KATIE

Frustriert marschierte Katie den verschneiten Weg entlang, der zu dem Baumhaus ihrer Eltern führte. Wenn sie High Heels anhätte und auf einem Marmorboden liefe, würden ihre Schritte laut widerhallen. Köpfe würden sich ihr zuwenden, und die Menschen würden Mutmaßungen anstellen. Doch so dämpfte der Schnee die Gefühle, die sich in jedem Schritt ausdrückten. Die wenigen Vögel, die vergeblich nach Futter suchten, schenkten ihr wenig Aufmerksamkeit.

»Katie!«, ertönte hinter ihr Rosies Stimme. »Geh langsamer. Oder noch besser: Halt an!«

Die Sonne schien, und nur die frische Schneeschicht, die die Bäume bedeckte und in blendender Schönheit die Sonne reflektierte, erinnerte noch an den Blizzard.

Doch ausnahmsweise hatte Katie keinen Blick für die Schönheit der Natur. Wie konnten ihre Eltern Rosie nicht die Wahrheit gesagt haben? Warum musste sie die schlechte Botschaft überbringen und ihrer Schwester Kummer bereiten? Sie hatten den ganzen Tag gehabt, um es ihr zu sagen, und offensichtlich trotzdem ihre Zweite-Flitterwochen-Show aufgeführt und waren sogar abends wieder zusammen essen gegangen. Sie schienen entschlossen, ihre Täuschung aufrechtzuerhalten. Nicht nur das, sie erwarteten offenbar, dass Katie mitmachte und ihre Rolle spielte. Doch das würde nicht geschehen. Auf keinen Fall. Es war falsch. Warum konnten sie nicht offen und ehrlich sein?

Sie ignorierte die winzige Stimme in ihrem Kopf, die sie daran erinnerte, dass sie ebenfalls nicht offen und ehrlich mit ihrer Familie gewesen war. Das war etwas anderes. Etwas völlig anderes.

Schnell verdrängte sie den Gedanken und stapfte die Treppe zum Baumhaus hinauf, wobei sie sich an dem hölzernen Geländer festhielt, um nicht auszurutschen. Das Geländer ließ sie an Jordan denken – und an ihre gemeinsame Nacht.

Er war still gewesen während der Fahrt zur Lodge. Und sie ebenso. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was sie nach einer solchen Nacht sagen sollte. Sie waren vertraute Fremde.

Sie ignorierte den inneren Aufruhr und öffnete die Tür zum Baumhaus ihrer Eltern.

Es war zehn Uhr morgens, doch es gab keinerlei Lebenszeichen.

Waren sie bereits irgendwohin gegangen? Zu einer weiteren Paar-Aktivität?

Sie trat ein und zog ihre Stiefel aus. Einige Augenblicke später erschien Rosie, außer Atem und mit rosigen Wangen. Dan und Jordan waren direkt hinter ihr.

Katie hatte nicht erwartet, dass die beiden mitkamen, aber vielleicht war es besser, wenn alle zur selben Zeit die Wahrheit erfuhren. Das ersparte wiederholte Erklärungen.

Das Wohnzimmer wirkte verlassen. Ein Sofakissen lag vergessen auf dem Boden. Auf dem Sofa war kein Laken. Kein Anzeichen, dass ihr Vater hier geschlafen hatte.

Die Lichter am Weihnachtsbaum glitzerten, und sie fragte sich, wie sie trotz allem so feierlich und fröhlich aussehen konnten. Hätten die düstere Stimmung und die Traurigkeit diese Lichter nicht dämpfen müssen?

Auf dem Tisch standen eine leere Flasche Wein und zwei Gläser.

Sie drehte sich um, und plötzlich erregte etwas auf dem Boden ihre Aufmerksamkeit. Ein Stück Stoff. Ein BH. Ein Hauch von Spitze und Seide, der so aussah, als wäre er in der Hitze des Moments ausgezogen und achtlos zur Seite geworfen worden. Katie starrte darauf, und dann folgte ihr Blick der Spur von Kleidung, die sich die Treppe hinauf zur Galerie und bis zum Schlafzimmer zog. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, so als wäre die Person, die als Letzte hindurchgegangen war, zu abgelenkt gewesen, um sie zu schließen.

Und dann hörte sie Geräusche. Ein leises Stöhnen.

Ihr Hirn gefror zu Eis, und all die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, waren wie weggeblasen.

Rosie legte ihr die Hand auf den Arm und flüsterte: »Lass uns abhauen.«

Doch Katie schüttelte sie ab. Hatten ihre Eltern sie kommen hören? War dies eine weitere Wir-sind-zusammen-Show?

»Wir sprechen jetzt mit ihnen.«

»Was? Nein!« Rosies Gesicht war tiefrot. »Ich will meine Eltern auf keinen Fall beim Sex erwischen!«

»Sie haben keinen Sex. Sie tun nur so, als hätten sie Sex.« Katie lief die Treppe hinauf, stieß die Schlafzimmertür auf und hörte den erschrockenen Aufschrei ihrer Mutter.

