KATIE

»Das ist alles, Sally. Wir sind fertig.« Katie zog ihre Latexhandschuhe aus und erhob sich. Die Stiche waren sauber, und sie war stolz, dass sie die bestmögliche Arbeit verrichtet hatte. Es würde eine Narbe bleiben, doch Katie wusste, dass Sally diese Nacht nie vergessen würde – mit oder ohne Narbe. »Gibt es jemanden, den wir für Sie anrufen können?«

Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre linke Wange war verfärbt und angeschwollen, in ihren Augen lag Ernüchterung. »Ich hätte nie gedacht, dass mir das je passieren würde.«

Jetzt setzte Katie sich wieder. Ihre Schulter schmerzte vom zu langen Sitzen in einer Position, und sie rollte sie unauffällig vor und zurück, um die Verspannung zu lösen. »Das kann jedem passieren. Es liegt nicht an Ihnen, sondern an ihm. Es ist nicht Ihre Schuld.« Auch wenn sie wusste, dass die Frau ihr vermutlich nicht glaubte, war es wichtig, die Worte auszusprechen.

»Ich komme mir so dumm vor. Ich denke die ganze Zeit, dass mir etwas entgangen sein muss. Wir sind seit zwei Jahren zusammen. Seit vier Monaten verheiratet. Er hat so was noch nie vorher getan. Ich liebe ihn. Ich dachte, er liebt mich. Wir lernten uns kennen, als ich einen neuen Job hatte, und er war einfach umwerfend. Er schien perfekt.«

Katie fröstelte. »Perfekt« war nicht normal. Welches menschliche Wesen war perfekt? »Tut mir leid.«

»Es gab kein Zeichen. Keinen Hinweis.«

»Perfekt« war vielleicht das Zeichen gewesen. Aber vielleicht war sie abgestumpft.

In den vielen Jahren, die sie schon in der Notaufnahme arbeitete, hatte sie alles gesehen. Kinder, die missbraucht wurden. Frauen, die missbraucht wurden, und, ja, auch Männer, die missbraucht wurden. Sie hatte Menschen gesehen, die aufeinander eingestochen hatten, Menschen, die zu schnell gefahren waren und dafür den Preis gezahlt hatten, Menschen, die getrunken hatten und sich dann hinters Steuer gesetzt und ein Leben genommen hatten. Natürlich gab es auch viele alltägliche Unfälle, außerdem Herzinfarkte, Gehirnblutungen und unzählige akute Notfälle, die sofortigen Einsatz verlangten. Und dann gab es noch die Menschen, die die Notaufnahme für die bequemste Möglichkeit hielten, um banalste Probleme medizinisch behandeln zu lassen. Jeden Tag war sie mit einem bunten Querschnitt von Menschen konfrontiert, manche davon gut, manche nicht so gut.

»Als wir uns kennenlernten, war er freundlich und fürsorglich. Liebevoll. Aufmerksam.« Sally wischte sich die Tränen von der Wange. »Ich versuche nicht zu weinen, weil das Weinen wehtut. Die körperlichen Verletzungen sind schlimm, aber das Schlimmste ist, dass das Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit erschüttert ist. Sie müssen das schon öfter gesehen haben. Ich kann nicht glauben, dass ich die Erste bin.«

Katie reichte ihr ein Taschentuch. »Sie sind nicht die Erste.«

»Wie kommen Sie damit klar? Hier zu arbeiten bedeutet sicher, das Schlimmste im Menschen zu sehen.«

Genau in diesem Moment spürte Katie ein quälendes Stechen in ihrer Schulter. Ja, sie bekam das Schlimmste im Menschen zu sehen. Sie musste sich erst in Erinnerung rufen, dass sie auch das Beste zu sehen bekam, und fragte sich, wie es mit dieser Frau weitergehen würde. Mit dieser Ehe. Würde sie ihrem Mann vergeben? Würde sich der Kreislauf wiederholen? »Was wollen Sie tun? Haben Sie einen Plan?«

»Nein. Bis er mich die Treppe runtergeworfen hat, wusste ich nicht, dass ich einen brauche.« Sally putzte sich die Nase. »Das Haus gehört mir, doch im Moment fühle ich mich dort nicht sicher. Vermutlich bleibe ich eine Zeit lang bei meinen Eltern. Er will mit mir sprechen. Ich glaube, ich sollte zumindest zuhören.«

Katie wollte ihr sagen, dass sie nicht zurückgehen sollte, doch es war nicht ihre Aufgabe, Ratschläge zu erteilen. Ihr Job war es, die körperlichen Schäden zu versorgen. Sally dabei zu helfen, mit den emotionalen Wunden umzugehen und die eigene Kraft zurückzuerlangen, lag in der Verantwortung von anderen. »Die Polizei möchte mit Ihnen sprechen. Fühlen Sie sich bereit?«

»Nicht wirklich, aber es ist wichtig, also tue ich es. Dies sollte unser erstes gemeinsames Weihnachten werden.« Sally steckte das Taschentuch in ihren Ärmel. »Ich hatte alles geplant.«

Die Jahreszeit schien ihren Schmerz noch zu vergrößern, doch Katie wusste aus Erfahrung, dass Tragödien keine Weihnachtspause machten.

