KATIE

Katie zog ihre Outdoor-Kleidung an und hielt an der Tür inne.

Sie hörte das Wasser laufen und wusste, dass ihre Schwester unter der Dusche weinte.

Die Hände zu Fäusten geballt, widerstand sie dem Impuls, ins Badezimmer zu laufen und sie zu umarmen.

Was brachte schon Trost?

Rosie brauchte keinen Trost. Sie brauchte den Mann, den sie liebte. Und angesichts der Tatsache, dass sie, Katie, für das Geschehene verantwortlich war, sollte sie die Sache auch in Ordnung bringen. Und das hatte nichts damit zu tun, dass sie sich einmischte. Wie konnte man das Einrenken eines Fehlers als Einmischung bezeichnen?

Das war die natürliche Ordnung der Dinge.

Sie hatte es vermasselt. Und es nützte nichts, sich die Was-wäre-wenn-Frage zu stellen und sich zu überlegen, ob sie vielleicht anders reagiert hätte, wenn Rosie nicht mitten in einer schwierigen Schicht angerufen hätte, wenn sie nicht gerade Sally im Kopf gehabt hätte, wenn sie nicht gerade mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen wäre oder wenn die Worte »perfekt« und »stürmisch« nicht ihre Beschützerinstinkte wachgerufen hätten. Das alles war Vergangenheit. Sie konnte nur mit dem Hier und Jetzt arbeiten.

Sie schloss die Tür hinter sich und ging Richtung Snowfall Lodge. Es war eisig. Sicherlich würde Dan nicht mehr mit dem Schneemobil unterwegs sein, oder? Falls doch, war sie geliefert.

Der Weg zur Lodge gab ihr Gelegenheit zum Nachdenken, und als sie in das elegante Foyer trat, wusste sie genau, was sie sagen wollte.

Sie nutzte den Umstand aus, dass das Empfangspersonal gerade mit Gästen sprach, und schlich sich zum privaten Treppenhaus, in dem sie die Stufen zum Apartment hochlief.

Sie wollte Dan nicht auf ihren Besuch vorbereiten. Als sie an die Tür klopfte und er öffnete, erkannte sie sofort, dass dies die richtige Entscheidung gewesen war.

»Ich weiß, dass du mir die Tür vor der Nase zuschlagen möchtest, und ich kann es dir nicht verdenken«, sagte sie. »Gib mir zehn Minuten. Das ist alles, worum ich dich bitte.«

»Rosie schickt dich.«

»Rosie würde mich umbringen, wenn sie wüsste, dass ich hier bin.«

»Aber das Risiko willst du eingehen.«

»Ja, das will ich, weil das Ganze meine Schuld ist.«

Er öffnete die Tür, und sie trat ein.

An seiner Körpersprache erkannte sie, dass er sich quälte. Sie nahm es als ein gutes Zeichen.

»Also.« Sie ging zum Fenster und sah hinaus auf die mittlerweile vertraute Schönheit der Berge. »Ich bin hergekommen, um die Hochzeit zu verhindern.«

»Na, zumindest bist du ehrlich.«

Sie drehte sich um. »Das schien mir alles zu schnell zu gehen. Ein verrückter Impuls. Es gab da ein paar Dinge in meinem Leben – ich will dich nicht mit Einzelheiten langweilen, doch zusammen mit dem, was ich schon über Rosie wusste, glaubte ich, es besser zu wissen als sie. Ich hatte Angst um sie.« Sie schob die Hände in die Taschen. Sie hatte an diesem Tag schon so viel Abbitte geleistet, dass sie sich bald heilig vorkam. »Ich habe sie immer als verletzlich gesehen. All die Male in ihrer Kindheit, als ich sie hielt, wenn sie keine Luft bekam – das ist ein Bild, das man nur schwer loswird.« Sie sah, dass seine Miene sich veränderte.

Da sie spürte, dass er zuhörte, redete sie weiter. »Ich war entschlossen, mehr über dich herauszufinden, weil ich sicher war, dass Rosie dich nach so kurzer Zeit unmöglich richtig kennen konnte. Also stellte ich Fragen.«

»Ja, das habe ich gemerkt.«

»Ich stellte viele Fragen, und du warst wohlwollend und geduldig und …« Sie atmete tief durch. »Und höflicher, als ich es verdient hatte. Du hast jede meiner Fragen beantwortet. Ich dachte, vielleicht ist es an der Zeit, dir ein bisschen über mich zu erzählen.«

Er runzelte die Stirn. »Katie …«

»Hör mich an. Ich möchte, dass du verstehst, warum ich mich so verhalten habe. Ich möchte, dass du verstehst, dass es nichts Persönliches war. Ich habe schnell ein Urteil parat. Zu schnell. Oft rechne ich mit dem Schlimmsten und rudere dann zurück. Ich habe einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gegenüber den Menschen, die ich liebe. Ich bin eine Perfektionistin, was nicht gut ist, aber ich arbeite daran.« Sie setzte sich aufs Sofa und sah auf ihre Hände. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, doch sie wusste, dass sie weitersprechen musste. »Als Rosie das erste Mal einen Asthma-Anfall hatte, dachte ich, ich würde meine kleine Schwester verlieren. Ich verspürte diese riesengroße Verantwortung.« Sie sah auf. »Als sie fürs College wegzog, wollte sie unsere Mutter nicht beunruhigen und rief deshalb mich an, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Und das war in Ordnung. Ich war froh, dass sie sich an mich gewandt hat …«

»Aber es hat dich in eine Mutterrolle gedrängt und bedeutete, dass du die Last übernommen hast.«

