ROSIE

Rosie stand im Ankunftsbereich des Flughafens und verrenkte sich den Hals, um ihre Eltern zu erblicken.

Dan stand hinter ihr und hatte die Arme um sie geschlungen, um sie vor der Menge abzuschirmen. »Weißt du eigentlich, dass du dir immer auf die Lippen beißt, wenn du nervös oder aufgeregt bist?«

»Ich beiße mir nicht auf die Lippen.« Sie hörte auf, auf ihre Lippe zu beißen.

»Du merkst nicht mal, dass du es tust. Außerdem umarmst du dich immer selbst, und dazu besteht kein Grund, weil du jetzt mich hast, der dich umarmt.« Als wollte er das unter Beweis stellen, verstärkte er seinen Griff. »Ich habe dich noch nie so gestresst gesehen. Hat deine Familie immer diese Wirkung auf dich?«

»Sie um mich zu haben macht mich immer ein bisschen nervös.«

»Das habe ich bemerkt. Übrigens, vielleicht möchtest du den Ohrring abnehmen.«

Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. »Gefallen dir meine Ohrringe nicht?«

»Ich liebe deine Ohrringe, aber du trägst nur einen.« Schelmisch grinste er sie an. »Ich schätze, der andere ist zu Hause in unserem Bett.«

Sie keuchte auf und hob die Hand zum Ohr. Es war nackt. »Er muss rausgefallen sein, als wir …«

Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Kleine Kinder in Hörweite.«

»Wir waren so spät dran, dass ich nicht noch mal in den Spiegel geschaut habe.«

»Wir waren ein bisschen abgelenkt.« Er küsste ihre Wange. »Keine Sorge. Zumindest hast du daran gedacht, Hosen anzuziehen.«

Mit der einen Hand gab sie ihm einen Schubs, während sie mit der anderen den verbliebenen Ohrring abnahm. »Gut, dass du es bemerkt hast. Wenn ich meine Eltern begrüße, möchte ich lieber nicht aussehen, als käme ich gerade aus dem Bett, danke.« Sie drehte sich um und blickte in das Gedränge hinter ihnen. »Wo sind sie?«

»Vermutlich stecken sie am Einwanderungsschalter fest. Oder sie warten auf ihr Gepäck. Entspann dich.«

Aber sie wusste nicht, wie man sich entspannte. Dieses Wort gab es in ihrem Vokabular nicht.

Er sollte das wissen. Er sollte doch sicher alles über sie wissen, oder? Wie sonst konnte er sicher sein, dass er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen wollte?

Menschen sollten wissen, worauf sie sich einließen. Ab wann wusste man genug über jemanden?

Ach, hör auf, Rosie!

Obwohl sie noch gar nicht angekommen waren, hörte sie schon die Stimmen ihrer Familie.

Sie wünschte, sie hätte nie mit Katie gesprochen. Was, wenn sie sie vor Dan blamierte?

Sie wünschte, sie könnte sich selbst etwas spritzen, das all die kleinen Zweifel beseitigte, die sich in ihrem Kopf multiplizierten. In diesem Moment sollte sie sich auf ihre Eltern konzentrieren. Ihre Mutter würde nach dem Flug vermutlich ein nervliches Wrack sein, und dabei setzte sie voraus, dass ihr Vater sie überhaupt ins Flugzeug bekommen hatte. Was, wenn er das nicht geschafft hatte?

Vielleicht waren sie noch in Heathrow.

Ihre Fantasie hob ab zur eigenen Fernreise ohne Zwischenstopps. Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie vor dem Abflug-Gate zusammenbrach und eine Beruhigungsspritze brauchte. Oder – noch schlimmer – wie sie mitten in der Luft versuchte, aus dem Flugzeug zu flüchten.

»Kann man mitten in der Luft eine Flugzeugtür öffnen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Warum natürlich?«

»Weil die Kabine unter Druck steht, und der Druck innen ist höher als der Druck außen. Der unterschiedliche Luftdruck würde bedeuten, dass du über tausend Pfund bewegen müsstest – unmöglich. Reine Physik.«

Rosie hasste Physik. »Meine Fachgebiete sind Folklore und Mythologie, insofern gibt es keinen Grund, warum ich das wissen sollte.«

Er ließ sie los und drehte ihr Gesicht so, dass sie ihn ansah. »Warum fragst du? Hat deine Mom etwa die Angewohnheit, während des Flugs die Türen öffnen zu wollen?«

»Nein.« Aber das lag nur daran, dass ihre Mutter das Fliegen vermied, wenn es irgendwie möglich war. »Meine Mutter hasst es zu fliegen.«

»Wenn sie es so sehr hassen würde, würde sie nicht kommen.«

»Da kennst du meine Mutter aber schlecht. Es gibt nichts, was sie für meine Schwester und mich nicht tun würde.«

Und Rosie fühlte sich zunehmend schuldig, ihre Mutter über Weihnachten von ihrem Zuhause fortzureißen. Sie liebte Weihnachten und machte immer ein riesiges Aufhebens darum. »Sie ist immer für uns da, egal, was passiert.«

»Und dies ist deine Hochzeit! Ich bin sicher, dass sie glücklich ist und sich für dich freut.«

Rosie war sich dessen nicht so sicher. Allmählich machte sie das alles regelrecht krank. Was hatte ihre Familie nur an sich, dass sie sich immer wie ein Kind fühlte? »Was, wenn sie es gar nicht bis ins Flugzeug geschafft haben?«

»Dann hätte dein Vater angerufen.«

»Musst du immer so logisch sein?«

Er lächelte. »Ja, so bin nun mal, das weißt du.«

»Ja, genau. Das weiß ich«, betonte sie, um sich in Erinnerung zu rufen, dass es in der Tat vieles gab, das sie über ihn wusste. Sie wusste, dass ihm Gesundheit und Fitness am Herzen lagen, seit er mit zwanzig seinen Vater verloren hatte, der einem Herzinfarkt erlegen war. Sie wusste, dass er lieber Sachbücher als Romane las, dass er Fakten wie ein Schwamm aufsog und dass er gern draußen war. Und sie wusste, dass das Zusammensein mit ihm ihr das Gefühl gab, es mit der ganzen Welt aufnehmen zu können. Nie stellte er ihre Kompetenz oder ihre Entscheidungen in Frage. Weil er an sie glaubte, hatte sie angefangen, an sich selbst zu glauben.

»Du denkst zu viel darüber nach. Dieses kreative Hirn, das du hast, macht Überstunden.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah sie liebevoll an. »Bist du sicher, dass es hier um deine Eltern geht? Nichts anderes? In den letzten zwei Wochen bist du immer gestresster geworden.«

»Das bildest du dir nur ein.«

»Ich kenne dich, Rosie.«

Tat er das? Tat er das wirklich?

»Man kann nicht in weniger als einem Monat eine Hochzeit vorbereiten und dabei nicht ein bisschen gestresst sein, Dan. Das wäre unrealistisch.«

»Dann ist es also die Hochzeit?« Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Nicht, dass ich ein Hochzeitsexperte bin, denn dies ist meine erste und einzige, aber ich dachte, dass das aufregend und spaßig sein sollte.«

Das hatte sie auch gedacht, aber wie sich herausstellte, lagen sie beide falsch.

Sie war nicht trunken vor Aufregung, sie hatte Spannungskopfschmerzen.

»Lass uns für fünf Minuten über etwas anderes als Hochzeiten sprechen.«

»Hey …« Er zog sie in die Arme. »Es wird alles gut werden, versprochen. Wenn deine Familie da ist, wirst du dich entspannen. Vermutlich bist du so gestresst, weil deine Schwester es nicht in dasselbe Flugzeug geschafft hat. Ich weiß, dass du sie vermisst.«

Eigentlich wollte sie ihre Schwester momentan am liebsten umbringen.

Warum waren Beziehungen nur so kompliziert?

