immer selbst gelöst. Sie war Dr. Kathryn Elizabeth White und hatte ihr Leben im Griff.

Zumindest war das einmal so gewesen. Nun war sie Dr. Kathryn White, ein emotionales Wrack. Sie war immer diejenige gewesen, die Ruhe bewahrte, die die Kontrolle behielt. Andere hatten gewöhnlich darauf gewartet, dass sie die Führung übernahm.

Im Moment wollte sie sich verstecken, doch Jordan blickte sie an, als ob er alles sehen könne.

»Du wirkst auf mich nicht wie eine Frau, die ein Problem hat, mit ›hart‹ umzugehen.«

»Ich schätze, jeder hat seine Grenzen.« Sie schlang die Arme um sich und ging zum Fenster, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Sie konnte sich zusammenreißen. Und das tat sie.

Tief atmete sie ein, und ihr Atem ließ das Glas beschlagen. Sie widerstand der Versuchung, ein Herz darauf zu malen. Das wäre zu albern, und sie war nicht albern.

Draußen fiel der Schnee ohne Unterlass. Irgendetwas an diesem makellosen Weiß ließ die Außenwelt fern und irreal erscheinen. Den Großteil ihrer Zeit verbrachte sie in einer sterilen Umgebung. Lange Flure. Piepende Maschinen. Das Tempo war immer hoch. Langsam war ein Wort, das in ihrem Vokabular gar nicht vorkam.

»Ich liebe diesen Ort. Und überrascht mich das? Ja, das tut es ein bisschen.« Sie lehnte den Kopf gegen das Fenster. Das Glas war kalt. »Vielleicht lerne ich etwas Neues über mich selbst.« Das passierte neuerdings oft. Es war, als bewohnte sie den Körper einer Fremden.

»Wohin fährst du normalerweise in den Urlaub? Du scheinst mir der Typ für Städteurlaub zu sein. Kultur, Galerien.«

»Ich mache keinen Urlaub.«

Erstaunt sah er sie an. »Nie?«

»Fast nie. Ich arbeite. Wenn ich die Energie habe, einen geraden Satz zu sagen, treffe ich Freunde oder Familie. Wenn ich einen Tag frei habe, schlafe ich die Erschöpfung der letzten sieben Tage aus, die ich bei der Arbeit verbracht habe. Ehrlich? Ich bin nicht sicher, dass ich meine Arbeit liebe.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, als wären sie zu lange eingesperrt gewesen. »Ich kann nicht glauben, dass ich das laut gesagt habe.«

»Warum?«

Sie drehte sich zu ihm um. »Weil es real wird, wenn ich es ausspreche, und der Gedanke, dass ich meinen Job vielleicht nicht mag, macht mir Angst. Seit ich ein kleines Mädchen war, wollte ich Ärztin werden. Ich sah, dass meine Schwester krank war, und das war’s. Ab diesem ersten Moment im Krankenhaus wusste ich, was ich später mal machen wollte. Ich wollte in der Lage sein, so etwas zu heilen. Die verängstigte Miene meiner Mutter verschwinden zu lassen. Also habe ich gelernt. Ich habe so viel gelernt. Für jede Prüfung, die ich als Kind gemacht habe, jedes Buch, das ich las. Das Ganze war wie eine Leiter, und ich kletterte jede Sprosse hinauf. Als ich meinen Platz an der medizinischen Fakultät erhielt, waren meine Eltern so stolz – und ich ebenfalls. Ich war die erste Ärztin in der Familie.«

»Was es dir schwerer macht, zuzugeben, dass du nicht sicher bist, ob du in dem Job weiterarbeiten willst. Es ist nicht leicht, etwas loszulassen, in das man so viel Energie gesteckt hat. Hast du mit ihnen darüber gesprochen?«

»Nein. Ich möchte sie nicht beunruhigen.«

»Es scheint mir, als würden Sie viel Zeit darauf verwenden, Ihre Familie zu schützen, Dr. White.« Er stand auf, ging in die Küche und kam mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurück. »Etwas zu trinken?«

»Normalerweise trinke ich tagsüber nicht.«

»Mach halt eine Ausnahme. Es könnte dir guttun, diese strengen Regeln, die du dir auferlegt hast, mal außer Acht zu lassen. Und außerdem ist es fast dunkel draußen.« Er schenkte ein und reichte ihr ein Glas. »Komm her, und setz dich.«

Sie nahm das Glas und setzte sich aufs Sofa. Leder. Lächerlich gemütlich. Sie ließ sich hineinsinken und fragte sich, ob ein solches Sofa dazu beitragen würde, dass sie sich öfter entspannte.

»Es ist verrückt, überhaupt daran zu denken, etwas aufzugeben, wofür ich mein ganzes Leben lang ausgebildet wurde, oder?«

»Ist es das? Macht es dir noch Spaß?«

»So einfach ist das nicht.«

»Das ist das Leben selten.« Er setzte sich neben sie.