Jemand öffnete die Tür. »Dr. White! Wir brauchen Sie.«

Die Samstagabende in der Notaufnahme waren nichts für Feiglinge, auch wenn das neuerdings nicht nur für die Samstage galt. Jeder Abend war verrückt.

»Okay, bin gleich da.« Sie sah die Schwester an, die ihr assistiert hatte. »Stellen Sie bitte sicher, dass Sally alle nötigen Informationen bekommt?« Dann wendete sie sich wieder ihrer Patientin zu. »Wenn Sie bereit sind, gibt es Menschen, mit denen Sie sprechen können. Menschen, die Ihnen helfen können.«

»Aber niemand kann die Uhr zurückdrehen. Niemand kann ihn in den Mann zurückverwandeln, für den ich ihn gehalten habe.«

Katie fragte sich, ob Sallys schlimmste Wunde wohl die Erschütterung ihres Glaubens war. Wie sollte sie jemals wieder einem Mann vertrauen können? »Ich hoffe, alles geht gut aus für Sie.«

Natürlich würde Katie das nicht erfahren. Dieser Ort war wie ein Traumata-Fließband. Sie behandelte alles, was durch die Tür kam, und wandte sich dann dem nächsten Notfall zu. Hier gab es keine Langzeitversorgung.

»Sie waren sehr freundlich. Ihre Eltern müssen stolz auf Sie sein.«

»Dr. White!«

Katie biss die Zähne zusammen. Tatsächlich musste Mitgefühl in ein winziges Zeitfenster gequetscht werden. Sie waren unterbesetzt, und eine lange Reihe von Patienten wartete auf sie. Also lächelte sie Sally erneut zu und verließ den Raum.

Wären ihre Eltern stolz, wenn sie ihr Leben in den letzten Wochen verfolgt hätten? Vermutlich nicht.

Vermutlich enttäuschte sie sie – genau wie sich selbst.

Sie blickte zu der Schwester, die im Flur wartete. »Gibt es ein Problem?«

»Der Typ, der Blut hustet …«

»Mr. Harris.«

»Ja. Harris. Wie machen Sie das? Wie merken Sie sich jeden Namen, obwohl Sie keine Minute mit der Person gesprochen haben?«

»Ich möchte eine unmenschliche Erfahrung so menschlich wie möglich machen. Was ist mit ihm?«

»Seine Testergebnisse sind da. Dr. Mitford hat ihn sich angeschaut und sagt, dass er aufgenommen werden muss, aber wir haben kein freies Bett.«

Wann hatten sie jemals keinen Bettenmangel? Eher fand man ein Einhorn in seinem Weihnachtsstrumpf als ein freies Bett in der Notaufnahme. Die Nachfrage überstieg das Angebot. Ein Patient, den sie zu Beginn ihrer Schicht behandelt hatte, wartete noch sechs Stunden später auf ein Bett. Da die Gefahr bestand, sich mit einem Krankenhauskeim zu infizieren, schickte Katie die Leute nach Möglichkeit immer nach Hause. »Haben Sie seine Tochter erreicht? Ist sie auf dem Weg?«

»Ja und ja.«

»Rufen Sie mich an, wenn sie eintrifft. Ich werde mit ihr reden. Er könnte zu Hause besser dran sein, wenn sich jemand um ihn kümmert.« Und es wäre besser für seine Würde. Seinen Papieren hatte sie entnommen, dass er CEO im Ruhestand war. Früher hatte er vermutlich eine ganze Firma herumkommandiert. Nun war er das Opfer menschlicher Hinfälligkeit. Egal, wie viel sie zu tun hatte, sie rief sich in Erinnerung, dass das Eintreffen in der Notaufnahme einer der stressigsten Momente im Leben eines Menschen war. Was für sie Routine bedeutete, ängstigte die Patienten oft sehr.

Sie vergaß nie, wie es für ihre Mutter gewesen war, mit Rosie im Krankenhaus zu sein.