Katie nickte. »Ich bin nicht mal sicher, ob ich Medizin studiert hätte, wenn sie nicht gewesen wäre.«

»Sie sagt, du bist eine großartige Ärztin.«

Katie wollte dem nicht widersprechen. Ihre Probleme waren hier nicht wichtig. Hier ging es um Rosie. »Ich bin dabeigeblieben, weil man das tut, wenn man eine lange und teure Ausbildung hinter sich hat und eine Berufswahl getroffen hat, von der die Gesellschaft annimmt, dass sie für immer sei. Du bist nicht sicher, ob es dir Spaß macht, aber hey, die meisten deiner Kollegen sind auch ausgebrannt und erschöpft, sodass es einfach normal wird. Man findet Rechtfertigungen dafür, wie man sich fühlt. Und warum nicht, denn niemand gibt die Medizin nach einem Jahrzehnt Praxis auf, oder?«

Er setzte sich ihr gegenüber. Seine abwehrende Miene war verschwunden. »Man tut es, wenn man dort nicht länger arbeiten möchte.«

»Du findest es in Ordnung, wenn man seine Meinung ändert? Du siehst das als eine Stärke und nicht als Schwäche?«

»Ja.«

»Gut.« Sie stand auf. »Dann geh, such meine Schwester, und sag ihr, dass du einen Fehler gemacht hast. Sag ihr, dass du sie immer noch liebst, und führt endlich das Gespräch, das ihr vermutlich nur führen müsst, weil ich mich eingemischt habe. Und wenn du nach dem Gespräch immer noch glaubst, dass es nicht das Richtige ist, dann werden wir damit umgehen.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich darf nicht der Grund sein, warum ihr euch trennt.«

»Weil sie dir das nie vergeben würde?«

»Nein. Weil ich jetzt sehe, dass ihr zwei perfekt füreinander seid. Ich glaube, dass ihr einen Weg finden müsst, eure Kommunikation zu verbessern, doch ihr habt hoffentlich viele Jahre Übung vor euch. Ich möchte, dass sie glücklich wird. Ich möchte, dass du glücklich wirst. Auch wenn es nicht so scheint, mag ich dich wirklich, Dan, und ich hoffe, dass du mich mit der Zeit auch mögen wirst. Oder mir zumindest vergibst.«

»Ich mag dich, Katie, und ich respektiere, wie sehr du deine Schwester liebst.«

Doch seine Meinung hatte er nicht geändert.

»Du musst sie verstehen.« Sie wusste, dass sie verzweifelt klang, denn sie war verzweifelt. »Rosie ist so gut. Sie würde niemals jemandem wehtun wollen.«

»Das weiß ich. Ich kenne sie. Was glaubst du, warum ich sie liebe?«

»Ich … Du liebst sie also immer noch.« Sie spürte Hoffnung in sich aufkeimen, die von seinem düsteren Gesichtsausdruck jedoch sofort erstickt wurde.

»Wie sich herausstellt, kann man Heiratspläne verwerfen, nicht aber die Liebe ausknipsen.«

»Aber wenn du sie liebst, warum heiratest du sie dann nicht?«

»Genau aus dem Grund, den du angeführt hast. Rosie hasst es, jemandem wehzutun. Wenn sie also nicht aufrichtig mit mir sprechen kann, wie kann ich dann jemals wissen, ob sie mich wirklich liebt? Wie sollen wir dieses Problem lösen in den Jahren, die vor uns liegen?«

»Bist du sicher, dass sie nichts gesagt hat? Oder ist es möglich, dass du nicht zugehört hast?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Rosie sagt, sie hätte versucht, es dir zu sagen. Hast du mitbekommen, dass sie versucht hat, mit dir zu sprechen?«

»Ich … nein. Aber …«

»Vielleicht musst du das Zuhören trainieren. Vielleicht muss sie lauter reden. Oder dir eine Mail schicken. Ein Whiteboard in der Küche benutzen oder Klebezettel. Ich weiß es nicht …« Frustriert streckte sie die Arme zur Seite. »Ich weiß nichts über ernsthafte Beziehungen, aber ich weiß, dass mir das hier ein lösbares Problem zu sein scheint. Du liebst sie. Sie liebt dich. Ihr zwei müsst eine bessere Art der Kommunikation finden, das ist alles. Ich glaube, ihr wisst nicht, wie viel Glück ihr eigentlich habt. In dieser furchtbaren Welt, in der für die Menschen jeden verdammten Tag etwas schiefläuft, habt ihr Liebe und Freundschaft und Wärme gefunden – all die Dinge, die wirklich zählen, all die Dinge, die euer Leben gut machen und euch in den Zeiten unterstützen, in denen das Leben nicht perfekt ist. Und von alldem willst du dich abwenden? Und übrigens: Wenn deine Antwort Ja lautet, dann weiß ich, was mit dir nicht stimmt. Beweisführung abgeschlossen.«

»Ich dachte, du wärst Ärztin, nicht Anwältin.«

»Es fühlte sich richtig an, das zu sagen.« Sie schniefte und ging zur Tür. »Und jetzt haue ich besser ab. Bevor meine Schwester herausbekommt, dass ich hier war, und unsere Beziehung für immer kaputt ist.«

Sie war fast zur Tür hinaus, als seine Stimme sie aufhielt. »Du wolltest etwas über mich erfahren, also lass mich dir etwas über mich erzählen. Wenn es nicht um Arbeit geht oder um körperliche Fitness, habe ich die Neigung, Dinge aufzuschieben. Ich bin dafür berüchtigt, meine Steuern zu spät zu zahlen. Aber ich vermisse meinen Dad jeden verdammten Tag, und sein Tod hat mich gelehrt, wie wichtig es ist, die Liebe festzuhalten, wenn man sie gefunden hat.«

Sie drehte sich um, und er nickte.