»Sie hat gestern eine Mail geschrieben. Sie möchte, dass wir ein paar Abende für uns haben, um miteinander zu quatschen. Ist das okay für dich? Weihnachten sind wir immer zu zweit im Zimmer. Das ist eine Art Tradition.«

Dan grinste. »Ich gehe davon aus, dass ich zu diesem schwesterlichen Übernachtungsbesuch nicht eingeladen bin?«

»Nein, das bist du nicht. Aber es wird seltsam sein, von dir getrennt zu schlafen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, wie es mir damit geht.«

Katie hatte geschrieben, dass sie den Schwesterntratsch furchtbar vermisste und sich ein paar gemeinsame Nächte wünschte, wie sie sie zu Weihnachten immer gehabt hatten, doch jetzt fragte sich Rosie, ob hinter dieser Bitte nicht mehr steckte als das Bedürfnis nach schwesterlicher Verbundenheit.

Sie hatte versucht, sie anzurufen, doch ihre Schwester war nicht ans Telefon gegangen.

Dan schien ganz entspannt mit der Sache. »Das wird bestimmt ein Riesenspaß, und ihre Bitte ist mehr als verständlich. Schließlich hat sie dich seit Ewigkeiten nicht gesehen. Sie will mit ihrer kleinen Schwester quatschen.«

Rosie hoffte, dass es nur das war.

Fast hätte sie es ihm erzählt. Fast hätte sie ihm erzählt, was Katie gesagt und wie sie Zweifel in ihr gesät hatte.

Aber wie konnte sie das tun? Sie wusste nicht einmal, ob diese Zweifel real waren. Sie wusste nicht, was sie wollte. Es gab so viel, worüber sie mit ihm sprechen konnte, aber nicht darüber.

»Ich hoffe, du magst sie.« Ich hoffe, meine Schwester unterzieht dich keinem Verhör. Und was, wenn sie es doch tat? Was, wenn Dan entschied, dass ihm das alles zu viel war? Rosie lehnte den Kopf gegen seine Brust und fühlte sich trotz seiner Körperwärme allein. Es war, als wäre irgendwie eine Hürde zwischen ihnen aufgetaucht. Was sie von Anfang an an ihm gemocht hatte, war die Tatsache, dass man so gut mit ihm reden konnte. Doch in diesem Moment fand sie keinen Weg, ihm zu sagen, was gesagt werden musste. Sie spürte, wie er ihr übers Haar strich.

»Du hast so viel von ihr erzählt, dass ich fast das Gefühl habe, sie zu kennen.«

Ein paar Dinge hatte sie ausgelassen. Etwa den Umstand, dass ihre Schwester keineswegs begeistert schien von der Hochzeit. »Das waren ein paar echt verrückte Wochen.«

Er hob ihr Gesicht an. »Mom war nicht zu überschwänglich?«

»Überhaupt nicht. Sie ist so ein netter Mensch und so großzügig. Ich liebe sie.« Das entsprach der Wahrheit, auch wenn es ebenfalls der Wahrheit entsprach, dass Catherines Erwartungen an die Hochzeit den Druck erhöhten.

»Und sie liebt dich.« Er lächelte, als er sie küsste. »Sie sagte mir, wenn sie eine Tochter hätte auswählen können, hätte sie dich gewählt.«

Und … noch mehr Druck.

Ach, das war lächerlich. Sie musste ihm von dem Gespräch mit Katie erzählen. Aber dann wäre er vielleicht sauer auf Katie, und das könnte sie nicht ertragen. Sie wollte ihre Hochzeit nicht mit Familienanimositäten beginnen.

»Erzähl mir etwas, das ich nicht über dich weiß.«

»Du meinst ein wirklich tiefes, dunkles Geheimnis?«

Sie schluckte. »Ja.«

»Etwas, das niemand sonst auf der Welt über mich weiß, nicht einmal Jordan?«

»Ja.«

»Bist du sicher? Denn ich habe da ein paar Leichen im Keller.«

Ihr Herz schlug höher. Vielleicht hatte Katie recht. Vielleicht gab es wichtige Dinge, die sie nicht voneinander wussten.

»Erzähl es mir. Du kannst mir alles sagen.« Und sie sollte in der Lage sein, ihm alles zu erzählen, oder? Wenn er sein großes Geständnis – was auch immer es war – abgelegt hatte, würde sie ihm geradeheraus von ihren Zweifeln erzählen. Keiner von ihnen würde etwas verbergen.

»Es ist ziemlich schockierend.«

»Mach schon.«

Er atmete tief ein. »Als ich sieben war, fand ich meine Weihnachtsgeschenke unter dem Bett meiner Eltern und habe sie alle geöffnet.«

Ihre Anspannung wich Erleichterung. »Das ist alles? Ach du …« Sie schlug ihm auf die Brust, und er grinste.

»Ich sagte doch, es ist schockierend.«

»Ich meine es ernst.«

»Das war ernst. Ich bekam zwei Wochen Hausarrest. Und nein, ich kriegte in jenem Jahr keine anderen Geschenke. Damals begriff ich, dass es den Weihnachtsmann nicht wirklich gibt, obwohl ich mich kurz fragte, ob er vielleicht verfrüht gekommen war und meine Geschenke unter das Bett gestopft hatte.«

»Das ist dein tiefes, dunkles Geheimnis?«

»Ja.« Er senkte den Kopf und küsste sie flüchtig. »Ich habe keine tiefen, dunklen Geheimnisse, Rosie. Ich bin eher unkompliziert.«

»Ich weiß, und das liebe ich an dir.« Noch immer schlug ihr das Herz gegen die Rippen. Sie hatte sich gewappnet, etwas Schreckliches zu hören, und hätte wissen sollen, dass es nur ein Witz war. Er zog sie gern auf, und meistens mochte sie seine spezielle Art, sie auf den Arm zu nehmen. »Hier ist etwas, das du nicht über mich weißt – ich bin allergisch gegen Hunde. Gegen Katzen auch.«

Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. »Ernsthaft?«

»Ernsthaft. Meinen schlimmsten Asthma-Anfall hatte ich bei einer Freundin, die einen Hund besaß. Was bedeutet, dass ich niemals ein Haustier haben kann.«

»Verdammt.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Dann sind wir erledigt. Es ist vorbei. Ruf Mom an, und sag die Hochzeit ab.«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Bist du …« Sie schluckte. »Meinst du das ernst?«

»Nein, natürlich meine ich das nicht ernst. Das solltest du wissen.« Seine Miene schwankte zwischen amüsiert und verzweifelt. »Was ist heute bloß los mit dir?«

»Ich weiß nicht. Ich nehme an, ich habe Angst, dass du deine Meinung ändern könntest.«

»Ich liebe dich, Rosie. Dich. Alles an dir. Nein, ich wusste nicht, dass du allergisch gegen Tiere bist, aber das ist egal. Wir werden damit klarkommen. Mag ich Hunde? Sicher. Aber dich mag ich mehr. Wenn die Hochzeit mit dir bedeutet, mir meine pelzige Tierdröhnung außerhalb des Hauses zu besorgen, dann werde ich das eben tun.«

Bei ihm klang immer alles so einfach.

»Das ist …« Sie schluckte. »Gut. Denn ich dachte, wenn du dir vielleicht schon immer ein Zuhause mit einem Haustier gewünscht hast, dann …«

»Ich kann ohne Haustier leben, Rosie.«

»Richtig. Du … du siehst keine Hindernisse, oder?«

Er runzelte die Stirn. »Das war kein Hindernis.«

»Für manche Menschen könnte es das sein, aber das meine ich ja – du siehst sie gar nicht.« Und das liebte sie an ihm. »Ich dachte, es könnte Dinge geben, die wir nicht voneinander wissen, das ist alles.«

»Ich bin sicher, dass es die gibt. Aber nicht, weil wir Geheimnisse voreinander haben. Nicht weil wir etwas Dunkles verbergen müssen. Diese kleinen Dinge zu entdecken wird das Zusammenleben noch interessanter und schöner machen.«

Er war so sicher in allem. So voller Selbstvertrauen.

Jetzt fühlte sie sich ein bisschen besser.