»Wenn du eine Medizinkarriere startest, ist es nicht so leicht, etwas anderes zu tun. Und je länger man in dem Job bleibt, desto schwerer wird es. Ich wollte immer Ärztin sein. Ich dachte, das ist es. Das bin ich.«

»Die Menschen verändern sich. Und das ist erlaubt. Es gibt keine Regel, die besagt, dass du dein ganzes Leben lang das Gleiche machen musst.«

»Ich darf nicht aufgeben.«

Er sah sie an. »Warum? Hast du Angehörige, die von dir abhängig sind? Kinder, die du bislang noch nicht erwähnt hast?«

»Nein.«

»Schulden? Eine Hypothek?«

»Ich wohne mit einer Freundin zur Miete. Ich spare für ein eigenes Haus, aber ich bin immer zu müde, um mich umzusehen. Und ich mag es, über unseren kaputten Boiler zu jammern. Das gehört zu meinem Alltag.«

»Also hast du einen finanziellen Puffer.«

»Ich denke schon.« So hatte sie das noch nie betrachtet. »Aber was sollte ich tun?« Sie nahm einen Schluck Wein und dann noch einen. »Der ist gut. Ich hätte heute Morgen ein Glas davon trinken sollen, um mich zu beruhigen, statt rauszugehen und mich zu verirren.«

»Dann hättest du Dinge gesagt und getan, die du später bereut hättest. Wein zum Frühstück hat meistens diese Wirkung.« In seinen Augen lag ein Lächeln, während er mit dem Stiel seines Glases spielte. »Der Grund, warum du vielleicht aufhören willst – hat der irgendwas mit dem angeblich schlechten Urteilsvermögen zu tun, von dem du gesprochen hast?«

Abgesehen von dem Termin mit der diensthabenden Betriebsärztin hatte sie mit niemandem darüber geredet. Überrascht stellte sie fest, dass sie es gern wollte. Vielleicht weil Jordan ein Fremder war. Er war nicht Vicky, die es gut meinte, aber ungeschickt war. Oder ihre Eltern, die sie beschützen musste. Über seine Gefühle musste sie sich keine Gedanken machen. Er entsprach am ehesten einem neutralen Beobachter.

Sie nahm einen weiteren Schluck Wein. »Ja. Auch wenn ich glaube, dass ich schon vor langer Zeit erste Zweifel hatte, wenn ich ehrlich bin. Aber es war leicht, mir diese Zweifel auszureden. Der Medizin verschreibt man sich sein Leben lang. Ich habe nie gedacht, dass ich die Richtung ändern könnte. Aber wenn etwas so Großes wie das passiert …« Sie hielt inne. »… dann fragt man sich, ob man überhaupt gut darin ist. Ob man der Welt nicht vielleicht einen Gefallen tut, indem man den Job wechselt.«

»Ist das ein weiteres Beispiel dafür, wie streng du mit dir bist? Nicht, dass ich viel über Medizin wüsste, aber ich kann mir vorstellen, dass die Antworten nicht immer offensichtlich sind.«

»Aber jede Entscheidung, die man trifft, hat Konsequenzen.« Sie starrte ins Feuer. »Ein Mädchen starb. Sie hieß Emma. Sie war vierzehn Jahre alt und mit ihren Freunden aus, um ihren Geburtstag zu feiern. Sie waren zu viert, gingen Arm in Arm, lachend. Vermutlich sprachen sie über Klamotten und die Jungs, die sie mochten. Das Auto kam aus dem Nichts. Es raste auf den Bürgersteig … den Gehweg …«

»Ich weiß, was ein Bürgersteig ist.«

»Ja. Natürlich weißt du das.« Sie atmete schneller. »Der Wagen raste in Emma hinein, schleuderte sie wie eine Puppe in die Luft und fuhr ohne anzuhalten weiter. Kannst du dir das vorstellen? Der Fahrer hat ein Mädchen totgefahren, ein menschliches Wesen, und hat nicht angehalten.« Selbst nach allem, was sie in ihrem Leben schon gesehen hatte, konnte sie nicht begreifen, was Menschen einander antaten. Sie blickte zu Jordan und sah das Entsetzen in seinem Gesicht. Dass er schockiert war, tröstete sie. Er verurteilte sie nicht, weil sie den Vorfall nicht als Routine betrachtete. »Sie wurde zu uns gebracht – wir hatten das Notfallteam bereit, Chirurgen, alles, aber es war …« Warum fiel es ihr so schwer, darüber zu sprechen? »Ihr Vater kam im Krankenhaus an. Alleinerziehend. Er sorgte für Emma, seit seine Frau gestorben war. Sie war sein Leben. Sein Baby. Er bettelte uns an, sie zu retten. ›Lassen Sie sie nicht sterben, lassen Sie sie nicht sterben.‹«

Jordan nahm ihr das Weinglas aus der Hand und legte dann seine Hand auf ihre. Sie spürte es nicht einmal. Sie war wieder dort, mit Emmas Blut auf ihren Handschuhen und der verzweifelten Hoffnung eines Vaters in ihren Händen.