»Das ist der Grund, warum ich Rosie so schnell heiraten wollte. Es war kein Impuls und lag auch nicht daran, dass meine Mutter sich eingemischt und Weihnachten als Hochzeitsdatum vorgeschlagen hat. Es lag daran, dass ich mir sicher war. Ich wusste, sie war die eine für mich.«

»Halt.« Sie blinzelte und schniefte. »Du bringst mich zum Weinen, und ich bin der unsentimentalste Mensch, den du je kennengelernt hast.«

»Ach ja? Ich weiß, dass du gekränkt warst, als du gehört hast, dass Jordan dich unter einem Vorwand bei sich behalten hat.«

Sie musste ihrer Medizinerausbildung danken, dass sie eine neutrale Miene aufsetzen konnte. »Nein. Ich bin nicht gekränkt. Er hat das Richtige getan.« Sie straffte die Schultern. »Ihr zwei brauchtet Zeit miteinander, und ich war euch im Weg. Ich würde sagen, er hat seine Pflichten als Trauzeuge perfekt ausgeübt. Er ist ein guter Freund. Du und Rosie habt Glück, ihn an eurer Seite zu haben.« Und weshalb sollte sie überhaupt gekränkt oder traurig sein? Sie hatten eine Nacht miteinander verbracht, na und? Sie waren zwei Erwachsene, die sich einig gewesen waren. Sie hatten beide eine Entscheidung getroffen. Ja, sie fühlte sich völlig verwirrt und emotional deswegen, aber das war nicht Jordans Schuld. Das lag daran, dass sie insgesamt verwirrt und emotional war. Schließlich hatte sie eine Krankschreibung, die das belegte.

»Im Moment bin ich nicht sicher, ob ich überhaupt einen Trauzeugen brauche.«

Sie dachte einen Moment nach. »Sag mir eins, Dan. Wenn du weißt, wie wichtig es ist, an der Liebe festzuhalten, warum lässt du Rosie dann gehen? Glaubst du, deine Eltern mussten keine schwierigen Zeiten gemeinsam durchstehen? Sieh dir meine Eltern an, was du vermutlich nicht willst, weil sie ständig etwas entsetzlich Peinliches zu tun scheinen. Was ich damit sagen will: Die Liebe fortzuwerfen, einfach weil ihr beide lernen müsstet, euch aneinander anzupassen, ist eine furchtbare Verschwendung.«

Er antwortete nicht, weshalb sie es noch einmal versuchte.

»Du sagtest, ihr hättet jede Menge Zeit, euch kennenzulernen, aber einander kennenzulernen bedeutet nicht, zu entdecken, dass der andere ein Kaninchen hatte oder in einer Physikprüfung durchgefallen ist. Es bedeutet, allmählich zu verstehen, wie die andere Person tickt. Ich sehe das im Krankenhaus. Menschen, die aggressiv werden, wenn sie Angst haben. Menschen, die vor Trauer wie erstarrt sind, sodass sie nichts sagen, geschweige denn weinen können. Das liegt nicht daran, dass es ihnen nicht nahegeht, sondern das ist ihre Art, damit umzugehen, dass es ihnen fast schon zu sehr an die Substanz geht. Solche Dinge muss man über jemanden wissen. Du hast etwas sehr Wichtiges über Rosie erfahren – sie wird dir vermutlich nie ins Gesicht schreien, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Du wirst eine Atmosphäre schaffen müssen, in der sie dir sagen kann, was in ihr vorgeht.« Und diesen Teil hatte sie ebenfalls verbockt. Katie wusste, dass sie Rosie nicht den Raum zum Reden gelassen hatte. »Das ist kein Grund, Schluss zu machen. Das ist etwas, das man zu den Akten legen und einsetzen kann, wenn ihr ein tieferes Verständnis füreinander braucht. Das bedeutet es, jemanden wirklich zu kennen. Und ich glaube, man nennt das Intimität, obwohl ich davon so gut wie nichts verstehe.« Sie drehte sich um und verließ ohne einen Blick zurück das Apartment.

Hatten ihre Worte etwas gebracht?

Sie hatte keine Ahnung.

Als sie wieder beim Baumhaus ankam, wartete dort ihr Vater auf sie.

»Hallo, Katkin.«

Dass er den Kosenamen aus ihrer Kindheit benutzte, brachte sie fast zum Weinen. »Dad. Wo ist Rosie?«

»Sie redet mit deiner Mutter.«

»Und du hast den Kürzeren gezogen und mich abbekommen.«

»So sehe ich das nicht.« Er wirkte verlegen und ratlos, was sie nicht überraschte. Sie konnte sich an kein persönliches Gespräch mit ihrem Vater erinnern. Zwischen ihnen ging es immer um gemeinsame Aktivitäten und Abenteuer. Niemals um Gefühle.