Er senkte den Kopf, und seine Lippen streiften ihre, neckend, verführerisch – eine Erinnerung an das, was sie die Nächte zuvor geteilt hatten.

Sie spürte Begehren in sich aufsteigen und schlang die Arme um seinen Hals. Die Geräusche des Flughafens rückten in den Hintergrund, und ihre Welt bestand nur noch aus Dan, seinem Mund, der plötzlichen Hitze, als er sie fest an sich zog. In ihrem Kopf drehte sich alles.

Als er sie schließlich losließ, hielt sie sich an seiner Schulter fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Jemand, der an ihnen vorbeiging, murmelte: »Nehmt euch ein Zimmer!«, und Dan grinste.

»Das ist keine schlechte Idee. Wie wär’s, wenn wir in einem Flughafenhotel einchecken und ich dir beweise, wie sehr ich dich liebe? Deinen Eltern erzählen wir, wir wären im Schnee stecken geblieben.«

Auch wenn das ein alberner Einfall war, fühlte sie sich fast versucht. Sie war noch immer wackelig auf den Beinen, und ihr Körper pochte vor Erregung. Die Chemie zwischen ihnen war unglaublich. Wenn sie nackt miteinander im Bett lagen, hatte sie nie irgendeinen Zweifel.

»Dan, ich frage mich …« Sag es, Rosie, sag es! »Ich frage mich, ob wir das Ganze vielleicht ruhiger hätten angehen sollen, das ist alles. Es geht alles so schnell, und das erzeugt eine Menge Druck.«

»Du bist so fürsorglich, aber mach dir keine Sorgen deswegen. Mom ist eine erstklassige Last-Minute-Organisatorin. Bislang hat sie noch jede Krise gemeistert. Ehrlich gesagt blüht sie in Krisen richtig auf. Alles wird gut. Die Hochzeit gibt ihr etwas zu tun. Seit Dads Tod habe ich sie nicht mehr so glücklich gesehen.«

Und noch mehr Druck.

Alles, was er sagte, machte es ihr noch schwerer, ihm ihr Herz auszuschütten.

»Dan …«

»Warte – sind sie das?« Dan blickte über ihre Schulter hinweg, und sie drehte sich um, um das Menschengedränge zu scannen.

Menschen aller Altersstufen kamen an, um mit ihren Liebsten die Feiertage zu verbringen.

Rosie entdeckte eine Familie, die einen widerspenstigen Knirps beschwichtigte, und eine erschöpfte Mutter, die ihr Baby beruhigte.

Ihre Eltern sah sie nicht.

»Das sind sie nicht.«

»Du hast recht, sie brauchen echt lange.« Angesichts des abnehmenden Menschenstroms runzelte Dan die Stirn. »Dein Vater hätte angerufen, wenn es ein Problem gäbe, oder?«

»Ich hoffe.« Außer er hatte vergessen, sein Handy aufzuladen – eine seiner Angewohnheiten, die alle verrückt machte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den nächsten Schwung Menschen zu mustern, der durch die Tür kam.

Doch ihre Eltern waren wieder nicht dabei.

Sie wollte ihnen gerade eine Nachricht schreiben, als sie den Kopf ihres Vaters in der Menge entdeckte.

»Da ist er! Er ist der mit dem zerzausten Haar und der Brille.« Sie winkte, erleichtert, ihn entdeckt zu haben.

»Ja, ich sehe ihn. Und ist das da deine Mom? Glaubst du, es geht ihr gut? Sie sieht ein bisschen … unsicher auf den Beinen aus. Oh.« Dan lachte überrascht auf. »Ich schätze, es geht ihr gut. Sie hat deinen Dad wirklich gern, oder? Küssen sie sich immer so in der Öffentlichkeit? Das ist wirklich süß. Vielleicht hätten wir doch dieses Zimmer nehmen sollen. Sie könnten es nutzen.« Weil er größer war als sie, hatte er den besseren Ausblick, doch als die Menschen vor ihr zur Seite traten, sah auch sie ihre Eltern in einer leidenschaftlichen Umarmung.

Rosie war fassungslos. Was, zum …?

»Normalerweise sind sie nicht so. Ich meine, sie führen eine großartige Ehe, da sie ja schon ewig zusammen sind, doch normalerweise stellen sie das nicht so zur Schau.« Sie war zutiefst beschämt, während Dan neben ihr sich vor Lachen schüttelte.

»Ich finde es cool und verspreche dir, dass ich dich auch noch so küssen werde, wenn wir dreißig Jahre zusammen sind. Vielleicht ist deine Mom einfach froh, nach dem Flug noch am Leben zu sein. Nichts macht einen so dankbar wie eine Nahtoderfahrung, oder?«

»Vermutlich.« Als sie sich gesorgt hatte, dass ihre Familie sie blamieren könnte, hatte sie nicht an ein solches Szenario gedacht.

Sie sah, wie ihr Dad die Arme ihrer Mutter von seinem Hals löste.

Noch immer waren sie zu weit weg, als dass man sie hätte hören können, doch sie sah, wie ihre Mutter ihre Kleidung glattstrich und sich bei ihrem Mann unterhakte.

Die Geste schien eher aus der Not als aus der Zuneigung geboren zu sein. Als sie genau hinsah, hatte Rosie den Eindruck, dass sich ihre Mutter bei ihrem Vater anlehnte.

War sie krank oder so etwas?

Besorgt ließ sie Dans Hand los, lief zu ihren Eltern und umarmte sie. Erst ihre Mutter, dann ihren Vater. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Wie war euer Flug?«

»Der war okay«, sagte ihre Mutter. »Die billigen Plätze waren alle ausgebucht, also hat dein Vater uns Sitze in der Business Class spendiert. Wir konnten Händchen halten und Filme gucken. Es war, als würden wir wieder daten. Wir haben dabei erkannt, wie sehr wir uns noch lieben.«

Rosie erstarrte. War das wirklich ihre Mutter? Ihre vernünftige, praktische, zuverlässige Mutter? »Ähm, Mum …«

»Was, Liebes? Ich liebe deinen Vater, das ist alles. Ich möchte, dass du das weißt. Wir sind so glücklich zusammen. Glücklich, glücklich, glücklich. Alles ist wunderbar, du musst dir um nichts Sorgen machen. Habe ich schon erwähnt, wie glücklich wir sind?«

Was sollte nicht wunderbar sein? Worum sollte sie sich keine Sorgen machen?

Wenn jemand einem sagte, man solle sich keine Sorgen machen, bedeutete das meistens, dass es etwas gab, worum man sich Sorgen machen sollte.

Angestrengt suchte sie in der Miene ihres Vaters nach einem Hinweis, aber er lächelte nur müde.

»Es war ein langer Flug, und du weißt, dass Fliegen nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen deiner Mutter gehört.«

»Oh, aber es hat Spaß gemacht, und nach den ersten Gläsern Champagner war ich überhaupt nicht mehr nervös!« Ihre Mutter klang vergnügt. »Dieser nette Mann hat mir immer nachgeschenkt …«

»Netter Mann?«

»Einer vom Kabinenpersonal. Und dein Dad hat ganz unerhört mit mir geflirtet. Ich musste so sehr lachen, dass ich nicht mal bemerkt habe, dass wir schon in der Luft sind, bevor das Anschnallzeichen ausging.«

Rosie hatte ihren Vater schon erlebt, wie er das Publikum bei einer Vorlesung in seinen Bann zog, wie er in lebhaften Diskussionen beim Essen intellektuelle Snobs zerlegte, doch sie hatte ihn nie beim Flirten erlebt.

Dass sie sich das auch nicht vorstellen konnte, war für sie okay.

Sie bewunderte die intakte Beziehung ihrer Eltern und war dankbar dafür, doch das bedeutete nicht, dass sie sich mit den Einzelheiten beschäftigen wollte.

»Ich bin froh, dass der Flug erträglich war.«

»Er war mehr als erträglich. Es war, als würden wir in unsere Flitterwochen fahren. Wenn es ein Nachtflug gewesen wäre, hätten wir vielleicht sogar …«

»Mum!« War ihre Mutter betrunken?