»Wir konnten es nicht. Ihre Verletzungen waren … katastrophal.«

»Tut mir leid.« Er umschloss ihre Hand fester, und diesmal spürte sie den Druck seiner Finger.

»Ihr Vater war außer sich. Ich musste es ihm sagen. Das war mein Job. Und er war allein. Sie war alles, was er hatte auf der Welt. Sein kleines Mädchen.« Seine Liebe und sein Leid waren so greifbar gewesen, dass sie seine Qual mit durchlebt hatte. In dieser Situation hatte sie ihren Job gehasst. Seine Grenzen. Ihre Grenzen.

»Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie schwierig dieses Gespräch gewesen sein muss.«

»Das ist Teil des Jobs. Der schlimmste Teil.« Sie klammerte sich an seine Hand. »Er konnte es nicht verstehen, und ich konnte nicht viel dazu sagen, denn wie kannst du etwas verständlich machen, was nicht zu verstehen ist?«

»Ich nehme an, das war ein besonders schwieriges Gespräch.«

»Wir redeten, er fragte nach Einzelheiten. Die Polizei kam. Sie hatten den Wagen gefunden. Eins der Mädchen hatte ihn beschrieben und …« Sie schloss die Augen. »Da war … sie konnten den Wagen identifizieren … DNS … Blutspuren … es spielt keine Rolle. Du möchtest das nicht wissen.« Sie öffnete die Augen und sah ihn an. »Du meinst vermutlich, dass ein guter Arzt sich davon distanzieren muss.«

»Nein, das meine ich nicht.«

»Er war betrunken. Der Mann, der sie getötet hat. Sie stellten und verhafteten ihn. Ich glaube, das hat für den Vater das Fass zum Überlaufen gebracht. Sein Baby, getötet von einem Kerl, der niemals hinter dem Steuer hätte sitzen dürfen. Sinnlos. Vermeidbar.« Sie spürte Jordans Mitgefühl. »Die Polizisten gingen zu den anderen Mädchen, ich war allein mit dem Vater. Ich weiß nicht, was passierte. Innerhalb eines Moments veränderte sich alles. Er war … rasend vor Schmerz. Er umklammerte meinen Hals und knallte mich gegen das Glasfenster des Besucherzimmers. Schrie immer wieder: ›Warum konnten Sie sie nicht retten? Warum?‹« Sie hatte Sterne gesehen, Dunkelheit und dann seine Stimme gehört: Du willst eine verdammte Ärztin sein? »Eine Schwester kam ins Zimmer. Versuchte, ihn wegzuziehen, doch er war zu stark, sodass sie loslief, um Hilfe zu holen.«

»Hat er dich gehen lassen?«

»Das Glas hinter mir brach. Ich glaube, er hat sich erschrocken, denn er ließ mich los. Menschen kamen zu Hilfe – das war’s.«

Jordan fluchte leise und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Wenn er zuvor schockiert ausgesehen hatte, wirkte er nun erschüttert. »Warst du verletzt?«

»Ein Schnitt in der Schulter. Es war nichts. Er hatte ein Kind verloren. Sein Baby. Ich wollte, dass sie dem betrunkenen Mistkerl ihren zerfetzten Körper zeigen. Ich wollte, dass er sieht, was er getan hat, aber natürlich funktioniert das so nicht.« Mit zitternden Fingern griff sie nach ihrem Weinglas und nahm einen Schluck. Sie hatte es ihm erzählt. Sie hatte es jemandem erzählt. »Als Ärztin versucht man, die Dinge an sich abprallen zu lassen. Wenn ich mir Gefühle erlaube, kann ich meinen Job nicht machen. Das macht mich nicht gefühllos, sondern effizient.«

»Aber du bist ein Mensch.«

Es war eine ruhige Feststellung, durch die sie sich besser fühlte. Zum ersten Mal seit Wochen fragte sie sich, ob sie vielleicht doch keine Totalversagerin war. Vielleicht war sie einfach nur ein Mensch.

Sie trank ihr Glas aus. »Diesen Vorfall – diesen Tod – konnte ich nicht an mir abprallen lassen. Er hat sich mir eingegraben wie eine Scherbe dieses Glases. Außen ist alles verheilt.« Sie hatten die Glassplitter entfernt, sie genäht und ihr gesagt, dass sie eine Narbe behalten würde. Es war ihr egal gewesen. Ein Teil von ihr dachte sogar, dass sie das verdient hätte. »Ich wollte sein kleines Mädchen retten. Deshalb bin ich Ärztin geworden. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob wir mehr hätten tun können, um das Kind zu retten, obwohl ich wusste, dass wir das nicht konnten. In meinem Hirn laufen immer noch Szenarien ab, in denen sie früher gebracht wird, in denen der Krankenwagen fünf statt zehn Minuten braucht – ich habe keine Ahnung, ob das einen Unterschied gemacht hätte, aber die Sache lässt mich einfach nicht los.«