Rasch hintereinander behandelte Katie drei Patienten und wurde dann von einer Schwindelattacke erfasst.

Das war in den letzten Wochen schon mehrmals passiert und ängstigte sie allmählich. Sie musste bei der Arbeit ihr Bestes geben, und das gelang ihr immer seltener.

»Ich hole mir rasch einen Kaffee, bevor ich umkippe.« Sie drehte sich um und lief direkt in einen Kollegen hinein.

»Hey, Katie.« Mike Bannister war an der medizinischen Fakultät in ihrem Jahrgang gewesen, und sie waren Freunde geblieben.

»Wie waren die Flitterwochen?«

»Lass es mich so sagen: Zwei Wochen in der Karibik waren nicht genug. Was machst du bei der Arbeit? Nach dem, was passiert ist, dachte ich … Bist du sicher, dass du hier sein solltest?«

»Es geht mir gut.«

»Hast du ein paar Tage freigenommen?«

»Ich brauche mir nicht freizunehmen.« Sie zwang sich, langsam zu atmen, und hoffte, dass Mike weitergehen würde.

Er blickte sich um, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte. »Du bist sehr gestresst und am Ende deiner Kräfte. Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Ach, das bildest du dir nur ein.« Ja, sie war sehr gestresst. »Vermutlich ist mein Blutzucker zu niedrig. Ich bin unleidlich, wenn ich hungrig bin, und ich hatte keine Pause, seit ich vor sieben Stunden hier reingekommen bin. Das werde ich jetzt ändern.«

»Du bist auch nur ein Mensch, Katie.« Mikes Blick ruhte auf ihrem Gesicht. »Was geschehen ist, war schrecklich. Beängstigend. Niemand würde es dir übelnehmen, wenn …«

»Sorg dich um die Patienten, nicht um mich. Es gibt genug von ihnen.« Katie versuchte, den Schmerz in ihrer Schulter und ihr Herzrasen zu ignorieren. Sie wollte nicht daran denken, und sie wollte schon gar nicht darüber sprechen.

Sie hatte einmal mitgehört, wie ihre Mutter zu jemandem gesagt hatte: »Katie ist robust wie ein Fels.«

Bis vor einem Monat hätte sie dem nicht widersprochen.

Jetzt fühlte sie sich alles andere als robust. Sie war am Ende ihrer Belastbarkeit, und es wurde immer schwieriger, das vor ihren Kollegen zu verbergen. Allein der Gedanke, zur Arbeit zu gehen, brachte sie an den Rand einer Panikattacke, und dabei hatte sie nie an Panikattacken gelitten.

Ihre Mutter rief weiter an, um ein Mittagessen vorzuschlagen, und sie hielt sie weiter hin, weil sie Angst hatte, vor ihr zusammenzubrechen.

»Tut mir leid.« Ein Pfleger rempelte sie an, während er von einem Ende der Abteilung zum anderen rannte, und das Heulen einer Sirene sagte ihr, dass das Arbeitsaufkommen so bald nicht nachlassen würde.

»Die Sanitäter bringen eine hässliche Kopfverletzung. Und diese Filmcrew macht mich wahnsinnig«, sagte Mike.

Die Filmcrew hatte Katie ganz vergessen. Sie arbeiteten an einer Reportage über Notfallmediziner, und Katie nahm an, dass sie allmählich wünschten, ein anderes Objekt ausgesucht zu haben.

Am ersten Tag war der Kameramann in Ohnmacht gefallen, als er mit den Folgen eines besonders hässlichen Autounfalls konfrontiert worden war. Er hatte sich den Kopf an einem Rollwagen aufgeschlagen, und sie hatte die Wunde mit sechs Stichen genäht. Seine Kollegen hatten es saukomisch gefunden, dass er auf der anderen Seite der Kamera gelandet war, doch sie hätte gut ohne die zusätzliche Arbeit leben können.

»Es ist wie ein Kriegsgebiet«, hatte einer der Journalisten etwas früher am Abend gesagt, und in Anbetracht der Tatsache, dass er tatsächlich mal in einem Kriegsgebiet gewesen war, wollte ihm niemand widersprechen. »Kein Wunder, dass ihr unterbesetzt seid. Warst du nie versucht, die ganze Sache hinzuschmeißen und Dermatologin zu werden?«

Katie hatte nicht geantwortet. Sie war versucht, vieles zu tun, und das beunruhigte sie allmählich.

Medizin war ihr Leben. An dem Abend von Rosies erster Asthma-Attacke hatte sie sich entschieden, Ärztin zu werden. Ihr Vater war nicht da, und Katie war zu jung gewesen, allein zu bleiben, sodass sie mit ins Krankenhaus gefahren war.