Ihr Vater tätschelte ihr die Schulter. »Tut mir leid, dass wir dich haben warten lassen, Rosie. Wir sind die Letzten, die ankommen, weil sie den Koffer deiner Mutter verloren haben – mitsamt ihren Outfits für die Hochzeit.«

»Oh nein, das ist furchtbar.« War das ein Omen? Nein, natürlich war das kein Omen. Andererseits musste sie, wenn sie an gute Omen glaubte, auch an böse glauben. Hör auf, Rosie! »Und was machen wir jetzt?«

»Uns wurde gesagt, wir sollten zu unserer Unterkunft fahren und darauf warten, dass der Koffer nachgeliefert wird.«

»Und wann wird das sein?«

»Das wissen sie nicht. Hoffentlich bald.«

»Ich mache mir mehr Sorgen wegen der Geschenke, die ich eingepackt habe. Es waren nur Kleinigkeiten, aber ich habe sie sorgfältig ausgewählt. Wir brauchen keine Kleider.« Unbesorgt lehnte ihre Mutter den Kopf an seine Schulter. »Es wird wie an unserem ersten gemeinsamen Weihnachten. Erinnerst du dich? Es schneite, und wir haben das Bett nicht verlassen. Wir konnten uns die Heizkosten nicht leisten und verließen uns deshalb auf unsere Körperwärme. Wir haben uns tagelang nicht angezogen.«

Am liebsten hätte Rosie ihrer Mutter den Mund zugehalten. »So genau wollten wir das gar nicht wissen, Mum.« Hatte keiner von beiden Dan bemerkt, der hinter ihr stand? Wie viel hatte er gehört?

Es war ein Albtraum. Da stellte sie ihrem Verlobten zum ersten Mal ihre Eltern vor, und ihre Mutter war nicht sie selbst.

Auch ihr Vater schien völlig verändert. Normalerweise war er der entspannteste Mensch, den sie kannte, doch heute wirkte er gestresst. Vielleicht war das angesichts des stressigen Fluges mit ihrer Mutter aber auch nicht überraschend.

»Ich möchte euch Dan vorstellen.« Wohl kaum der beste Zeitpunkt, doch welche Wahl hatte sie schon? Sie nahm ihn beim Arm und zog ihn nach vorn.

»Schön, euch endlich persönlich kennenzulernen.« Dan trat auf sie zu – lächelnd, mit ausgestreckter Hand und beneidenswert ungezwungen. Er hatte gesagt, das läge daran, dass er Einzelkind war und außerhalb der Familie nach Spielkameraden hatte suchen müssen, doch sie vermutete, dass es Teil seiner Persönlichkeit war.

Er schüttelte erst ihrer Mutter, dann ihrem Vater die Hand und war dabei so warmherzig und gastfreundlich, dass Rosie sich ein bisschen entspannte.

Vielleicht hatte er nicht bemerkt, dass ihre Mutter während des Fluges offenbar ein bisschen zu viel getrunken hatte.

Doch da ließ ihre Mutter den Arm ihres Vaters los und taumelte auf ihn zu.

»Oh Rosie, er ist umwerfend. Kein Wunder, dass du ihn rasch heiraten willst.« Sie umschloss Dans Oberarm und drückte zu. »So stark. Attraktiv. Und diese Augen und dieses Lächeln.«

»Mum, bitte …«

Leider war ihre Mutter noch nicht fertig. »Offenbar trainierst du, Dan.«

Lass mich auf der Stelle sterben. »Dan ist Personal Trainer. So haben wir uns kennengelernt, erinnerst du dich? Ich wollte keine Coach-Potato mehr sein und bin ins Fitnessstudio gegangen. Ich bin sicher, dass ich dir das erzählt habe.«

Warum hatte sie sich eigentlich um die Zukunft ihrer Beziehung gesorgt? Nach diesem Vorfall hatte ihre Beziehung vermutlich keine Zukunft mehr. Sie sollte den Ring gleich zurückgeben und Dan den Ärger ersparen, darum zu bitten.

Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und war erleichtert, als er ihr zuzwinkerte.

Dass er sich bemühen musste, sein Lachen zurückzuhalten, führte dazu, dass sie sich ein bisschen besser fühlte. Irgendwie gelang es ihm immer, Situationen, die sie stressten, mit Humor zu sehen.

Sie liebte ihn. Sie liebte ihn wirklich.

Und sie war so dankbar, dass sie sich ein schwaches Lächeln abrang. »Ich glaube, meine Mutter mag dich.«

»Was allemal eine gute Neuigkeit ist, da ich bald zu eurer Familie gehöre. Es war eine lange Reise für deine Eltern«, sagte er ruhig. »Lass sie uns nach Hause bringen.«

Seine Freundlichkeit war eine weitere Sache, die sie an ihm liebte. Katie hatte recht, dass die meisten von Rosies Exfreunden sie gleichgültig behandelt hatten. Dan war immer rücksichtsvoll.

Ach, was war nur los mit ihr? Sie sollte vor Freude tanzen, dass sie ihn heiratete. Und sie sollte erleichtert sein, dass sie es so bald taten, bevor er entdeckte, was für eine sprunghafte Person sie war.

Er plauderte bereits ungezwungen mit ihren Eltern. »Das Wetter kann um diese Jahreszeit ziemlich wechselhaft sein, insofern sind wir froh, dass wir heute einen strahlend blauen Himmel haben. Und macht euch keine Sorgen wegen des Gepäcks. Ich bin sicher, dass meine Mutter mit Kleidung aushelfen kann.«

»Das bezweifle ich«, sagte Maggie. »Außer sie hat irgendwann mal eine wirklich dicke Phase gehabt. Hat sie ihre Schwangerschaftskleidung aufbewahrt?«

»Mum! Du bist nicht fett, und du brauchst keine Schwangerschaftskleidung.« Seit wann war ihre Mutter so unsicher? Sie war nie eine dieser Frauen gewesen, die ständig mit ihrem Aussehen beschäftigt waren. Sie achtete auf sich und machte gern das Beste aus sich, aber weiter ging ihr Interesse nicht. »Ich glaube, wir sollten uns auf den Weg machen, damit es während der Fahrt noch hell ist.«

Dan schien einverstanden, denn er griff nach dem nicht verlorengegangenen Gepäck, und sie gingen alle zum Wagen.

»Möchtest du vorn bei Dan sitzen, Dad?« Zumindest konnte sie auf diese Weise hinten ihre Mutter zum Schweigen bringen, wenn es notwendig war. Rosie öffnete die Beifahrertür für ihren Vater, doch ihre Mutter griff nach seiner Hand.

»Dies ist seit langer Zeit unsere erste gemeinsame Reise. Wir wollen nebeneinandersitzen, nicht wahr, Nick?«

Rosie sah, wie ihr Vater zögerte.

»Vielleicht ist das die beste Idee.« Er tätschelte Rosies Schulter und schob sie auf den Beifahrersitz neben Dan. »Mach dir keine Sorgen, sie kommt in Ordnung. Meine Schuld. Ich hätte ihr das Glas wegnehmen sollen, aber ich war so erleichtert, dass sie nicht vor Angst gekreischt hat, dass ich sie einfach weitermachen ließ.«

Rosie ließ sich auf dem Sitz nieder und betete, dass die Fahrt rasch vorüberging. Der Gedanke an vier Stunden in einem Wagen mit ihrer betrunkenen Mutter löste keine Begeisterung in ihr aus. Mit Glück würde sie einschlafen und völlig nüchtern wieder aufwachen.

Catherine hatte sie eingeladen, sie später am Abend in der Lodge zu einem Familiendinner zu treffen, doch Rosie hatte vor, dieses Ereignis zu verschieben.

Sie würde den Roomservice für ihre Eltern bestellen und Dans Mutter erzählen, dass sie Jetlag hatten und unter den Nachwirkungen des Fluges litten. Das stimmte sogar, wenn man eine Alkoholvergiftung als eine Nachwirkung des Fluges betrachtete.