»Flashbacks?«

»Die ganze Zeit. Wenn doch nur das und das gewesen wäre. Was wäre gewesen, wenn? Haben wir alles getan? Haben wir alles versucht?«

»Natürlich ist die eigentliche Frage, warum der Typ sich betrunken hinters Steuer gesetzt hat.«

»Ich weiß, dass du recht hast. Aber Logik hilft nicht.« Doch Jordan tat es. Er half ihr, als ob seine achtsamen, mit Bedacht gewählten Worte die zerfetzten Teile in ihrem Inneren zusammenflickten.

»Technisch gesehen war es Körperverletzung.« Er griff nach der Flasche Wein. »So wie ich dich kenne, hast du auf eine Anzeige verzichtet.«

»Ja. Der Mann war außer sich. Er …« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Das war nicht der erste tragische und schwierige Fall, mit dem ich zu tun hatte. Ich weiß nicht, warum mich dieser so mitnimmt, aber das tut er. Ich habe das Gefühl … ich habe das Vertrauen verloren.«

»Weil du seine Tochter nicht retten konntest?«

»Nicht nur das. Ich hätte sehen müssen, wie aufgewühlt er ist. Ich hätte das Risiko sehen müssen. Ich habe die Situation völlig falsch eingeschätzt. Es hätte jemand vom Personal sein können, den er angegriffen hat, nicht ich. Es hätte schlimmer sein können. Und dann hätte er zusätzlich zu seiner Trauer noch mit einer Anzeige wegen Körperverletzung zu tun gehabt.«

Er schwieg einen Moment. »Du verlangst viel von dir, meinst du nicht? Du bist ein Mensch, Katie. Du hast Gefühle. Du hast Mitgefühl.«

»Meine Gefühle hatten mich so übermannt, dass ich nicht nachgedacht habe. Er war außer sich, verständlicherweise. Und wütend. Vermutlich hätte ich die Möglichkeit von Gewalt vorhersehen müssen.«

»Bist du Gedankenleserin? Verlangt man von euch, menschliches Verhalten vorherzusagen?«

»Bis zu einem gewissen Grad, ja. Ich frage mich, ob ich müde war oder einfach nicht fokussiert. Oder vielleicht bin ich nicht gut genug. Inzwischen kann ich das alles nicht mehr auseinanderhalten.«

Er schenkte ihr nach. »Du erwartest Perfektion. Ich wette, du hast als Studentin immer nur Bestnoten gehabt.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Bist du Psychologe?«

»Nein, aber sogar ich erkenne, dass man ein solches Notensystem nicht auf Situationen im echten Leben übertragen kann. Du kämpfst darum, perfekt zu sein und deine Arbeit zu machen. Und aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, glaubst du, dass dich das zu einer schlechten Ärztin macht.«

»Ich glaube, ich habe sowieso an mir gezweifelt, und dieser Vorfall hat mich noch mehr an mir zweifeln lassen. Schon seit Wochen stehe ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Ich bin krankgeschrieben, habe ich das schon gesagt? Meine Familie weiß nichts davon. Sie hat keine Ahnung, was passiert ist. Ich versuche immer, sie nicht zu beunruhigen. Für Eltern ist es die Hölle, sich um ein Kind Sorgen zu machen. Ich sah diese Angst im Gesicht meiner Mutter, wenn Rosie ins Krankenhaus musste. Ich sah sie im Gesicht meines Vaters.«

»Also zwingst du dich, allein mit deinen Gefühlen klarzukommen. Es ist in Ordnung, sich Menschen anzuvertrauen, Katie, sich anzulehnen. Jeder braucht Unterstützung.«

Sie fragte sich, wer ihn unterstützte. Vermutlich Dan. Und andere Freunde. Seine Mutter. »Ich werde klarkommen. Abgesehen von den Kopfschmerzen, die ich morgen von dem vielen Wein haben werde.« Sie atmete durch und stellte das Glas ab. »Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet du dafür sorgst, dass ich mich besser fühle?«

Ein winziges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ich dachte, ich wäre der nervigste Mann, der je auf Erden gelebt hat?«

»Wie sich herausstellt, bist du gar nicht so übel.«

Sein Lächeln erlosch, und er griff erneut nach ihrer Hand. »Es ist nicht deine Schuld, Katie. Nichts davon.«

Sie wusste, dass sie die Hand besser wegziehen sollte, doch ihr gefiel seine Berührung.