Sofort war sie fasziniert gewesen von den piependen Maschinen, dem leisen Zischen des Sauerstoffs und dem erfahrenen Arzt, der ihrer kleinen Schwester half, wieder zu atmen.

Mit achtzehn hatte sie sich an der medizinischen Fakultät eingeschrieben. Mehr als zehn Jahre später war sie noch immer dabei, sich als Ärztin nach oben zu arbeiten. Sie mochte ihre Kollegen, und sie liebte das Gefühl, dass sie ihre Arbeit gut machte. Doch in letzter Zeit hatte sie dieses Gefühl seltener als früher. Sie wollte mehr für ihre Patienten tun, doch es mangelte an Zeit und Ressourcen. Die Grenzen des Jobs frustrierten sie zunehmend, und sie fragte sich, ob die Arbeit noch richtig für sie war.

Doch der Zeitpunkt, sich diese Frage zu stellen, war vor zwölf Jahren gewesen, nicht jetzt.

Sie wandte sich von Mike ab.

Ein Assistenzarzt lungerte in der Nähe herum und wartete auf die Gelegenheit, einen Fall zu besprechen, doch bevor sie den Mund öffnen konnte, traf die betrunkene Kopfverletzung ein. Der Mann war blutbedeckt und jaulte wie ein verwundetes Tier.

Erst eine Stunde später hatte sie endlich Zeit für den Pausenraum, wo sie sich einen Proteinriegel und einen Kaffee gönnte, während sie ihr Handy checkte.

Sie hatte drei entgangene Anrufe von ihrer Schwester. Mitten in der Nacht?

Sie schlang den Rest des Riegels hinunter und rief zurück, wobei sie sich damit beruhigte, dass ihre Schwester durchaus fähig war, mitten in der Nacht anzurufen, um zu sagen, dass sie mit Ballett anfing oder sich entschieden hatte, einen Marathon zu laufen.

Bitte lass es nur so was sein.

Wenn ihrer Schwester irgendetwas zugestoßen sein sollte, wäre das ihr Ende.

»Rosie?« Sie warf das Papier in den Mülleimer. »Bist du im Krankenhaus?«

»Um Himmels willen, kann eine Frau nicht mal ihre Familie anrufen, ohne dass alle annehmen, sie sei im Krankenhaus? Was ist los mit euch?«

Erleichterung durchflutete sie. »Wenn du deine Familie um vier Uhr morgens anrufst, musst du diese Reaktion einkalkulieren.« Katie entschied, sich fünf Minuten Ruhe zu gönnen, und streifte ihre Schuhe ab. »Dann ist das hier ein normaler Anruf?« Sie beäugte den Stuhl, fürchtete aber, dass sie nicht wieder hochkam, wenn sie sich erst hingesetzt hatte.

»Nicht ganz. Ich rufe an, weil ich wichtige Neuigkeiten habe und dich um etwas Spezielles bitten möchte.«

»Wichtige Neuigkeiten?« Warum klangen diese Worte so bedrohlich, wenn ihre Schwester sie aussprach? »Du wirfst dein Studium hin und reist nach Peru?«

Rosie lachte, denn es hatte eine Zeit gegeben, als sie genau das erwogen hatte. »Nein. Du darfst noch mal raten.«

Bei Rosie konnte es alles sein.

»Du hast mit Irish Dance angefangen und ziehst jetzt in eine Leprechaun-Kolonie.«

»Wieder falsch. Ich werde heiraten!«

Katie verschüttete ihren Kaffee auf Rock und Beine. »Scheiße.«

»Ich weiß, dass du keine ausgesprochene Romantikerin bist, aber ich kann nicht glauben, dass das dein Kommentar dazu ist.«

»Das war, weil ich mich gerade verbrüht habe, nicht wegen deiner Neuigkeit.« Früher hatte sie nie geflucht, doch die Jahre in der Notaufnahme hatten sie verändert. »Was hast du gesagt?« Sie griff nach einem Tuch und wischte den Kaffee auf. »Du willst heiraten? Wen?«

»Was meinst du mit wen? Dan natürlich.«

»Weiß ich von Dan?« Katie hatte den Überblick über die Beziehungen ihrer Schwester verloren. »Oh, warte, ich erinnere mich, dass du ihn erwähnt hast. Er ist dein aktueller Freund.«

»Nicht nur mein aktueller, sondern mein letzter. Er ist der eine.«

Katie verdrehte die Augen und war erleichtert, dass es kein Video-Anruf war. »Das dachtest du bei Callum Parish auch.«

»Er war mein erster Freund. Den liebt man immer.«

Katie hatte ihren ersten Freund nicht geliebt. Sie war noch nie verliebt gewesen und ziemlich sicher, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.