Und wenn sie früh ins Bett ging, würde ihre Mutter am nächsten Morgen hoffentlich völlig erholt sein.

Natürlich gab es da noch das Problem des verlorenen Koffers, doch darum würde Rosie sich am nächsten Tag kümmern.

»Lebt ihr schon lange in der Gegend, Dan?«, steuerte ihr Vater das Gespräch auf sicheres Terrain.

»Ich bin in Boston aufgewachsen, aber meine Eltern kamen zum Skifahren her, als sie frisch verheiratet waren, verliebten sich in den Ort, und das war’s. Mein Dad kaufte eine Parzelle Land, bevor es unerschwinglich wurde, und der Rest ist Geschichte. Als er starb, baute meine Mutter ihr Hochzeitsgeschäft auf.« Dan blickte in den Rückspiegel. »Und ihr lebt in Oxford?! So viel Geschichte direkt vor eurer Haustür. Ich wollte dort immer mal hin.«

»Ein wunderbarer Ort«, sagte Maggie glücklich. »Wir wohnen in einem hübschen Cottage mit Rosen und Geißblattbüschen vor der Tür.«

Dan lächelte. »Klingt romantisch.«

»Das ist es. Und du musst keine Angst haben, dass du es nicht zu sehen bekommst, weil ich es nicht verkaufen werde. Ich habe mich entschieden. Ich weiß, dass es zu groß für eine Person ist, aber ich liebe es zu sehr, um jemals fortzuziehen.«

Zu groß für eine Person? Rosie runzelte die Stirn. Wovon sprach ihre Mutter da?

»Ihr wohnt zu zweit dort«, sagte sie geduldig. »Du und Dad. Das sind zwei, nicht einer.«

»Oh ja. Die Sache ist die, dass ich uns als eins sehe. Nicht wahr, Nick? Nach so vielen gemeinsamen Jahren sind wir praktisch zu ein und derselben Person verschmolzen.«

Ihre Mutter stand völlig neben sich.

Dan ergriff Rosies Hand und drückte sie, dann blickte er in den Spiegel zu ihrer Mutter. »Das ist euer Zuhause. Meiner Familie geht es mit der Snowfall Lodge genauso. Meine Mom sagt immer, dass man sie irgendwann von dort forttragen muss. Ich glaube, wenn man irgendwo lange wohnt, wird dieser Ort Teil von einem selbst. Also verstehe ich nur zu gut, dass ihr euer Zuhause nicht verkaufen wollt.«

Für Rosie ergab es keinerlei Sinn, weil sich die Frage, Honeysuckle Cottage zu verkaufen, niemals gestellt hatte.

Ihre Eltern liebten das Haus. Es war das einzige Zuhause, das Rosie jemals gekannt hatte. Von einem Verkauf war niemals die Rede gewesen.

»Aspen war ursprünglich eine Bergbaustadt, doch dann brach der Silbermarkt zusammen.« Dan fädelte sich in den Verkehr ein, der vom Flughafen wegführte. »Glücklicherweise entwickelte sich Skifahren zum Trend, und von da an blühte die Stadt auf. Die Lage ist großartig. Wir sind in der Nähe des Roaring Fork River, haben den Red Mountain im Norden, den Smuggler Mountain im Osten und den Aspen Mountain im Süden.«

»Roaring Fork River«, murmelte Maggie. »Das klingt romantisch. Wir haben die Themse und den Cherwell.«

»Er ist ein Nebenfluss des Colorado River. Ihr solltet im Sommer noch mal herkommen.« Der Verkehr ließ nach, und Dan drückte aufs Gas. »Die Fahrt über den Independence Pass ist beeindruckend.«

»Jetzt können wir die Strecke nicht nehmen?«

»Nein, im Winter ist sie gesperrt. Wir sind gezwungen, den langen Weg zu fahren.«

Rosie blickte über die Schulter nach hinten. »Es hat gestern geschneit. Es ist so schön. Ich kann kaum erwarten, es euch zu zeigen, auch wenn es natürlich schon dunkel sein wird, wenn wir ankommen, sodass ihr es erst morgen richtig sehen könnt.«

Dan stellte die Heizung an. »Bislang haben wir überdurchschnittlich viel Schnee in dieser Saison. Und Rosie hat recht – der Ort ist ein Winterwunderland. In der Snowfall Lodge herrscht Hochbetrieb. Wir sind bis März ausgebucht. Ich freue mich für meine Mutter. Seit dem Tod meines Vaters hat sie viel Energie dort reingesteckt.«

»Dann ist die Lodge ein Hotel?«

»Im Prinzip ja, aber nicht eines dieser sterilen, unpersönlichen Häuser, wo einen niemand kennt und sich niemand um einen kümmert. Unsere Gäste gehören meist zu einer etwas anspruchsvolleren Klientel, und wir sind stolz auf unseren persönlichen Service. Meine Mutter hat sich lange um alles gekümmert, doch als das Geschäft mit den Hochzeitsplanungen immer besser lief, hat sie einen Manager eingestellt. Jeder Gast hat eine eigene Akte. Wenn jemand eine Allergie gegen Federn hat oder kein Fleisch isst, wird das sofort in seiner Akte vermerkt, damit beim nächsten Aufenthalt alles genau so ist, wie er es mag. Und für die Gäste, die sich zurückziehen möchten, haben wir unsere Baumhäuser. Sie sind oben in den Baumkronen gebaut und bieten die einzigartige Möglichkeit, tief im Wald zu wohnen. Die Aussicht ist unglaublich. Ihr werdet in einem dieser Häuser wohnen. Meine Mutter hat darauf bestanden.«

»Ein Baumhaus?« Maggie runzelte die Stirn. »Und die sind tatsächlich oben in den Baumkronen gebaut?«

»Auf Stelzen«, erwiderte Dan. »Keine Panik. Sie sind eher elegant als rustikal und haben diverse Architektur- und Umweltpreise gewonnen. Es wird euch gefallen, dort zu wohnen. Die Baumhäuser sind aus Holz, damit sie sich in den Wald einfügen, und manchmal kommen die Wildtiere der Gegend vorbei. Bei Flitterwöchnern sind sie immer sehr beliebt. Wo sonst kann man unterm Sternenhimmel Champagner im Whirlpool trinken? Es sollte perfekt für euch sein.«

Rosie sank in ihrem Sitz zusammen. Sie wollte sich ihre Eltern nicht als Flitterwöchner vorstellen.

Besorgt, dass ihre Mutter versucht sein könnte, wieder witzige Bemerkungen über Nacktheit zu machen, schaltete Rosie sich in das Gespräch ein. »Wie geht’s Katie? Ich habe in den letzten Wochen kaum von ihr gehört.« Nach jenem Telefongespräch hatten sie nur noch ein paar Mails gewechselt wegen praktischer Dinge wie ihrem Kleid und dem Flug. Verunsichert von ihrem letzten Gespräch, hatte Rosie sich gescheut, ihre Schwester noch einmal anzurufen, und Katie hatte sich ebenfalls nicht gemeldet.

»Du kennst deine Schwester«, sagte ihr Vater. »Sie ist damit beschäftigt, Leben zu retten.«

»Hoffen wir, dass es nur das ist.« Maggie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Wenn du mich fragst, hat sie was. Immer wenn ich einen gemeinsamen Lunch vorschlage, findet sie Ausflüchte. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Normalerweise ergreift sie jede Gelegenheit, zum Essen eingeladen zu werden. Sie geht mir aus dem Weg.«

Rosie spürte ein gewisses Unbehagen. Sie hatte wegen ihrer Schwester das gleiche Gefühl, hatte aber angenommen, es läge daran, dass sie sie verärgert hatte. Sie und Katie hatten natürlich manchmal Unstimmigkeiten, wie das unter Schwestern nun einmal vorkam, doch es war nie etwas Ernstes oder Längerfristiges. Ihre Streitigkeiten waren nie mehr als schwesterliche Scharmützel über Kleinigkeiten.

Du bist dran mit Kücheputzen.