»Das weißt du nicht. Du kannst es nicht wissen.«

»Aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich froh wäre, wenn sich jemand wie du um mich kümmert, falls ich mal verletzt sein sollte. Du zitterst.« Er drückte ihre Hand, stand auf und legte ein weiteres Holzscheit ins Feuer. »Ich bin sicher, dass du eine gute Ärztin bist, aber das heißt nicht, dass du weiter eine Arbeit ausüben musst, die dir nicht mehr gefällt.«

»Etwas aufzugeben, für das ich so lange und so hart gearbeitet habe …« Sie biss sich auf die Lippen. »Das wäre dumm von mir, meinst du nicht?«

Er wartete, bis die Flammen um das Holzscheit züngelten, und setzte sich dann wieder neben sie. »Ich hätte eher mutig gesagt.«

»Mutig?«

»Der einfache Weg wäre, weiterhin das zu tun, was du tust, ohne es zu hinterfragen.«

»Ja, das ist die Option mit dem kleinsten Risiko.«

»Für mich liegt das Risiko darin, dass du in zwanzig oder dreißig Jahren zurückblickst und bereust, dass du dein ganzes Leben etwas getan hast, das du nicht liebst. Aber du kannst jederzeit eine Auszeit nehmen. Statt die Entscheidung sofort zu fällen, nimm dir Zeit, alles gut zu durchdenken.«

Das war eine Option, an die sie gar nicht gedacht hatte. In ihrem Kopf hatte sie nur Alles-oder-nichts-Szenarien durchgespielt. Warum hatte sie nicht an einen Kompromiss gedacht? Warum hatte sie nicht in Erwägung gezogen, sich eine Auszeit zu nehmen?

»Ich kann kaum glauben, dass ich das zugebe, aber gelegentlich sagst du etwas richtig Kluges, Jordan.«

Sie saßen dicht beieinander. Die einzigen Geräusche waren das Knistern des Feuers und der Wind, der um die Hütte heulte. Was zuvor gemütlich gewesen war, fühlte sich nun intim an. Ihr Bein berührte seins, und sie spürte ein Verlangen aufwallen, das sie fast umwarf.

Sie blickte ihn an und sah dann rasch wieder fort. Allerdings nicht, bevor sie nicht eine Antwort in seinen Augen gelesen hatte. »Was ist mit dir? Liebst du, was du tust?«

»Meistens. Und dann frieren mir manchmal meine Finger und Zehen in einem Blizzard ab …«

»Und dann sehnst du dich nach einem Job im netten, warmen Büro?« Die Atmosphäre zwischen ihnen hatte sich verändert. Sie spürte, dass auch er sich dessen bewusst war.

Er lachte sanft. »Nein. Das war nie ein Traum von mir. Ich wollte immer in den Bergen leben und arbeiten. Das war für mich das Wichtigste.«

Sie beneidete ihn darum, dass er so genau wusste, was er wollte. »Ich kann nicht glauben, dass du diese Hütte gebaut hast.« Sie stand auf, erschöpft von ihrem emotionalen Ausbruch und sehr verlegen.

»Ich habe jedes Rundholz und jede Planke selbst geschliffen. Habe dabei fast die ganze Haut an den Fingern verloren.«

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke. »Du hast keinen Fernseher und kein WLAN

»Stimmt.«

»Wie beschäftigst du dich?« Sie drehte den Kopf und begegnete seinem Blick.

Seine Augen funkelten schelmisch. »Baggern Sie mich an, Dr. White?«

Ihr Mund war trocken. »Vielleicht. Natürlich könnte es am Wein liegen.« Sie hatte ihn vermutlich falsch verstanden, was die Peinlichkeit noch vervielfachen würde. »Da es nicht danach aussieht, als ob ich heute Abend irgendwohin könnte: Darf ich doch deine Dusche benutzen?«

Er erhob sich. »Ich hole dir Handtücher und lege trockene Kleidung aufs Bett.« Das Bett. Ein Bett. Die Realität holte sie ein. Sie war mit Jordan eingeschneit.

»Hast du Decken für das Sofa?«

»Ja, aber ich nehme das Sofa.« Er verschwand und kam einen Moment später mit Handtüchern zurück. »Die Dusche ist geradeaus.«

Im Bad zog sie ihre Kleidung aus, hängte ihre Unterwäsche über den beheizten Handtuchhalter, damit sie trocknete, und trat dann in die Dusche. Sie entpuppte sich als Regendusche. Sie wusch ihr Haar, seifte den Körper ab und bemerkte irgendwann, dass sie sich besser fühlte als lange zuvor. Vielleicht lag es am Wein. Oder daran, dass sie endlich über ihr traumatisches Erlebnis gesprochen hatte. Jordan hatte sich als guter Zuhörer erwiesen.

In ein Handtuch gehüllt, rettete sie ihre noch immer klamme Unterwäsche und ging durch den Flur ins Schlafzimmer. Er hatte ihr eine fleecegefütterte Jogginghose, ein T-Shirt und einen Pullover hingelegt.

Sie zog die Jogginghose oben zu und rollte die Beine auf, damit sie nicht darüber stolperte. Ihr eigener Pullover war wundersamerweise trocken geblieben, sodass sie diesen anzog.