»Was ist sein Problem?«

»Was soll das heißen?«

»Du suchst dir immer Männer aus, die eine schwierige Phase durchmachen. Du liebst es, Leute zu retten.«

»Das stimmt nicht. Und Dan hat kein Problem, außer vielleicht, dass seine zukünftige Schwägerin verrückt ist.«

Zukünftige Schwägerin. Katie bemühte sich, das in ihren Kopf zu kriegen. »Warum heiratest du ihn, wenn er kein Problem hat?«

»Weil ich ihn liebe!«

Liebe. Eine Krankheit mit ungewisser Prognose, die oft ohne Vorwarnung zuschlug.

»Ich prüfe nur, ob du nicht zu irgendwas gedrängt wirst, das ist alles. Es ist wichtig, dass du es aus den richtigen Gründen tust.« Katie fiel zwar kein vernünftiger Grund ein, aber sie war bereit, ihre eigenen Grenzen auf diesem Gebiet zu akzeptieren. Rosie hatte recht. Sie war keine Romantikerin. Sie sah keine romantischen Filme, las keine Liebesromane. Und von Hochzeiten träumte sie schon gar nicht. Sie lebte ein Leben, das von der Realität durchtränkt war. Happy Ends sah sie nur äußerst selten.

»Kannst du dich nicht für mich freuen?«

»Ich bin deine große Schwester. Mein Job ist es, dich zu beschützen.«

»Wovor?«

»Vor jedem und vor allem, was dir schaden könnte. In diesem Fall vor dir selbst. Du bist impulsiv, liebenswert und einfach entzückend und das optimale Ziel für jede Pfeife.«

»Dan ist keine Pfeife.«

»Vielleicht nicht, aber du siehst in niemandem das Schlechte. Und … Wie soll ich das sagen, ohne dich zu kränken? Bei Männern beweist du keine gute Menschenkenntnis.«

»Jetzt kränkst du mich ja doch. Und ›entzückend‹ hört sich übrigens an, als würdest du von einem Welpen sprechen, der in eine Pfütze gefallen ist. Das ist kein Kompliment für jemanden, der eine akademische Karriere verfolgt. Du nimmst mich nie ernst. Vielleicht bin ich keine erfolgreiche Ärztin wie du, aber ich studiere in Harvard und promoviere. Manche Menschen sind davon beeindruckt.«

»Ich nehme dich ernst.« Tat sie das? »Und es ist möglich, entzückend und klug zugleich zu sein. Ich weiß, dass manche Menschen davon beeindruckt sind, weshalb ich dich auf den Boden der Tatsachen runterholen muss, damit dir dieses ganze Ivy-League-Ding nicht zu Kopf steigt. Und deshalb sollten wir uns daran erinnern, dass du Märchen studierst, was im Prinzip dein ganzes Leben zusammenfasst.« Das war ein alter Familienscherz, doch Katie durchzuckte ein Schuldgefühl, als sie es sagte. Vielleicht hatte sie diesen Scherz schon zu oft gemacht.

»Ich studiere Keltische Sprachen, Volkskunde und Mythologie. Keine Märchen.«

»Ich weiß, und ich bin stolz auf dich.« Katies Stimme wurde weicher. Sie war tatsächlich stolz auf ihre Schwester. »Und ich liebe dich und möchte dich beschützen.«

»Ich brauche keinen Schutz. Ich liebe ihn, Katie. Dan ist … er ist … unglaublich. Er ist witzig, liebenswürdig und so entspannt, dass es einfach nicht zu glauben ist, und er küsst wie ein Gott. Ich dachte nie, dass ich so empfinden könnte.«

»Du kannst einen Kerl nicht heiraten, nur weil er gut im Bett ist.« Es war so lange her, dass sie mit jemandem im Bett gewesen war – ob gut oder nicht –, dass sie vermutlich nicht das beste Urteilsvermögen hatte.