Hast du dir meine Schuhe geliehen?

Doch dieses Mal fühlte es sich anders an. Als ob Katie sie auf Distanz hielt.

»Vermutlich hat sie viel zu tun.« Das hatte sie sich selbst eingeredet und hoffte, dass sie recht hatte.

»Es ist schade, dass ihr nicht alle gemeinsam herfliegen konntet, aber diese Weihnachtsflüge sind immer ein Albtraum. Zum einen sind da die Touristen, und zudem will jeder zu den Feiertagen zu Hause sein.«

»Die Familie ist zu dieser Jahreszeit besonders wichtig. Ich liebe dich«, sagte Maggie zu Nick. »Habe ich dir heute schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?«

»Viele Male«, erwiderte Nick trocken, und Rosie schloss die Augen.

Sie hatte ihre Mutter noch nie so extrovertiert erlebt. Normalerweise waren es leichte Berührungen oder ein stillschweigendes Zusammengehörigkeitsgefühl, die verrieten, dass sie ein Paar waren. Heute allerdings führte sich ihre Mutter auf, als sei dies ihr letzter Tag auf Erden und sie sei entschlossen, das Beste daraus zu machen. Es musste am Alkohol liegen, doch selbst das war merkwürdig, denn ihre Mutter hatte noch nie viel getrunken, nicht einmal zu Weihnachten.

Sie würde ihre Mutter nie wieder zu einem Flug überreden, wenn das dabei herauskam.

»Wie wäre es mit etwas Musik?«

Sie bemerkte, dass Dan sich das Lachen verbiss. »Das hier ist nicht annähernd so peinlich wie dein erstes Zusammentreffen mit meiner Tante Elizabeth«, murmelte er halblaut. »Erinnerst du dich?«

Die gemeinsame Erinnerung ließ sie lächeln, doch erst als sie nach hinten blickte und sah, dass ihre Mutter an der Schulter ihres Vaters eingeschlafen war, gestattete sie sich, sich ein wenig zu entspannen.

Je mehr sie sich Aspen näherten, desto spektakulärer wurde die Landschaft. Der Himmel war von einem arktischen Blau, und die Wintersonne tauchte die schneebedeckten Berggipfel in weiches, schimmerndes Licht.

Als jemand, der die längste Zeit seines Lebens in einem kleinen englischen Dorf verbracht hatte, wo ein paar Schneeflocken die Kinder in Aufregung versetzten und für die Erwachsenen ein lächerliches Ausmaß an Störung bedeuteten, verzückten sie die Berge immer wieder. Schnee an Weihnachten sprach ihre romantische Seite an.

Schon fühlte sie sich besser und streckte die Beine aus. »Gewöhnst du dich jemals an diesen Anblick?«

Dan schüttelte den Kopf. »Nie.«

»Es ist schön.« Ihre Mutter erwachte, erschöpft und angeregt zugleich. »Nick, sieh nur.«

»Ja, ich sehe es.«

»Jetzt, da der Flug hinter mir liegt, freue ich mich. Es ist wunderbar, hier zu sein, oder? Wir waren Weihnachten noch nie weg. Und wir werden in einem Baumhaus wohnen, nur wir beide. Das sind wirklich unsere zweiten Flitterwochen.« Es entstand eine Pause, und dann war ein Rascheln zu hören, als ihre Mutter näher an Rosies Vater heranrückte. »Du bist immer noch attraktiv, Nick. Habe ich dir das schon gesagt?«

Rosie wünschte, ihre Mutter würde wieder einschlafen. Unglücklicherweise schien das kurze Nickerchen sie belebt zu haben, sodass sie unaufhörlich drauflosplapperte.

»Ich habe noch nie so hohe Berge gesehen. Und der Schnee auf dem Feld sieht so glatt und perfekt aus, dass er mich an meinen Weihnachtskuchen erinnert.«

Nostalgie erfasste Rosie. Dieses Jahr würde sie keinen Weihnachtskuchen ihrer Mutter essen. Und was war nächstes Jahr? Sie wusste es nicht. Das gehörte zu den Einzelheiten, die sie und Dan noch herausfinden mussten. Dies und noch viele andere.

Sie sah aus dem Fenster, als Dan die scharfe Kurve zu der breiten, baumgesäumten Zufahrt nahm, die zur Snowfall Lodge führte. Leichte Schneeverwehungen säumten den Straßenrand.

»Rosie erzählte mir, dass du in einem Wissenschaftsverlag arbeitest, Maggie.« Dan fuhr langsamer. »Das muss interessant sein. Macht es dir Spaß?«

»Nein. Um ehrlich zu sein, finde ich es äußerst langweilig«, erklärte ihre Mutter. »Ich arbeite in einem ruhigen Büro mit ruhigen Menschen und mache die gleiche ruhige Sache, die ich schon immer gemacht habe. Ich hasse es.«

Stille machte sich breit.

Rosie drehte sich um und sah, wie ihr Vater die Stirn runzelte. Er schien ebenso überrascht wie sie.

Selbst Dan, der ein Konversationsexperte war, schien Schwierigkeiten zu haben, eine passende Antwort zu finden.

Rosie hatte das Gefühl, als ob ihre Welt ein bisschen aus den Fugen geriete. »Du hasst deinen Job, Mum? Wirklich?«

»Warum ist das so überraschend? Nicht jeder hat so viel Glück, einer Arbeit nachzugehen, die der eigenen Leidenschaft entspricht. Manchmal landet man irgendwo, und ehe man sich’s versieht, ist man zwanzig Jahre später immer noch da.«

»Ich … ich dachte, du liebst deine Arbeit.«

»Sie war völlig okay. In vielerlei Hinsicht ideal, weil sie so flexibel waren, mich von zu Hause aus arbeiten zu lassen, wenn du krank warst, und das war wichtig. Es war eine pragmatische Entscheidung. Ich bin nicht die einzige Frau auf der Welt, die eine pragmatische Entscheidung getroffen hat.«

Die pragmatische Entscheidung klang deprimierend reizlos.

Rosie verspürte Schuldgefühle.

War das ihre Schuld? Sie wusste, dass ihre ständigen Notfalltransporte zum Krankenhaus die ganze Familie unter Druck gesetzt hatten, doch sie war nie auf die Idee gekommen, dass ihre Mutter an ihrem Job festgehalten hatte, weil er es einfacher machte, sich um ein krankes Kind zu kümmern.

»Warum hast du das nicht früher gesagt?«

»Ich glaube nicht, dass jemals jemand danach gefragt hat. Dan ist der Erste. Seine emotionale Intelligenz ist offenbar genauso gut entwickelt wie seine Muskeln.«

Natürlich hatten sie nach ihrer Arbeit gefragt. Als sie noch zu Hause gewohnt hatte, hatte Rosie jahrelang gefragt: Wie war dein Tag?

Doch was hatte ihre Mutter geantwortet? Sie konnte sich nicht erinnern.

Sie war sicher, niemals von ihr gehört zu haben, dass sie ihren Job hasste. Doch vielleicht hatte es subtile Hinweise gegeben, die ihr entgangen waren. Vielleicht hatte sie eine höfliche Antwort gehört und sie nicht als solche erkannt. Sie hatte nicht näher nachgefragt, was daran lag, dass ihr niemals der Gedanke gekommen war, dass ihre Mutter ihre Arbeit nicht mochte. Warum auch? Wenn man etwas nicht mochte, sagte man es. Ihre Mutter beschwerte sich nie über etwas. Da es keinen Hinweis auf das Gegenteil gab, hatte Rosie angenommen, dass sie ihr Leben liebte.

In ihrer Kindheit hatten all ihre Freundinnen Rosie um ihre Mutter beneidet. Maggie war immer da, um sie nach der Schule mit Umarmungen und frischem gesunden Essen zu empfangen. Sie hatte ihre Arbeitszeit an jede Krise angepasst, die – meist verursacht durch Rosie – jemals auf die Bewohner von Honeysuckle Cottage eingeprasselt war.