Das Schlafzimmer wurde beherrscht von dem großen Bett und dem Kamin. Wie im Rest der Hütte lag der Fokus auf der Qualität des Holzes und der Handwerkskunst. Auf beiden Nachttischen stapelten sich Bücher, und eine Lampe tauchte das Bett in einen warmen Schimmer. Es war eher rustikal als elegant, doch irgendetwas daran weckte den Wunsch in ihr, hineinzukriechen, sich gegen die Kissen sinken zu lassen und zu lesen, bis ihr die Augen zufielen.

Stattdessen trocknete sie ihr Haar und ging zu Jordan ins Wohnzimmer. Er saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa und starrte ins Feuer.

Sie setzte sich neben ihn und nahm ihr Glas. »Jetzt verstehe ich, warum du versuchst, Dan zu beschützen. Er ist wie ein Bruder für dich. Du siehst ihn genauso, wie ich Rosie sehe.«

»Nicht genauso, aber ja …« Er zuckte die Achseln. »Es gibt gewisse Ähnlichkeiten.«

»Glaubst du, dass die Ehe halten wird? Überstürzen sie die Dinge?«

»Anders als Sie, Dr. White, nehme ich nicht in jeder Situation eine Risikoeinschätzung vor und versuche nicht, jede Entwicklung vorherzusagen. Ich neige dazu, das Leben geschehen zu lassen.«

»Und darum beneide ich dich. Aber wie schätzt du die Lage ein?«

»Meine Ehe dauerte sechs Monate, insofern halte ich mich nicht für qualifiziert, die Beziehung von anderen zu kommentieren oder Ratschläge zu erteilen. Aber ich weiß, wie etwas Übereiltes aussieht, und hier sehe ich das nicht.«

»Aber deine persönliche Erfahrung hat dich nicht zynisch werden lassen. Wenn doch, hättest du Dan von der Hochzeit abgeraten.«

»Das ist lange her. Wir waren achtzehn. Dan ist anders als ich. Und wie ich schon sagte, ich glaube nicht, dass die eigenen Erfahrungen in Sachen Beziehungen relevant für jemand anderen sind. Wir sind alle unterschiedlich. Was ist mit dir? Verlobt? Fester Freund?«

»Keins von beiden. Ich komme Menschen niemals so nah. Weißt du noch, als du mich über die Schulter geworfen hast? Das war mehr Action, als ich seit langer, langer Zeit hatte.«

»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

Sie setzte sich auf und stellte das Glas auf den Tisch. »Ja. Ich bin ein Feigling. Da haben wir’s – ich habe es gesagt. Ich bin ein Feigling. Immer wenn man jemanden liebt, riskiert man, dass einem das Herz zu Brei zermalmt wird.«

»Ein heiterer Gedanke.«

»Ich bin risikoscheu und nicht sehr mutig. Darin hast du dich geirrt. Ich kann diese tiefe Angst, die entsteht, wenn man jemanden liebt, nicht ertragen. Ich habe das erst kürzlich begriffen. Offenbar bin ich jetzt also sowohl Psychiaterin als auch Spezialistin in Notfallmedizin. Die eine Sache, in der ich nicht gut bin, sind Beziehungen. Aber he, wir können nicht alle gut in allem sein.«

»Aber du musst dich doch mal verabreden.«

»Normalerweise treffe ich einen Mann nur einmal. Niemand ruft mich ein zweites Mal an.«

Er hob eine Braue. »Warum?«

»Könnte vermutlich daran liegen, dass ich ihnen eine falsche Telefonnummer gebe.«

Amüsiert sah er sie an. »Dr. White, Sie schockieren mich.«

»Ich nenne ihnen auch einen falschen Namen. Und ich habe keine Ahnung, warum ich dir das gerade erzähle.«

Er lachte auf. »Verrat mir den Namen. Nein, warte – du nennst dich Tiara. Oder vielleicht Aurora. Geranium?«

»Karen.«

»Nein. Das glaube ich nicht. Auf keinen Fall nennst du dich Karen.«

»Doch. Gibt es noch Wein? Wenn das hier eine Beichte wird, werde ich ihn brauchen.«

»Ja, Karen.« Er schenkte ihnen beiden nach. »Tut mir leid, aber du bist keine Karen. Die Kerle in London müssen dämlich sein.«

»Was ist mit dir?«

»Ich habe keinen falschen Namen. Gab nie die Notwendigkeit.«

»Ich meine, ob du datest? Seit deiner Frau musst du doch Beziehungen gehabt haben.«

»Ich schätze, ich bin ebenfalls sehr vorsichtig.«

Sie saßen Seite an Seite auf dem Sofa, ihre Ellenbogen und Oberschenkel berührten sich. Sie war sich seiner Gegenwart sehr bewusst.