»Das ist alles, was von dem, was ich sagte, bei dir angekommen ist? Er ist so viel mehr als das. Er ist perfekt für mich.«

Nachdem sie gerade Sally behandelt hatte, läuteten die Alarmglocken ohrenbetäubend laut in Katies Ohren. »Niemand ist perfekt. Wenn er perfekt wirkt, liegt das entweder daran, dass er sich bemüht, etwas zu verbergen, oder dass du noch nicht lange genug mit ihm zusammen bist, um seine Fehler zu sehen. Denk an Sam.«

»Ich habe dir gerade gesagt, dass ich heiraten werde, und du musst Sam erwähnen? Hältst du das wirklich für den richtigen Zeitpunkt?«

»Du hast Sam angebetet und ihn übrigens auch für den einen gehalten, bis du entdeckt hast, dass er mit zwei deiner Freundinnen geschlafen hat.«

»Menschen benehmen sich manchmal schlecht. So ist das Leben.«

»Nimmst du ihn in Schutz?«

»Nein, aber wir waren auf dem College. Da drehen alle ein bisschen durch.«

»Er hat dir wehgetan, Rosie. Du hast so sehr geweint, dass du den schlimmsten Asthma-Anfall bekamst, den du je hattest. Nie werde ich diese verrückte Fahrt nach Oxford vergessen. Und wie ich Mum angelogen habe, weil du mich gebeten hattest, es ihr nicht zu erzählen.« Ihre Mutter kannte weniger als die Hälfte der Vorfälle mit Rosie, seit diese ausgezogen war. Manchmal spürte Katie diese Last, denn sie sah die ungefilterte Version von Rosies Leben.

»Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich macht. Das hat sie einfach schon genug getan.«

»Und dann war da … Wie war doch gleich sein Name? James. Er bestand darauf, dass du zahlst, wenn ihr zusammen wart.«

»Er hatte nicht viel Geld.«

»Er war ein Schmarotzer.« Sie hatte Rosie Geld leihen müssen, doch das erwähnte sie nicht. Es ging nicht um Geld, sondern um ein beeinträchtigtes Urteilsvermögen.

»Dan ist anders.« Rosie blieb stur. »Das wirst du sehen, sobald du ihn kennenlernst.«

»Großartig. Wann kann ich ihn kennenlernen?« Wenn es nach ihr ging: je früher, desto besser. Verlobungen konnte man auflösen, oder? Beziehungen gingen immer wieder zu Ende, vor allem Rosies.

»Deshalb rufe ich an. Wir heiraten Weihnachten, direkt hier in Aspen. Kannst du dir etwas Romantischeres vorstellen? Blauer Himmel und Schnee.«

»Diese Weihnachten? Das Weihnachten, das in weniger als einem Monat stattfindet? Machst du Witze?«

»Warum sind alle so überrascht?«

»Weil man eine Hochzeit normalerweise mehr als ein paar Wochen vorher ankündigt und du ihn erst seit ein paar Monaten kennst.« Das Bild von Sallys wundem, tränenüberströmtem Gesicht tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Es gab kein Zeichen. Keinen Hinweis. »Weiß Mum es?«

»Ja, ich habe sie zuerst angerufen. Sie war begeistert. Dad ebenfalls.«

Katie war ziemlich sicher, dass ihre Mutter eine Panikattacke bekommen hatte. »Warum die Eile? Warum nicht noch ein wenig warten?«

»Weil wir das so bald wie möglich tun wollen. Und ich wünsche mir wirklich, dass du dabei bist. Die Schwarzmalerei kannst du zu Hause lassen.«

»Es tut mir leid.« Katie schluckte. Ihre Schwester zu verletzen war das Letzte, was sie wollte. »Ich hatte ein paar harte Wochen bei der Arbeit, das ist alles. Ignorier mich. Natürlich werde ich zu deiner Hochzeit kommen. Du bist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin. Ich würde die Hochzeit um nichts in der Welt verpassen wollen. Verzeih mir.«

»Es gibt nichts zu verzeihen. Ich weiß, dass du dich um mich sorgst.« Rosies Stimme war weich und warm. Angesichts ihrer großzügigen Reaktion fühlte Katie sich noch schlechter.

Die Fähigkeit ihrer Schwester, menschliche Unzulänglichkeiten zu verzeihen, war sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche. Sie machte sie anfällig für jeden Loser und jeden Mistkerl, der ihr über den Weg lief.

Gehörte Dan dazu?

»Wie ist der Plan? Muss ich irgendeine Unterkunft buchen?« Der Gedanke an Reisevorbereitungen saugte ihr die letzte Energie aus. »Was ist mit Mum und Dad?«

»Sie kommen natürlich auch. Und abgesehen von eurem Flug ist alles arrangiert. Dans Familie gehört dieses großartige Hotel in den Bergen. Das wird der schönste Urlaub, den du je hattest.«

Katie hatte vor Weihnachten gegraut. Sie hatte sich gefragt, wie sie während dieses Familienfests die Fassade aufrechterhalten konnte. Normalerweise liebte sie diese Zeit. Sie schlief gern aus und genoss die leckeren Mahlzeiten ihrer Mutter. Sie quatschte mit ihrem Vater und ließ sich von seiner Arbeit erzählen. Doch jetzt war alles anders. An einem dunklen, regnerischen Abend vor ein paar Wochen hatte sich ihr Leben für immer verändert.