»Es tut mir leid wegen heute Morgen.«

»Wir müssen uns entschuldigen. Dass wir euch nicht die Wahrheit gesagt haben.« Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Aber wenn ich ehrlich sein soll, tut es mir nicht leid. Deine Mutter und ich … na ja, wir hatten uns auseinandergelebt und haben keine gemeinsame Zukunft mehr für uns gesehen. Deshalb haben wir vorgetäuscht, uns noch zu lieben. Wir haben Zeit miteinander verbracht und hatten zum ersten Mal seit langer Zeit Spaß zusammen.«

»Das klingt wie der Plot eines Liebesromans.«

Er lächelte müde. »Vielleicht habe ich mich da geirrt. Ich habe nie einen Liebesroman gelesen. Vielleicht hätte ich ein, zwei Dinge gelernt, wenn ich es getan hätte. Vielleicht wäre meine Ehe dann nicht kurz davor gewesen zu scheitern.«

Sie spürte ein Ziehen in der Brust. »Ich bin wirklich froh, dass es für euch beide gut ausgegangen ist.«

»Deshalb bin ich nicht hier. Ich wollte nicht über uns reden, obwohl ich dir sagen wollte, dass unsere Ehe noch ziemlich lebendig ist. Ich wollte über dich reden.«

»Du musst nichts sagen. Ich weiß, dass ich mich schlecht benommen habe.«

»Du warst aufgebracht und hast dir Sorgen um deine Schwester gemacht.« Nachdenklich strich er sich über das Kinn. »Du hast deine Mutter in letzter Zeit nicht oft gesehen.«

»Ich weiß, und es tut mir leid. Bei der Arbeit war viel los. Ich versuche, mich zu bessern.«

»Deine Familie zu besuchen ist kein Test, in dem du die Bestnote haben musst, Katkin. Wir lieben dich. Wenn du viel zu tun hast, ist das kein Problem. Du redest mit dem Kerl, der deine halbe Kindheit fort war, um Altertümer auszugraben. Ich habe Verständnis für Stress – und deine Mutter ebenso. Aber falls irgendwas anderes …« Er trat auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. »… falls etwas anderes dich auf Distanz hält, etwas, das dich belastet. Ich hoffe, du würdest es uns sagen. Wir sind stolz auf dich. Ich hoffe, das weißt du.«

Sie wusste, wie stolz sie waren. Das war ein Teil des Problems. Sie löste sich von ihm. »Es geht mir gut, Dad.«

»Ich habe nie behauptet, ein Experte für Körpersprache zu sein, doch ich arbeite daran. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Aber ich habe keine Ahnung, warum das, was ich gesagt habe, dich verärgert.«

»Ehrlich, Dad … ich kann nicht … müssen wir darüber reden?«

»Ich sage nicht die richtigen Dinge, oder?« Er ließ die Schultern hängen. »Deine Mutter wird mich umbringen. Ihr Mädchen redet immer mit eurer Mutter, wenn etwas schiefgeht, und das kann ich euch nicht verdenken. Das bedeutet, dass ich nicht viel Übung darin habe. Soll ich gehen, Katie? Ich möchte die Dinge nicht schlimmer machen.« Er war so ein gütiger Mann. So ein kluger Mann. Ihr Dad.

Vielleicht hatte Jordan recht. Vielleicht war es an der Zeit, Beistand bei den Menschen zu suchen, statt sie zu beschützen.

»Du sagtest, ihr seid stolz auf mich«, meinte sie. »Darauf, dass ich Ärztin bin.«

»Ja, wir sind stolz auf dich.«

»Aber ich bin nicht sicher, ob ich noch weiter als Ärztin arbeiten will.« Da. Sie hatte es ausgesprochen. »Und es tut mir leid, wenn ich euch beide damit enttäusche. Wenn ich euch …«

»Stopp. Warum hast du das Gefühl, uns zu enttäuschen? Hier geht es um dich, nicht um uns. Es ist dein Leben. Deine Entscheidung.«

»Ich wollte immer Ärztin werden. Mein ganzes Leben habe ich dafür gearbeitet, dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin.«

»Na und? Meinst du, das bedeutet, dass du mit etwas weitermachen musst, das dir nicht länger gefällt?«

Sie schluckte. »Du glaubst nicht, dass ich verrückt bin?«

»Verrückt, deinen Beruf zu wechseln, wenn dir das, was du tust, nicht mehr gefällt? Natürlich nicht. Verrückt wäre es, den Rest deines Lebens etwas zu tun, einfach nur, weil du es immer getan hast.«

»Es fühlt sich so an, als hätte ich all die Zeit vergeudet.«

»Nichts, was du im Leben tust, ist je vergeudet. Nichts.« Er deutete zum Sofa. »Lass uns eine Minute hinsetzen.«

»Du sagtest, ihr seid stolz auf mich.«

»Ja, das sind wir. Aber nicht, weil du Ärztin bist, sondern weil du du bist. Eine kluge, entschlossene, hingebungsvolle junge Frau. Es spielt keine Rolle, was du tust, du wirst immer dein Bestes geben, weil du einfach so bist.«

Sie entschied, ihm nichts von dem Angriff zu erzählen. Nicht weil sie ihre Eltern schützen wollte, sondern weil sie es hinter sich lassen wollte. Es war an der Zeit, nach vorn zu sehen, nicht zurück. Dennoch war es schön, zu wissen, dass sie mit ihm sprechen konnte, wenn sie das Bedürfnis haben sollte. »Ich weiß nicht mal, was ich stattdessen tun möchte.«

»Weil du dir selbst noch keine Zeit gegeben hast, darüber nachzudenken. Kündige. Nimm eine Auszeit. Denk darüber nach. Gib dir Raum. Wenn du dich entscheidest, in den medizinischen Bereich zurückzukehren, gut. Wenn nicht, ist das auch gut.«

Hatte Jordan nicht dasselbe gesagt? »Ich könnte das tun, denke ich. Ich habe Ersparnisse.«