»Jordan?«

»Was?«

»Ich habe dich angelogen.«

»Inwiefern?«

»Na ja, als ich dir sagte, dass meine Welt sich nicht verändert hat.« Sie drehte den Kopf und stellte fest, dass er sie bereits ansah. Ihr Magen zog sich zusammen.

»Sie hat sich verändert?«

»Sie könnte sich verändert haben. Ein bisschen.«

Langsam ließ er den Blick zu ihrem Mund wandern. »Du bist nicht sicher?«

»Der Wein macht es schwierig, klar zu denken.« Sie rückte etwas näher. »Würde es dich schockieren, wenn ich dich jetzt küsse?«

»Versuch es, und ich sage es dir.«

Die Sonne war bereits untergegangen, und nur das flackernde Feuer spendete Licht. Es war, als ob jenseits der hölzernen Wände nichts existierte. Diese Hütte war zu einem Kokon geworden.

Sie setzte sich auf und stellte ihr Glas ab. Das Gleiche tat sie mit seinem.

»Ich sehe, du bist zielstrebig«, murmelte er. »Ein Frau mit einer Mission, die eine Antwort auf die Frage sucht, ob die Welt sich verändern wird.«

»Dies ist ein klinischer Versuch unter kontrollierten Bedingungen. Mehr nicht.« Sie näherte sich seinem Mund und hielt dann inne, ihr Atem vermischte sich mit seinem. »Nur um das klarzustellen: Auch wenn die Welt plötzlich kopfsteht, fragst du nicht nach meiner Nummer, okay?«

Er schob die Hände in ihr Haar und umfasste ihr Gesicht. »Das wäre auch sinnlos, da ich ja bereits weiß, dass sie falsch wäre. Karen.«

Ihre Münder hatten sich noch nicht berührt, doch sie konnte es kaum erwarten. Diese blauen Augen, die sie musterten. Seine Finger, stark wie Stahl, die sanft ihr Gesicht hielten.

Die neckische Atmosphäre war verschwunden, geblieben war eine köstliche Spannung.

War das hier ein Fehler? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie es satthatte, sich schlecht zu fühlen, und dass es ihr mit Jordan gut ging. Rosie hatte gesagt, sie hätte vergessen, wie man sich amüsierte. Sie musste sich überzeugen, dass dieser Teil von ihr noch immer lebendig und intakt war.

Sie näherte sich seinen Lippen. »Du kannst mich immer noch aufhalten.«

»Warum sollte ich dich aufhalten?«

Sie bewegten sich gleichzeitig. Ihre Münder fanden einander, ihre Hände suchten den anderen. Sie hatte nur einen Kuss beabsichtigt, mehr nicht. Einen Kuss. Doch sobald Jordan ihren Rücken streichelte, wusste sie, dass ein Kuss niemals genug sein würde.

Ohne den Kuss zu unterbrechen, legte er sich aufs Sofa und zog sie auf sich.

Sie fummelte an den Knöpfen seines Hemdes herum, gab dann auf und riss die Hälften auseinander, sodass die Knöpfe zur Seite flogen. Später fragte sie sich, was an ihm diese Wildheit in ihr hervorrief, doch im Moment dachte sie an gar nichts. Als sie spürte, wie er in ihren Pullover griff, hob sie die Arme, und er zog ihn ihr aus, sodass sich nur noch Seide und Spitze zwischen ihren Körpern befand. Seine Lippen schlossen sich um ihre Brustwarze, bevor er entschied, Seide und Spitze zu entfernen, und ihren BH dasselbe Schicksal ereilte wie seine Knöpfe.

Er umfasste ihr Gesicht und sah sie an. In seinen Augen lag ein Feuer, das sie erregte.

»Was?« Sie küsste seine Stirn, seine Wange und seinen Hals. »Stimmt was nicht?«

»Ja.«

Sie erstarrte, wich ein bisschen zurück und sah ihn fragend an.

Er lächelte leicht. »Du hast immer noch zu viel an.«

Sie erwiderte das Lächeln und erbebte, als er mit den Händen über ihre bloßen Arme fuhr.

»Das kann ich ändern.« Sie setzte sich auf, und ihr Herz begann zu rasen, als er die Finger unter den Bund ihrer Jogginghose schob und sie bis zu den Oberschenkeln hinunterschob. Ihr Höschen folgte, und dann wechselte sie ihre Position, um beides zu Boden fallen zu lassen. Sie spürte seinen Blick auf sich, machte aber keine Anstalten, sich zu bedecken. Stattdessen griff sie nach dem Reißverschluss seiner Jeans und zog ihn hinunter.