Jetzt fühlte sie sich ausgelaugt. War sie wirklich in der Lage, nach Aspen zu fliegen und ein fröhliches Gesicht aufzusetzen?

»Wann sollen wir kommen?«

»Die Hochzeit wird an Heiligabend sein, deshalb dachten wir, dass ihr alle eine Woche vorher kommt, um Dan und seine Familie kennenzulernen. Dann könnt ihr über Weihnachten bleiben und vor Neujahr wieder zurückfliegen – oder wann immer ihr wollt. Ach Katie, ich bin so aufgeregt! Ich kann mich nicht zwischen einer Fahrt mit dem Pferde- oder dem Hundeschlitten für die Gäste entscheiden.«

»Na, zerbrich dir meinetwegen nicht den Kopf. Ich laufe gern.«

»Hier liegt schon meterweise Schnee. Es ist ein Winterwunderland. Du wirst sehen, dass Laufen hier gar nicht so einfach ist.«

»Laufen gehört zu den wenigen Dingen, in denen ich hervorragend bin. Ich habe jahrelange Übung.«

»Ich möchte, dass du meine Brautjungfer bist. Meine Trauzeugin. Nenn es, wie du willst.«

Katie wollte es gar nicht benennen. Warum konnte ihre Schwester nicht begreifen, dass diese Hochzeit ein riesengroßer Fehler war?

»Bist du sicher? Vermutlich hinterlasse ich einen schmutzigen Fußabdruck auf deinem Kleid. Ich weiß nicht viel über Hochzeiten.« Noch weniger wusste sie über die Pflichten einer Brautjungfer, doch Spielverderberin zu sein gehörte vermutlich nicht dazu.

»Du musst nur lächeln und mir beistehen. Du kannst Mum beatmen, wenn sie im Flugzeug eine Panikattacke bekommt. Tut mir leid, dass ich ihr das Familienweihnachten verderbe. Du weißt, wie wichtig es für sie ist, alle zusammenzuhaben. Ich vermisse dich. Wir haben seit Ewigkeiten nicht mehr gequatscht. Ich habe mich sogar schon gefragt, ob du mir aus dem Weg gehst.«

»Das ist ja lächerlich. Ich bin beschäftigt, das ist alles.«

Erzähl ihr, was dir passiert ist. Erzähl ihr, dass du das Gefühl hast, als würde die Welt um dich herum einstürzen.

Sie wusste, dass Rosie entsetzt wäre. So wie sie ihre mitfühlende Schwester kannte, würde sie vermutlich den nächsten Flug nehmen und zu ihr kommen.

Katie blinzelte. Sie war diejenige, die auf Rosie aufpasste, nicht umgekehrt.

Sie war Rosies Fels in der Brandung. Und nie hatte Rosie ihre Unterstützung und ihren Rat so sehr gebraucht wie jetzt.

Genau hier und jetzt fällte sie die Entscheidung.

Vergiss Weihnachten. Vergiss Entspannung. Vergiss die eigenen Probleme.

Die erste Priorität bestand darin, ihre kleine Schwester vor einem großen Fehler zu bewahren, der sie ins Elend stürzen würde.

»Ich würde die Hochzeit um nichts in der Welt verpassen.« Sie musste Dan persönlich kennenlernen und einen Weg finden, ihre Schwester vor sich selbst zu schützen. Und wenn ihr das früh genug gelang, dann konnten sie vielleicht immer noch rechtzeitig zu Hause sein, um Weihnachten im Honeysuckle Cottage zu verbringen.

Mit Glück würde ihre Mutter so sehr auf Rosie fokussiert sein, dass sie nicht bemerkte, dass mit Katie etwas nicht stimmte. »Ich kann es kaum erwarten, Brautzeugin zu sein oder wie immer das heißt. Ich bitte nur um eins: Quetsch mich nicht in dunkelrotes Polyester. Ich möchte nicht statisch aufgeladen sein. Und gib nicht zu viel Geld aus.« Weil diese Hochzeit nicht stattfinden wird. Sie drehte sich um, als die Tür geöffnet wurde und Mike hereinkam. »Ich muss los. Bin auf der Arbeit.«

»Ich bin stolz auf dich. Katie. Ich erzähle jedem, dass meine große Schwester Ärztin ist.«

Die große Schwester bricht gerade zusammen.