»Nick! Oh Gott …« Sie griff nach der Bettdecke und zog sie hoch.

Zum vermutlich ersten Mal in ihrem Leben hörte Katie ihren Vater fluchen.

»Es tut uns so leid«, platzte Rosie, die Katie gefolgt war, heraus und zerrte ihre Schwester am Ärmel. »Wir kommen später wieder.«

»Nein.« Noch nie in ihrem Leben war Katie verwirrter gewesen. »Ich verstehe das nicht. Ihr wollt euch doch scheiden lassen.«

»Katie …« Während sie mit der einen Hand weiter die Bettdecke umklammerte, streckte ihre Mutter die andere Hand nach ihr aus. »Ich weiß, wie aufgewühlt du gestern warst. Wir haben versucht, dich anzurufen.«

»Ich hatte keinen Empfang.« Und sie war mit Jordan zusammen gewesen und …

Daran würde sie im Moment nicht denken.

Ihr Vater setzte sich auf und hielt mit der Bettdecke seine Brust bedeckt. »Wir haben uns Sorgen gemacht.«

»Es tut uns so leid.« Erneut zupfte Rosie Katie am Ärmel. »Bitte …«

Katie wich keinen Zentimeter zurück. Die Situation frustrierte sie so sehr, dass sie das Gefühl hatte zu explodieren. »Ihr dürft das nicht tun! Ihr müsst ehrlich sein. Wir sind alle erwachsen!«

»Katie …« Nervös fuhr ihre Mutter sich durch das zerzauste Haar. »Dein Vater und ich müssen mit dir reden. Vielleicht tun wir das am besten allein.«

»Natürlich.« Erleichtert wandte Rosie sich ab, doch Katie hielt sie zurück.

»Nein.« Sie sah ihre Eltern an. »Ihr müsst ehrlich sein. Rosie nimmt euch beide als Garant, dass auch ihre Beziehung funktionieren wird.«

Erschrocken schrie Rosie auf, aber Katie sprach einfach weiter: »Sie hat Zweifel, denen sie begegnet, indem sie sich sagt, dass ihr beide ja ebenfalls eine stürmische Romanze hattet und nach fünfunddreißig Jahren immer noch glücklich zusammen seid und dass ihre Beziehung deshalb ebenfalls funktionieren wird. Also müsst ihr ihr die Wahrheit sagen. Ihr müsst ihr sagen, dass ihr euch scheiden lasst, damit sie entscheiden kann, was das für ihre Gefühle und ihre Beziehung bedeutet.«

Eine angespannte, qualvolle Pause entstand. Sie bemerkte, dass ihre Eltern nicht sie, sondern Rosie ansahen.

Genau wie Dan, der mit Jordan ebenfalls die Treppe heraufgekommen und auf die Galerie getreten war.

Er starrte Rosie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. »Du hast Zweifel?«

»Nein!« Rosie klang entsetzt. »Ich meine, vielleicht ein paar, aber das ist normal und … es war nichts.«

»Ach Liebes.« Ihre Mutter sah betroffen aus. »Warum hast du denn nichts gesagt?«

»Gute Frage.« Dans Stimme klang erstickt. »Warum hast du nichts gesagt?«

Rosie wirbelte zu ihrer Schwester herum. »Was hast du getan?«

Ja, was hatte sie getan?

Katie begann zu zittern. »Ich wollte … ich dachte, du solltest die Wahrheit über unsere Eltern erfahren, das ist alles.«

Ihre Mutter zog sich die Bettdecke eng an die Brust. »Wir lassen uns nicht scheiden, Katie.«

»Aber …«

»Katie …« Dieses Mal ergriff ihr Vater das Wort. »Deine Mutter sagt die Wahrheit. Wir lassen uns nicht scheiden.«

»Aber gestern … ich hab doch gehört …«

»Deine Mutter und ich hatten einige Probleme, das ist wahr, aber nachdem du gestern rausgestürmt bist, haben wir den Rest des Tages geredet und einige Dinge geklärt, die wir vermutlich schon vor langer Zeit hätten klären sollen.«

Verwirrt schüttelte Katie den Kopf. »Ihr lebt seit letztem Sommer getrennt.«

»Und das hat uns den Raum gegeben, den wir brauchten, um unsere Beziehung mit neuen Augen zu sehen.«

»Seit letztem Sommer?«, rief Rosie fassungslos. »Und ihr habt uns nie irgendwas gesagt?«

Katie hatte ebenfalls keine Ahnung, was sie sagen sollte. Aus diesem Grund war sie nicht gut in Beziehungen. Es war alles zu verwirrend. »Seit ihr hier angekommen seid, habt ihr Theater gespielt. Diese ganze Zweite-Flitterwochen-Nummer war bloß Show.«

Ihre Eltern sahen sich an.