»Jetzt bin ich eingeschüchtert.« Sie bemerkte, wie er sie fragend ansah, und lachte leise. »Deine Bauchmuskeln. Du siehst aus, als würdest du schon dein ganzes Leben trainieren.«

»Man nennt das die Baumstamm-Hochhebe-Übung.« Er umfasste ihren Hinterkopf und zog sie für einen Kuss an sich. »Du brauchst nicht eingeschüchtert zu sein. Ich bewundere deinen sexy Körper schon, seit du aus dem Flugzeug gestiegen bist und so aussahst, als könntest du jeden umbringen.«

»Mein einziges Training ist der Alltag einer überarbeiteten Ärztin.« Sie neckte seine Lippen mit ihrem Mund, fühlte seine Zungenspitze an ihrer, und dann küsste er sie mit einer Wildheit, dass sie das Gefühl hatte, zu fallen und zu fallen und …

Sie spürte, wie er ihren Hintern umfasste und dann die Finger an ihren Oberschenkeln entlanggleiten ließ. Und die ganze Zeit küsste er sie, und sie erwiderte seine Küsse, bis ihr ganzer Körper in Flammen zu stehen schien und ein köstliches Begehren sie erfasste. Mit den Lippen liebkoste sie seinen Hals und seine Brust, während sie die Hand zu seinem Schoß wandern ließ, ihn umschloss und zu verwöhnen begann. Sein Atem kam stoßweise, und dann packte er sie an den Hüften und rollte sie herum, sodass sie unter ihm lag und er auf ihr. Auf dem Sofa war das kein einfaches Manöver, und sie klammerte sich an seine Schultern und brachte einen Laut zwischen Stöhnen und Lachen hervor.

»Elegant, oder?« Er lachte zwischen zwei Küssen. »Ich bin vielleicht ein bisschen ungeduldig.«

»Ungeduldig ist okay für mich …« Sie wand sich unter ihm und umklammerte eins seiner Beine mit ihren. »Was auch immer du tust, hör nicht auf.« Es war offensichtlich, dass er keinesfalls vorhatte aufzuhören. Er bewegte sich nur, um ihren bebenden Körper besser liebkosen zu können. Er küsste sie, als ob er bereits alles wüsste, was es über sie zu wissen gab, als ob er bereits all ihre Geheimnisse kannte. Bebendes Begehren wurde zu köstlicher Lust, als er begann, sich ihrem sensibelsten Punkt zu widmen. Seufzend registrierte sie, dass er an ihr hinunterglitt, und sie schloss die Augen und verlor sich in dem unerschöpflichen Geschick seines Mundes und seiner Zunge.

Die Zeit schien stillzustehen, es gab nur noch diesen Moment. Diesen Mann. Und dann zog er sich plötzlich zurück und griff nach seiner Jeans, die auf dem Boden lag.

Die Unterbrechung frustrierte sie, und sie krallte die Finger in seine muskulösen Schultern. Er murmelte ihren Namen, flüsterte ihr zu, was er gleich tun würde, und dann spürte sie auch schon, wie er in sie eindrang. Vorsichtig schob er die Hand unter ihren Hintern und hob sie leicht an, während er mit jedem Stoß tiefer vordrang. Sie war so überwältigt und erregt, dass sie kaum atmen konnte. Sie versuchte, ihm zu sagen, was sie fühlte, doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen, und dann hörte sie auf zu denken und versank in einer Welt pulsierender Hitze und Lust.

Immer weiter steigerte er seinen Rhythmus, stieß immer schneller und heftiger zu, bis sie gemeinsam auf den Gipfel der Lust katapultiert wurden.

Als die letzten Nachbeben verklungen waren und ihre Atmung sich wieder normalisiert hatte, öffnete Katie die Augen und sah Jordan ungläubig an.

»Das war …«

»Ja, das war es.«

Es entstand eine Pause, während der er ein paarmal tief durchatmete. Dann hob er den Kopf. »Vielleicht kennst du deine eigene Telefonnummer nicht, Karen, aber du weißt auf jeden Fall, wie du die Welt eines Mannes auf den Kopf stellst. Wenn du mich fragst, gebe ich dir eine Eins.«

Lächelnd fragte sie sich, wie sie sich so wohl mit ihm fühlen konnte. Es ergab keinen Sinn, doch im Moment war sie nicht in der Stimmung, das zu analysieren. »Nur eine Eins?«

»Das ist die Bestnote, Liebes.«

»Wie wäre es mit einer Eins mit Sternchen? Oder einer Eins plus?« Sie streichelte seinen Bauch, bevor sie die Hand tiefer gleiten ließ, und hörte ihn stöhnen.

»Ernsthaft?« Er sah ihr in die Augen. »Du bist ja unersättlich. Allmählich begreife ich, warum die Männer dich nach der ersten Nacht nicht anrufen. Du glaubst, es sei die falsche Nummer, die sie abhält, doch vermutlich liegen sie völlig ausgelaugt irgendwo in der Gosse und versuchen sich so weit zu erholen, dass sie sich wieder bewegen können.«

»Was soll ich sagen? Ich war schon immer eine Streberin. Soll ich es beweisen?«

Er zog sie näher an sich. »Falls damit dein Selbstvertrauen gestärkt wird, bin ich dabei, Karen.«