Sie war eine Hochstaplerin. »Geh, und hab Spaß. Aber nicht so viel Spaß, dass du deinen Inhalator vergisst.«

»Katie …«

»Ich weiß. Ich bin die Inhalator-Polizei. Stürz dich in Partys. Lebe das Leben. Ich ruf dich morgen an.« Sie beendete das Gespräch und streifte sich wieder ihre Schuhe über.

Fragend hob Mike eine Augenbraue. »Es geht doch nichts über Ratschläge, die man selbst nicht befolgt. Wann bist du das letzte Mal zu einer Party gegangen und hast das Leben gelebt?«

»Ich feiere Party in meinem Kopf. Im Moment bin ich auf einer virtuellen Party.«

»Gehört dazu auch ein virtueller Kater? Wer heiratet?«

»Meine Schwester. In weniger als vier Wochen.«

»Das ist die Schwester, die Märchen studiert?«

Katie zuckte zusammen. »Ich habe diesen Witz vielleicht überstrapaziert. Sie studiert Keltische Sprachen, Mythologie und Volkskunde an einem Ivy-League-College. Vermutlich würde sie behaupten, dass es zum Verständnis der Kultur und des Glaubens einer Gesellschaft beiträgt. Das war schon Thema vieler lebhafter Auseinandersetzungen am Esstisch. Sie ist wirklich sehr klug, doch für mich ist sie immer noch meine kleine Schwester, und ich ziehe sie zu oft auf.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Mir ist, als hätte ich ihr erst gestern Bilderbücher vorgelesen.«

»Großer Altersunterschied?«

»Zehn Jahre. Ich glaube, meine Eltern hatten es schon aufgegeben, ein zweites Kind zu kriegen, und dann kam Rosie.«

»Und du hast eine gehörige Portion Eifersucht entwickelt?«

»Was?« Katie starrte ihn an. »Nein. Ich habe sie vergöttert. Schon vom ersten Moment an, als ich ihr lustiges haarloses Köpfchen sah.« Sie dachte an Rosie, ein hinreißendes Kleinkind, das ihr überallhin gefolgt war. Rosie in ihrem Lieblingsdinosaurierschlafanzug. Rosie, die bei einem Asthma-Anfall blau wurde. »Ich gebe zu, dass ich wohl etwas gluckenhaft bin, weshalb ich jetzt nach Colorado fliege, um den Kerl kennenzulernen.«

»Du hast ihn noch nicht getroffen?«

»Nein. Und sieh mich nicht so an. Ich bin sowieso schon außer mir. Sie kennen sich erst seit ein paar Monaten. Was kann man in ein paar Monaten schon über jemanden erfahren? Was, wenn er ein Spieler ist oder ein Narzisst? Er könnte Psychopath sein. Vielleicht ein Serienmörder.«

Mike lehnte sich an die Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dr. Unheil. Immer die Optimistin.«

»Ich bin nicht Dr. Unheil. Dank der Jahre, die ich hier arbeite, bin ich Dr. Realität. Die Realitäten des Lebens vor der Nase zu haben heilt jeden Optimismus. Es gibt nichts Verlässliches im Leben, das wissen wir beide.«

»Ein Grund mehr, die glücklichen Momente zu genießen, wenn man ihnen begegnet.«

»Hast du das wirklich gesagt? Falls man dich als Arzt feuert, könntest du Grußkarten texten.« Sie trank ihren Kaffee aus und ging zur Tür.

»Katie …«

»Was?« Sie drehte sich um und sah den besorgten Ausdruck in seinem Gesicht.

»Weiß deine Familie, was dir passiert ist?«

»Nein, und es gibt keinen Grund, es ihnen zu sagen.«

»Sie könnten dir helfen.«

»Ich brauche keine Hilfe. Ich bin mir Hilfe genug.« Ihre Eltern hatten genug Hilfe geleistet in ihrem Leben. Es war an der Zeit, dass sie ihre Zweisamkeit genossen.

»Vielleicht tut es dir gut, ein paar Wochen an der frischen Luft zu sein und Bergluft zu atmen.«

»Vielleicht.« Sie verdrängte seine besorgte Miene und schloss die Tür hinter sich.

Frische Luft war egal. Bergluft war ihr egal. Sogar ein weißes Weihnachten war ihr egal.

Sie würde nur aus einem einzigen Grund nach Colorado fliegen.

Um die Hochzeit ihrer Schwester zu verhindern.