Als Katie wenige Tage vor ihren Abschlussprüfungen an der medizinischen Fakultät eine Erkältung bekommen hatte, hatte ihre Mutter sich freigenommen, um sie mit Medikamenten vollzustopfen, zur Prüfung zu fahren und hinterher wieder abzuholen. Wenn Rosie im Krankenhaus gelegen hatte, hatte sie die Nacht in einem Sessel neben ihrem Bett verbracht, und sie hatte sie bei allen Sportveranstaltungen von der Seitenlinie aus angefeuert.

Rosie begriff, dass sie ihren Vater nie bei so etwas erlebt hatte und dass ihr das bis zu diesem Moment nie aufgefallen war.

Ihren Vater hatte sie immer als eine spannende Figur wahrgenommen. Er war voller Energie, leidenschaftlich und oft schwer fassbar, weil er für Wochen oder sogar Monate aus ihrem Leben entschwand und dann mit exotischen Geschenken und Geschichten von Sandstürmen und bockigen Kamelen wiederkehrte. Da es damals noch keine Handys gegeben hatte, war während seiner Abwesenheit oft nur eine Postkarte gekommen.

Rosie erinnerte sich, wie sie ihre Buchstützen in Form einer Mini-Sphinx bewundert hatte, während ihre Mutter geduldig die Waschmaschine mit Kleidungsstücken fütterte, die mehr Sand zu enthalten schienen als die Wüste.

Die Familie hatte sich auf sein ständiges Kommen und Gehen eingestellt, und ihre Mutter hatte in seiner Abwesenheit alles zusammengehalten und ihn, wenn er wieder da war, begrüßt, als wäre er nie fort gewesen.

Soweit sich Rosie erinnern konnte, hatte es nie Kritik gegeben. Keinen Vorwurf, wenn er seinen Reisepass eingepackt und sie die Lunchboxen für die Mädchen zusammengestellt hatte.

Was musste es sie gekostet haben, so flexibel zu sein?

Kompromisse.

Jede Menge Kompromisse auf Seiten ihrer Mutter und wenige auf Seiten ihres Vaters.

Beschämt begriff Rosie, dass sie ihre Mutter immer nur in ihrer Rolle und nicht als Individuum wahrgenommen hatte. Ihre Mutter war ihr Fels in der Brandung. Der Mensch, an den sie sich wendete, wenn sie ein Problem hatte. Wann hatte sie ihre Mutter gefragt, ob sie glücklich war? Nie. Sie hatte es einfach angenommen. Ihre Mutter war immer für sie da gewesen, hundertprozentig verlässlich, egal, worum es ging. Aber wer war für ihre Mutter da? Die Antwort lautete natürlich: ihr Vater. Nur dass dies, seiner Miene nach zu urteilen, nicht der Fall war. Er sah genauso bestürzt aus, wie sie sich fühlte.

Hatte er je an die Opfer gedacht, die Maggie für sie alle gebracht hatte?

In diesem Moment entschied Rosie, dass sie ihre Mutter nicht mit ihrer aktuellen Krise belasten würde. Sie würde dafür sorgen, dass ihre Mutter entspannte Ferien verbrachte, denn niemand verdiente es mehr als sie.

»Ich bringe euch direkt zum Baumhaus, damit ihr euch einrichten könnt.« Dan hob grüßend die Hand, als sie an ein paar Mitarbeitern vorbeifuhren, die im Resort arbeiteten. »Dann spreche ich mit meiner Mutter, wie wir euch mit Kleidung aushelfen können.«

Er hielt vor dem Baumhaus. »Wir sind da. Der Weg sollte geräumt sein, doch es könnte noch glatt sein, also seid vorsichtig.«

Das Baumhaus befand sich oben in den Kronen und verschmolz mit seiner Umgebung.

»Wir sind tatsächlich mitten im Wald. Das ist wie in einem Märchen. Magisch.« Maggie kletterte aus dem Wagen und hakte sich haltsuchend bei Nick unter. »Riechst du die Bäume?«

»Meine Mutter ist eine begeisterte Gärtnerin. Sie liebt Bäume«, murmelte Rosie und nahm den Mantel ihrer Mutter vom Sitz.

»Und Sterne.« Maggie legte den Kopf in den Nacken. »Sterne liebe ich auch. Siehst du sie, Nick?«

»Ja, ich sehe sie. Bist du in der Lage, diese Stufen hochzugehen, Mags?«

»Warum? Möchtest du mich tragen?«

Dan, der sich ein Lächeln verkniff, holte Nicks Koffer aus dem Wagen. »Wir haben den schönsten Nachthimmel. Als ich klein war, sind mein Vater und ich nachts immer wandern gegangen, um zu fotografieren. Wir liefen durch den Wald und hoch zum See.«

Maggie sah sich um. »Die Luft ist so rein … und die Bäume … Es riecht nach Weihnachten. Ist das Douglas-Tanne?«

»Wir haben hier eine Mischung aus Tannen, Pinien und Espen.«

»Das ist der romantischste Ort, den ich je gesehen habe. Mach dir keine Gedanken wegen der Kleidung für mich. Wir werden hier draußen keine brauchen.«

Rosie steuerte sie in Richtung der Treppe, die hinauf zur Terrasse und zur Eingangstür führte. »In der Hütte gibt es Bademäntel und Toilettenartikel. Macht es euch gemütlich, schlaft euch die Nacht richtig aus, und ich komme morgen früh zu euch rüber und bringe Kleidung mit.«

Dan runzelte die Stirn. »Aber meine Mutter wollte …«

»Lass gut sein, Dan.« Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. »Meine Eltern sind müde. Ich glaube, sie sollten sich ausschlafen …« Und ihren Rausch, fügte sie im Stillen hinzu. »Morgen sind sie dann hoffentlich ausgeruht, um den Tag zu genießen.«

»Danke.« Ihr Vater trat einen Schritt vor und umarmte sie. »Mach dir keine Sorgen um deine Mutter, Rosie. Alles wird gut.«

Warum betonten sie das immer?

Bekam sie da irgendetwas nicht mit?

Sie bat Dan, draußen auf der Terrasse zu warten, nahm den Koffer und half ihrem Vater, ihre Mutter in das Baumhaus zu geleiten.

»Das ist bezaubernd.« Maggie blieb im Eingang stehen. »Nick, ist das nicht bezaubernd?«

»Ja, das ist es.« Er schob sie weiter, damit er die Tür schließen und die bittere Kälte ausschließen konnte.

Rosie liebte die Baumhäuser, vor allem dieses eine. Das Grunddesign war in allen gleich: Wände aus Zedernholz, Holzbalken und deckenhohe Fenster mit einem unglaublichen Ausblick in alle Richtungen. Draußen befanden sich ein kleiner Teich und ein Bach, der oft von Rotwild und Elchen besucht wurde – alles in allem eine herrlich kuschelige Zuflucht.

Als sie das erste Mal zu Besuch gewesen war, hatte Rosie ein paar Nächte im Baumhaus zugebracht, doch jetzt wohnte sie bei Dan in der Wohnung über der Snowfall Lodge, wo die Reynolds wohnten.

Maggie trat auf den Esstisch im hinteren Teil des Raums zu. »Der Leuchter ist aus Geweih! Ist das …« Sie schluckte. »Musste das Tier sterben?«

Ihre Mutter konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ein Tier verletzt wurde.