»Das stimmt«, gab Maggie zu. »Aber irgendwann mitten in dieser ganzen Show haben wir wieder zueinandergefunden. Wir haben all die Dinge neu entdeckt, die wir aneinander lieben. Wir hatten Spaß. Wir haben es genossen, Zeit miteinander zu verbringen. Wir werden uns nicht scheiden lassen. Heute Vormittag wollten wir mit euch beiden darüber sprechen.«

»Stattdessen sind wir bei euch reingeplatzt, weil Katie sicher war, dass sie den nötigen Beweis hat, um meine Hochzeit zu verhindern.« Rosies Wangen waren noch immer tiefrot, als sie sich an ihre Schwester wandte. »Von dem Moment, als du hier angekommen bist, hast du versucht, genau das zu tun.«

»Nein. Ich meine, ja, vielleicht, ein bisschen …« Katie ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Ich wollte sichergehen, dass du weißt, was du tust, das ist alles.«

»Alles?« Tränen strömten Rosie über die Wangen. »Du hast Dan verhört, und du hast mich verhört, und nicht nur das, du hast uns mit Absicht voneinander getrennt. Es war schwer für uns, gemeinsam Zeit zu verbringen. Deshalb hat dich Jordan vermutlich auch letzte Nacht in der Hütte behalten.«

Jordan runzelte die Stirn. »Rosie …«

»Wir hatten einen Blizzard«, sagte Katie. »Wir waren eingeschneit.«

»Ja, wir hatten einen Blizzard, aber Jordan hat dort oben die entsprechende Ausrüstung. Er arbeitet im Wald. Das ist sein Job. Sein Leben. Glaubst du wirklich, er hätte dich nicht runterbringen können, wenn er es gewollt hätte?«

Stimmte das? Nein, das konnte nicht sein. Das hätte er nicht getan. Ihre gemeinsame Nacht war das einzig Echte, das ihr in letzter Zeit passiert war. Sie blickte Jordan an, in der Erwartung, dass er widersprechen würde, und erkannte sofort, dass es nichts zu widersprechen gab. »Stimmt das? Du hättest uns runterfahren können?«

Er zögerte. »Technisch gesehen, ja, aber das war nicht der Grund, warum …«

»Es spielt keine Rolle.« Dies musste einer der demütigendsten Momente ihres Lebens sein. Zum Glück hatte sie viel Erfahrung, unangenehme Gefühle zurückzudrängen. Sie wandte sich wieder an Rosie. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du hast die Ehe unserer Eltern als Vorbild, als Bestätigung gesehen. Du musstest von der Scheidung erfahren.«

»Sie haben eine schwere Zeit gehabt«, hielt Rosie dagegen. »So was kommt vor. Sie haben sich durchgekämpft. Wenn überhaupt, fühle ich mich mehr bestätigt denn je.« Sie drehte sich zu Dan um. »Es tut mir leid wegen meiner Schwester, aber du musst mir glauben, dass ich dich liebe. Das tue ich wirklich.«

»Ich bin nicht wegen deiner Schwester beunruhigt. Ich bin beunruhigt, dass du Zweifel hattest und nicht mit mir darüber gesprochen hast. Warum nicht?«

»Ein paarmal habe ich versucht, es anzusprechen, fand aber nicht die richtigen Worte. Und ganz ehrlich, ich war nicht einmal sicher, dass es wirklich Zweifel waren. Ich bin ein unsicherer Mensch, und das weißt du. Ich ändere ständig meine Meinung. Was ich frühstücken will, was ich anziehen möchte …«

»Und wen du heiraten willst.« Dans Gesicht war weiß, und als Rosie einen Schritt auf ihn zutrat, wich er zurück.

Zum ersten Mal schaltete sich Jordan ein. »Ich glaube, Maggie und Nick sollten sich am besten erst mal anziehen. Wir können uns dann später zum Mittagessen in der Snowfall Lodge treffen. Dan und Rosie, geht und sprecht allein miteinander. Dabei braucht ihr kein Publikum.«

Rosies Augen glänzten. »Dan, bitte …«

»Hallo? Ist irgendjemand da?« Aus dem Wohnzimmer drang Catherines Stimme zu ihnen herauf. »Die Sonne scheint, die Berge sehen aus wie auf der Weihnachtspostkarte, ich habe frisch gebackene Croissants und einen Plan für einen herrlich romantischen Tag für euch beide. Oh …« Sie verstummte, als sie die Menge oben auf der Galerie erblickte, die sich vor dem Schlafzimmer versammelt hatte. »Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass ihr Gesellschaft habt.«

»Komm ruhig hoch«, rief Nick ihr trocken zu. »Heute ist Tag der offenen Tür.«

Catherine sah verwirrt aus. »Was ist los?« Sie lief die Treppe hinauf, sah die Tränen auf Rosies Gesicht und ging sofort zu ihr. »Ach Liebes, was ist los?«

Sie ist so liebenswürdig, dachte Katie, die sich völlig taub und leer fühlte. Und sie schien aufrichtig besorgt um Rosie.

»Hat es etwas mit der Hochzeit zu tun? Dann musst du es mir nur sagen, und wir bringen es sofort in Ordnung.«

»Da ist nichts in Ordnung zu bringen.« Dan schob sich an seiner Mutter vorbei und lief die Treppe hinunter. »Es wird keine Hochzeit geben.«