»Und wir haben auch Ersparnisse.«

»Danke, aber ich würde euer Geld niemals annehmen. Ich bin eine erwachsene Frau, und wenn ich mich entscheide, zu kündigen, dann muss ich das selbst lösen.«

»Nur du kannst es lösen, aber wir alle können dir bei den praktischen Dingen helfen. Falls du für eine Zeit nach Hause kommen willst, kannst du das auch tun.«

»Und bei euch sein, während ihr rumturtelt?« Sie lächelte und stieß ihn in die Seite. »Nein danke. Und diese Reaktion habe ich nicht erwartet. Ich dachte, du wärst enttäuscht und würdest den Gedanken missbilligen. Ich dachte, du würdest mir einen Vortrag darüber halten, dass ich mein Leben und meine Ausbildung fortwerfe. Aber du klingst fast so, als möchtest du, dass ich kündige.«

»Ich«, sagte er, »möchte vor allem, dass du glücklich bist. Ich habe diese Woche viel gelernt, und dazu gehört, dass deine Mutter ihren Job, den sie seit so vielen Jahren hat, nicht mag.«

»Rosie hat mir davon erzählt.«

Er sah sie an. »Sie denkt über Alternativen nach.«

»Ach ja? Was zum Beispiel?«

»Sie ist sich noch nicht sicher, aber möglicherweise etwas mit Landschaftsgärtnerei, Gartendesign.«

»Das ergibt Sinn. Gut für sie.«

»Der Punkt ist folgender: Du hast keine Kinder und musst nur für dich sorgen. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als diesen, etwas zu verändern. Versuch etwas anderes. Und wenn du nach einem oder zwei Jahren wieder zur Medizin zurückkehren willst, kannst du das tun.«

»Bei dir klingt das so einfach.« Aber hatte Jordan das nicht auch gesagt?

»Ich glaube, das Komplizierte ist eine Frage der Perspektive. Du hast hart für etwas gearbeitet. Jetzt trägst du dich mit dem Gedanken, es hinter dir zu lassen. Aber stell dir dich selbst in zwanzig Jahren vor, immer noch als Ärztin. Wie würde das aussehen?«

»Nicht gut.«

»Da hast du’s. Du bist jung, Katie. Geh das Risiko ein. Und such dir ein Hobby. Fang mit Yoga an. Gründe einen Chor. Du hast früher wunderbar Klavier gespielt. Was ist daraus geworden? Reise. Mach etwas Wildes. Kauf ein Pferd. Verlieb dich.«

Liebe.

Sie dachte an die kostbaren Stunden mit Jordan und wusste, dass sie sie nie vergessen würde.

»Ich glaube, Vicky würde Einspruch erheben, wenn ich ein Pferd in unseren Garten stelle.« Sie wollte nicht über Liebe reden. Aber die andere Sache? Es war eindeutig an der Zeit, dass sie darüber nachdachte. Wenn diese Woche sie eines gelehrt hatte, dann, dass sie keine Balance in ihrem Leben hatte. Es gab keine Berge oder Wälder. Nicht genug blauen Himmel und frische Luft. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Danke fürs Zuhören. Das ist das erste Mal, dass wir so miteinander gesprochen haben.«

»Stimmt.« Verlegen tätschelte er ihren Oberschenkel. »Ich glaube, es lief okay. Wir haben das ziemlich gut gemacht.«

Sie lächelte und umarmte ihn. »Du warst toll. Danke, dass du mich nicht verurteilst und mich unterstützt. Danke, Daddy.«

»Du hast mich nicht mehr Daddy genannt, seit du sechs Jahre alt warst.«

»Im Moment fühle ich mich, als wäre ich sechs Jahre alt.«

Er schwieg einen Moment. »Ich überschreite hier vielleicht eine Grenze, und falls ja, sag es mir, aber ist zwischen Jordan und dir etwas gelaufen? Deine Schwester sagte etwas …«

»Schon okay.«

»Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist es alles andere als okay, Katkin. Hat er dir wehgetan?« Er rutschte zur Seite, um sie ansehen zu können. »Denn wenn er das getan hat, habe ich ein Wörtchen mit ihm zu reden.«

»Oh mein Gott, Dad, nein! Ich kann mir nichts Peinlicheres vorstellen. Außer vielleicht, dich und Mum beim Sex zu erwischen. Das war ziemlich peinlich.«

»Sex ist eine normale, gesunde …«

»Stopp! Ich bitte dich, hör auf.«

»Okay, aber ich bin für dich da. Ich kann mit ihm reden. Oder ihn niederschlagen. Niemand verletzt meine Mädchen.«

Die Vorstellung, wie ihr Vater Jordan niederschlug, hätte sie zum Lachen bringen sollen, doch stattdessen hätte sie am liebsten geweint.

»Ich kann selbst auf mich aufpassen.«

»Vielleicht bist du nicht so tough, wie du glaubst.«

Langsam gewöhnte sie sich an den Gedanken, dass sie ganz und gar nicht tough war. Jeden Moment würde sie anfangen zu weinen. »Es geht mir gut.«

»Ich weiß, aber manchmal ist es schön, sich nicht allein durchs Leben kämpfen zu müssen.«

Seine Worte trafen sie bis ins Mark. In diesem Moment fühlte sie sich einsamer als je zuvor.