»Nein, sie werfen sie gegen Ende der Brunftzeit ab. Du kannst also das Licht ohne Gewissensbisse anmachen. Das Badezimmer ist zu eurer Rechten und das Schlafzimmer die Stufen rauf.« Sie führte ihren Vater kurz herum. »Braucht Mum ein Nachthemd?«

Ihr Vater tätschelte ihr die Schulter. »Sie kann eins meiner Hemden tragen. Sie kommt klar.«

»Ich brauche nichts«, rief ihre Mutter aus dem Schlafzimmer. »Nackt ist in Ordnung. Das Bett ist riesig. Welche Größe ist das? Es ist größer als King- oder Queensize – eher wie eine ganze Monarchie.«

Rosie ging in Richtung Tür. »Kommt sie klar mit diesen Stufen?«

»Vermutlich nicht. Ich kümmere mich darum.«

»Ich glaube, sie haben ein Treppengitter, wenn ihr eins braucht.« Sie zögerte. »Dad, ist alles in Ordnung?«

»Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?«

»Ich weiß nicht. Ich …« Sie zuckte die Achseln und war nicht sicher, ob es gut war, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Sie wünschte sich, dass alles nur Einbildung wäre. »Vergiss es. Ich bin sicher, es geht euch gut. Es ist vermutlich die Anstrengung des Fluges, das ist alles. Der Kühlschrank sollte gefüllt sein, wenn ihr also Hunger habt …«

»Wir gehen früh zu Bett und sehen dich dann morgen.«

»In Ordnung.« Sie hörte ihre Mutter ein Lied über eine einsame Pinie trällern und zog sich hastig zurück.

Dan lehnte am Terrassengeländer und schmunzelte amüsiert. »Du erinnerst mich an eine Zoowärterin, die es geschafft hat, ein wildes und gefährliches Tier einzusperren, ohne einen Arm oder ein Bein zu verlieren. Alles in Ordnung dort drinnen?«

»Ja.« Wenn man davon absah, dass ihre Mutter nackt in der Hütte herumlaufen wollte. Und offenbar zutiefst unglücklich war mit ihrem Leben. »Ich glaube, wir sollten gehen. Deine Mutter wartet vermutlich schon, und ich sollte ihr sagen, dass meine Eltern heute Abend nicht mit uns essen.«

»Das hat keine Eile. Ich habe sie schon angerufen. Sie ist völlig einverstanden. Haben deine Eltern alles, was sie brauchen? Warum sollte ich nicht mit reinkommen?«

»Weil eine Frau nur ein gewisses Maß an Peinlichkeit pro Tag aushalten kann, und mein Soll ist bereits erfüllt.«

»Warum ist dir das peinlich?«

»Fragst du mich das ernsthaft?« Sie stapfte an ihm vorbei zum Wagen. »Wenn ich gewusst hätte, dass meine Mutter betrunken ist, hätte ich dich nicht gebeten, mit mir zum Flughafen zu kommen.«

»Ich hätte dich nicht allein fahren lassen.«

Sie hielt inne und drehte sich um. »Bist du jetzt sexistisch?«

»Nein, nur fürsorglich.« Er schloss zu ihr auf. »Du kennst diese Straßen nicht so, wie ich sie kenne. Ich komme hier schon mein ganzes Leben her – im Sommer wie im Winter. Und du bist daran gewöhnt, auf der falschen Straßenseite zu fahren.«

»Wo ich herkomme, ist es nicht die falsche Straßenseite. Und ich bin eine großartige Fahrerin.«

»Du bist eine großartige Fahrerin – außer in diesen Momenten, wenn du vergisst, auf welcher Straßenseite du fahren musst.«

»Das ist zweimal passiert, und beide Male habe ich gesehen, dass mir ein Wagen entgegengekommen ist, und rechtzeitig reagiert.«

»Und da habe ich mit dem Trinken angefangen.« Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich mache Witze. Du bist eine großartige Fahrerin, aber es ist ein weiter Weg, und zu zweit ist es immer leichter. Und jetzt musst du dich entspannen. Deine Mom hatte Angst vor dem Flug, deshalb hat sie etwas getrunken. Bewerte das nicht über.«

»Es geht nicht um das Trinken, sondern um all das, was sie gesagt hat. Meine Mutter hat praktisch zugegeben, dass sie ihr Leben hasst.«

»Menschen sagen nicht immer das, was sie meinen, wenn sie getrunken haben.«

»Und manchmal sagen sie genau das, was sie meinen.« Gab es etwas anderes, was ihre Mutter hätte tun wollen? »Meine Mutter hat den Job im Verlag gleich nach ihrem Abschluss angenommen und arbeitet seitdem dort. Ich nahm an, dass es das ist, was sie tun will. Ich meine, wenn jemand etwas macht, geht man davon aus, dass er das auch will, oder?«

»Mag sein, obwohl ich sicher bin, dass ein Großteil der Bevölkerung nicht in seinem Traumjob landet.«

Auf dem Weg zurück zum Wagen knirschte der Schnee unter ihren Füßen. Die Luft war bitterkalt und roch nach Kaminrauch und Pinien.

Sie spürte das Gewicht seines Arms auf ihren Schultern. »Wollte deine Mutter schon immer Hochzeitsplanerin werden?«

»Nein, aber rückblickend gab es schon immer Hinweise. Sie hat schon mit sechs ihre eigene Geburtstagsparty organisiert. Sie hatte sich ein Motto ausgesucht und die Einladungen selbst gestaltet.«

»Woher weißt du das?«

»Großtante Eunice hat es mir erzählt. Außerdem gibt es Fotos davon. Seitdem arrangiert meine Mutter Partys. Sie hat bei vier ihrer Freundinnen die Hochzeit organisiert.« Er bückte sich und hob einen Pinienzapfen auf. »Mit dem Umzug von Boston hierher und dem Aufbau des Hochzeitsplanungsgeschäfts wollte sie den Tod meines Vaters verarbeiten, doch es stellte sich heraus, dass sie nichts Besseres hätte machen können. Sie liebt diesen Ort, und sie liebt die Arbeit.«

»Verstehe.« Also lebte seine Mutter ihren Traum, während ihre Mutter … Sie runzelte die Stirn. Hatte ihre Mutter überhaupt Träume? »Meine Mutter war Einzelkind, und meine Großeltern starben vor meiner Geburt, deswegen habe ich solche Geschichten nie gehört. Urplötzlich habe ich das Gefühl, als kenne ich sie überhaupt nicht.«

»Natürlich kennst du sie. Du denkst vermutlich nur nicht oft darüber nach, das ist alles. Das tun wir nie, wenn es um unsere Eltern geht. Was macht sie in ihrer Freizeit?«

»Ich glaube, sie hatte nicht so viel Freizeit, als wir Kinder waren. Seit wir ausgezogen sind … Ich weiß es nicht. Unser Haus ist ziemlich alt und erfordert viel Arbeit und Pflege. Es ist immer irgendetwas kaputt, oder ein Raum muss renoviert werden. Das tut sie selbst. Sie ist gut in diesen Dingen. Und der Garten. Sie liebt den Garten.«

»Da hast du’s. Du weißt, wofür ihr Herz schlägt. Nicht jeder arbeitet in dem Bereich, den er liebt, aber das bedeutet nicht, dass er in seiner Freizeit nicht einer Leidenschaft nachgeht.« Er gab ihr den Pinienzapfen und öffnete die Wagentür.

Sie rührte sich nicht. »Was, wenn sie wirklich ihr ganzes Leben einen Job gemacht hat, den sie nicht liebt?«

»Dann war das ihre Entscheidung. Und bevor du die ganze Nacht wachliegst und dir Sorgen machst … Warum wartest du nicht ab, wie es ihr morgen geht? Es ist gut möglich, dass sie nichts davon so gemeint hat.«

»Warum glaubst du, dass ich die ganze Nacht wachliege?«

»Weil ich dich kenne.«

»Ja. Du hast recht. Wir kennen einander.« Sie atmete durch. »Und ich denke zu viel über die Dinge nach. Es tut mir leid, dass ich so angespannt bin, aber das ist das erste Mal, dass du jemanden von meiner Familie kennenlernst, und, vergib mir, mir wäre es lieber gewesen, wenn meine Mutter nicht betrunken wäre und nicht die ganze Zeit an meinem Vater herumgefummelt hätte. Das war alles ein bisschen erschreckend.«

Lachend zog er sie in die Arme. »Ich liebe deine Eltern. Und deine Mutter erinnert mich ein bisschen an dich.«

»Betrunken?«

»Offen. Freundlich.« Er küsste sie. »Vergiss es. Und mach dir keine Sorgen um deine Mom. Morgen früh wird es ihr wieder gut gehen.«