Beinahe hätte sie ihm von Jordan erzählt. Beinahe. Ihr wäre das Gespräch unangenehm gewesen – und ihm mit Sicherheit ebenfalls. »Ich glaube, ich lege mich ein bisschen hin.«

»Guter Plan. Du hast dir wahrscheinlich die ganze Nacht Sorgen um deine Schwester gemacht, während du in dieser Hütte eingeschlossen warst.«

Sie erzählte ihm nicht, dass ihre Erschöpfung einen anderen Grund hatte. Diese neue Offenheit war gut und schön, aber es gab Grenzen. »Danke noch mal fürs Zuhören. Und dafür, dass du all die richtigen Dinge gesagt hast.«

»Elternkompetenz.« Er küsste sie aufs Haar und stand auf. »Ist kein Kunststück. Jetzt geh, und leg dich hin, schließ die Augen, und träum von einer Zukunft, die dich glücklich macht. Und wenn dich deine Mutter zufällig fragen sollte, wie es gelaufen ist, sag ihr, dass ich eine Eins verdient habe.«

Lachend knuffte sie ihm in die Seite und sah ihm nach, als er ging.

Warum hatte sie sich vor dem Gespräch gefürchtet? Sie hätte es viel eher führen sollen.

Zwar wusste sie noch immer nicht, was sie tun würde, doch sie hatte sich die Erlaubnis gegeben, zumindest darüber nachzudenken.

Und sie war froh, dass ihre Eltern noch zusammen waren. Dass sie glücklich waren.

Plötzlich tauchte ein Bild von Jordan vor ihrem geistigen Auge auf. Sie hatte sich noch nie mit jemandem so wohlgefühlt. Hatte nie so offen mit jemandem gesprochen. Die Offenheit hatte eine Form von Intimität geschaffen, die sie nie gekannt hatte.

Fühlten sich ihre Eltern so, wenn sie zusammen waren? Und Rosie und Dan?

Tief in sich spürte sie einen Schmerz. Einen Moment lang stellte sie sich ein anderes Leben vor. Ein Leben, das ausgewogen und vielseitig war. Statt halbtot vor Erschöpfung und völlig leer nach Hause zu kommen, heimzukommen zu jemandem, der sie liebte.

Und was? Sah sie sich etwa zu Jordan nach Hause kommen?

Die ganze Sache zwischen ihnen war nicht real gewesen.

Es war eine Nacht, nicht ein ganzes Leben.

Ihr Handy piepte, und sie entdeckte eine Nachricht von ihrer Schwester.

Rat mal, was passiert ist. ICH WERDE HEIRATEN!

Katie schloss die Augen. Vor Erleichterung bekam sie weiche Knie. Gott sei Dank. Sie kannte die Einzelheiten nicht, und sie waren ihr auch egal. Wichtig war nur, dass alles wieder in Ordnung kam. Sie hatte das Leben ihrer Schwester nicht ruiniert.

Sie blinzelte die Tränen der Erleichterung weg, als sie zurückschrieb.

Freue mich so sehr für euch beide!

Die Hochzeit würde stattfinden. Was bedeutete, dass sie sich zusammenreißen musste.

Sie musste lächeln und glücklich sein für ihre Schwester. Alles andere konnte sie später klären.

Es war Weihnachten. Das war ihre Lieblingszeit im Jahr.

Warum also fühlte sie sich so niedergeschlagen?

Sie würde sich für fünf Minuten hinlegen, vielleicht half das.

Sie war auf dem halben Weg zum Schlafzimmer, als es an der Tür klopfte.

»Ach. Um …« Sie drehte sich um und sah Jordan in der Tür stehen.

Ihr Herz machte einen Satz. Sie war nicht sicher, ob sie ausgerechnet jetzt mit ihm umgehen konnte.

Sie wollte ihm sagen, dass er gehen sollte, doch wenn sie das tat, würde er denken, dass sie seinetwegen untröstlich war oder etwas ähnlich Peinliches, und sie hatte für heute schon genug Peinlichkeiten erduldet.

Sie winkte ihm hereinzukommen. »Hi, Jordan. Was ist los?«

»Dan und Rosie scheinen geklärt zu haben, was zwischen ihnen stand.«

»Ja, sie hat es mir gerade geschrieben.«

»Ich vermute, du hast einiges damit zu tun, dass die Hochzeit nun doch stattfindet.«

»Wenn du fragst, ob ich mit Dan gesprochen habe, ja, das habe ich, auch wenn es eher eine aufrichtige Entschuldigung war, da meine Einmischung überhaupt erst dazu geführt hat, dass sie sich beinahe getrennt hätten. War noch etwas, oder bist du nur gekommen, um über Rosie und Dan zu reden?«

»Ich bin nicht wegen Rosie und Dan hier.« Er schloss die Tür hinter sich. »Und es gibt einiges, das ich sagen möchte.«

Sie war zu müde dafür.

»Spar dir die Mühe. Ich mische mich ein, ich weiß, dass ich das tue. Tut es mir leid? Vielleicht ein bisschen, dass es sich so entwickelt hat, aber ich werde nie aufhören, auf meine Schwester aufzupassen. Insofern wäre es unaufrichtig, so zu tun, als würde ich mich allzu sehr verändern. Ich weiß, dass du mich nicht besonders magst, aber wir müssen eine Hochzeit hinter uns bringen, sodass ich dafür plädiere, die Feindseligkeiten bis nach der Feier zu verschieben.«

Jordan stand einfach nur da. »Bist du fertig?«

»Ja.«

»Gut, denn jetzt bin ich dran. Wegen letzter Nacht …«

»Ich unterbreche dich gleich hier.« Sie hob die Hand. »Du hast mich mit meinen eigenen Waffen geschlagen.«

»Das würde ich nicht sagen.«

»Ach nein?«

»Nein.« Er ging weiter ins Zimmer. »Zum einen heiße ich tatsächlich Jordan. Und wenn du mich nach meiner Nummer fragst, werde ich sie dir geben. Meine richtige Nummer.«

Sie lächelte matt, mehr schaffte sie einfach nicht. »Warum sollte ich nach deiner Nummer fragen?«

»Weil es ohne sie schwierig für dich sein wird, mich zu kontaktieren.«

»Warum sollte ich dich kontaktieren wollen? Ach, ich verstehe …« Sie nickte. »Du machst dir Sorgen, dass ich schwanger sein könnte. Entspann dich. Das wird nicht passieren.«

»Das ist nicht der Grund.«

Was war dann der Grund? »Es ist gut, Jordan. Wir haben eine Nacht miteinander verbracht und werden uns nach Weihnachten vermutlich nicht mehr wiedersehen, das ist keine große Sache. Tatsächlich gehen meine Beziehungen meistens so aus. Du musst dir keine Sorgen machen. Du hast es hier nicht mit einer träumerischen Prinzessin zu tun, die das Leben für eine Reihe von Happy Ends hält.«

»Das ist gut zu wissen, denn träumerische Prinzessinnen sind nicht unbedingt mein Typ.«

»Nein?« Sie hob ein paar von Rosies Kleidungsstücken auf, die im Zimmer verteilt herumlagen. Wenn sie beschäftigt war und ihn nicht ansah, würde sie das hier überstehen, das wusste sie.

»Das ist der Teil des Gesprächs, wo du mich fragst, was mein Typ ist.«

Hatte er überhaupt kein Taktgefühl?

»Entschuldige, ich habe das Drehbuch nicht auswendig gelernt.« Sie achtete darauf, locker zu klingen. Und sie achtete darauf, ihm den Rücken zuzukehren. »Was ist dein Typ?«

»Das ist ja das Merkwürdige. Wenn du mich vor ein paar Wochen gefragt hättest, hätte ich gesagt, dass ich keinen Typ habe. Doch wie sich herausstellt, habe ich eine Schwäche für eine bestimmte launische Ärztin mit einem Verstand, so scharf wie ein Skalpell, und beeindruckenden anatomischen Kenntnissen.«

Sie rührte sich nicht.

»Katie?« Seine Stimme war rau. »Sieh mich an.«

Sie drehte sich um. »Ich habe dir gesagt …«

»Du bist nicht an Beziehungen interessiert, ich weiß, aber hör mich an.« Unverwandt schaute er ihr in die Augen. »Ich bin mit dir in meiner Hütte geblieben, weil ich Dan und Rosie Zeit miteinander verschaffen wollte und weil es nicht sicher war rauszugehen.«

»Rosie meinte …«

»Ich sage dir, dass Rosie falschlag. Denk nach, Katie. Wann haben wir einander vorenthalten, was wir denken? Nicht einmal. Seit ich dich vom Flughafen abgeholt habe, hat keiner von uns mit seiner Meinung hinterm Berg gehalten. Warum also sollte ich irgendeinen komplizierten Plan ersinnen, um dich von deiner Schwester fernzuhalten? Wenn das der Grund gewesen wäre, dich in der Hütte zu behalten, hätte ich das gesagt. Ich hätte dir ins Gesicht gesagt, dass ich dich nicht nach Hause gehen lasse, damit du dich nicht einmischen kannst. Ich hätte die Tür abgeschlossen und den Schlüssel in meine Hosentasche gesteckt. Wir hätten gestritten. Mit Glück hättest du darum gekämpft.« In seinen Augen lag ein Funkeln, das sie zuvor noch nicht gesehen hatte.

»Waren wir wirklich eingeschneit?«

Er zuckte die Achseln. »Hätte ich uns rausbringen können? Vielleicht, aber nicht, ohne dabei ein Risiko einzugehen. Ich bin keine sechzehn mehr. Solche Risiken einzugehen hat keinen Reiz mehr für mich.«

»Ich dachte, du wärst abenteuerlustig.«

»Es gibt Abenteuer, und es gibt Dummheit. Selbst wenn ich bereit gewesen wäre, mein Leben aufs Spiel zu setzen und das des Rettungsteams, das zweifellos nach uns gesucht hätte, hätte ich dein Leben sicher nicht riskiert.« Er hielt inne. »Um ehrlich zu sein, sollte ich außerdem zugeben, dass ich dich dabehalten wollte. Wenn mir der Schnee nicht in die Hände gespielt hätte, hätte ich einen anderen Weg gefunden.«

Zum ersten Mal an diesem Tag war ihr warm. »Das … hättest du?«

»Ja. War das dein Dad, der da gerade gegangen ist?«

»Ja.« Was genau wollte er sagen? Sie war sich nicht sicher. Sie war nicht erfahren genug, um seine Worte zu interpretieren.

Er trat auf sie zu. »Hast du mit ihm gesprochen? Geht es deinen Eltern gut?«

»Das tut es. Es scheint, dass sie sich nicht scheiden lassen und dass diese ganze Show dazu beigetragen hat. Was bedeutet, dass ihr Sex tatsächlich echt war. Und das gehört zu den Dingen, an die ich nach Möglichkeit nicht denken möchte.« Sie fuhr sich mit den Fingern über die Stirn und erstarrte, als er ihre Hand nahm.

»Kopfschmerzen. Das liegt am wenigen Schlaf. Und natürlich am Stress. Hast du was eingenommen?«

»Nein.«

»Du bist Ärztin. Solltest du nicht wissen, wie du dich behandeln kannst?«

»Ich stehe ganz hinten in der Schlange.«

»Auf dich selbst aufzupassen steht nicht gerade weit oben auf deiner Agenda. Das sollten Sie vielleicht überdenken, Dr. White.«

»Das habe ich vor. Ich habe vor, viele Dinge zu überdenken, eingeschlossen meine Karriere.« Sie starrte auf seine Brust. »Übrigens danke fürs Zuhören. Es hat mir geholfen, darüber zu sprechen.«

»Freut mich, dass du in der Lage warst, mit deinem Dad zu sprechen.« Er legte den Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. »Hast du dir überlegt, was du stattdessen gern tun möchtest?«

»Nein. Vielleicht kündige ich und nehme mir eine Auszeit, um darüber nachzudenken. Ausschlafen. Zum Yoga gehen. Ein Pferd kaufen.«

»Ein Pferd?«

»Spielt keine Rolle.« Sie lächelte. »Ich habe keine Ahnung, was als Nächstes kommt, und auf eine Art ist das beunruhigend, doch überraschenderweise ist es auch befreiend. Es zeigt, dass ich mir vorstellen kann, einen Neuanfang zu wagen.«

»Gehst du zurück nach London?«

»Wo sollte ich sonst hin? Ich könnte bei meinen Eltern in Oxford bleiben, doch da sie ihre Beziehung wiederbeleben, glaube ich, dass das für alle Beteiligten unangenehm wäre.«

Er hat die blauesten Augen, die ich je gesehen habe, dachte sie.

»Ich war nie in London, aber es scheint mir kein ruhiger Ort zu sein. Kein Ort, an dem man gut nachdenken kann. Außerdem bist du ein Rottweiler, und Rottweiler brauchen Training und viel Input, oder sie werden schwierig.«

»Stimmt das?«

»Hm. Irgendwo draußen wärst du vielleicht besser dran. In einer Hütte in den Bergen beispielsweise. Wo es gemütlich ist. Holzwände, toller Ausblick, Kaminfeuer. Wenn der Schnee schmilzt, ist sie umgeben von Frühlingsblumen. Du kannst den ganzen Tag laufen und begegnest keinem anderen Menschen. Und die Luft ist frisch und sauber, keine Verschmutzung.«

Ihr Herz schlug ein bisschen schneller. »Das klingt toll. Kennst du einen solchen Ort?«

»Zufällig ja.« Er umfasste ihr Gesicht. »Bleib, Katie. Wenn du nachdenken musst, dann tu es hier. Ich kann dir garantieren, dass du keinen besseren Ort findest.«

Ihr Mund war trocken. Sie war nicht sicher, was er ihr anbot, und sie wollte sich nicht vergewissern – aus Angst, dass sie alles völlig missverstanden hatte. »Willst du mir deine Hütte anbieten? Wo willst du hin?«

Seine Augen funkelten vor Belustigung. »Witzig.«

»Dein Zuhause scheint mir nicht groß genug für Hausgäste. Du hast nur ein Schlafzimmer.«

»Wie viele Schlafzimmer brauchen wir?«

Ihr Herz schlug bis zum Hals. »Wir?«

»Ich bitte dich zu bleiben. Bei mir. Und ich weiß, dass du an einem Scheidepunkt deines Lebens stehst, was bedeutet, dass du verletzlich bist und keine unbesonnenen Entscheidungen treffen solltest. Oder es bedeutet, dass es an der Zeit ist, unbesonnene Entscheidungen zu treffen.«

»Bist du eine unbesonnene Entscheidung, Jordan?«

»Vielleicht.« Er senkte den Kopf, bis sein Mund fast ihren berührte. »Ich weiß nur, dass ich dich nicht zum Flughafen fahren möchte.«

»Weil du mich vermissen wirst, wenn ich abreise?«

»Ein bisschen. Vor allem aber, weil du eine besonders nervige Beifahrerin bist und mich weitere fünf Stunden mit dir in einem Wagen umbringen würden.«

Sie lachte und hätte sicher weitergelacht, wenn er sie nicht geküsst und damit an all die Gründe erinnert hätte, warum jene Nacht in der Hütte besonders gewesen war.

Als er schließlich den Kopf hob, schlang sie die Arme um ihn. »Ich dachte, du hasst mich.«

»Du hast wirklich keine Erfahrung mit Männern, oder, Karen?«

Sie grinste. »Du wirst meine Telefonnummer erraten müssen. Zehn Ziffern.«

»Ich brauche deine Nummer nicht. Ich habe dich persönlich.«

Lächelnd lehnte sie den Kopf an seine Brust. Sie hatte noch nie »Ich liebe dich« zu einem Mann gesagt, doch wenn sie die drei Worte je aussprechen würde, wäre es wohl bei jemandem wie ihm. »Ich hatte so viele verschiedene Optionen in meinem Kopf, aber hierzubleiben war keine davon.«

»Und?«

»Darf ich darüber nachdenken? Nicht weil ich es nicht will, sondern weil ich über alles nachdenken muss. So bin ich einfach.«

»Ich weiß.«

»Eine Hütte im Wald klingt wunderbar. Vor allem wenn sie Zimmerservice beinhaltet.«

Er küsste sie wieder. »Dieser Zimmerservice ist der beste, den du bekommen kannst.«

»Das glaube ich.« Sie umarmte ihn. »Können wir später darüber sprechen? Es gibt ein paar Dinge, die ich jetzt erledigen muss.«

»Wie eine Hochzeit platzen lassen?«

Erneut musste sie lächeln. »Ich dachte eher daran, diese Hochzeit zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen.«