Jürgen Werth, geboren 1951, lebt mit seiner Frau in Wetzlar. Er ist Journalist, Liedermacher und Vorstandsvorsitzender von ERF Medien.
Der Flieger kannte keine Gnade. Pünktlich war er gestartet. Nun flog er stur und stetig Richtung Westen. Wir hatten einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Was hatten wir getan? Der Flieger war unterwegs in Richtung Dallas/Texas. Acht Wochen würden wir dort sein. Warum und wozu, war uns nicht mehr richtig klar.
Rückblende: In den Monaten zuvor war ich langsam, aber unaufhaltsam in ein Burn-out geschlittert, hatte über meine Kräfte gelebt und gearbeitet und war irgendwann in ein tiefes schwarzes Loch gefallen. Ausgebrannt – das war auf einmal mehr als nur eine interessant klingende Zustandsbeschreibung. Es war meine Situation. „Du musst jetzt einfach mal raus“, hatte mir Kurt Scherer geraten, der wie ich zur Leitung des ERF gehörte, des christlichen Radio- und Fernsenders, bei dem ich seit vielen Jahren in Lohn und Brot stand und dessen Gesamtleitung ich nach dieser Krise übernehmen sollte. Scherer war damals für unsere Seelsorgearbeit verantwortlich. „Ich kann nicht einfach mal raus“, hatte ich geantwortet, „da sind noch so viele Termine.“ Doch er war hart geblieben. „Wenn du jetzt keine Konsequenzen ziehst, dauert es umso länger, bis du wieder zu Kräften kommst.“ Gemeinsam hatten wir überlegt, was zu tun sei. Ein paar Wochen aussteigen, mal ganz woanders leben, Abstand gewinnen, nachdenken, reden und beten. „Ich will aber nicht alleine“, hatte ich zaghaft eingeworfen. „Dann nimm deine Frau mit“, hatte Kurt Scherer geantwortet. „Geht nicht“, hatte ich eingewandt, „wir haben drei Kinder.“ „Dann besorgt euch jemand, der sich in dieser Zeit um sie kümmert.“
Und so geschah es dann auch: Meine Mutter war zu uns nach Hause gekommen, um acht Wochen lang für unsere Kinder da zu sein. Zusammen hatten sie uns zum Flughafen gebracht. Umarmung, Küsschen, alles Gute. Der „Point of no Return“ war erreicht. Der Punkt, an dem man nicht mehr umkehren kann.
Und nun saßen wir im Flieger. Was hatten wir nur gemacht? Wir hatten Kinder, Freunde, Kollegen zurückgelassen, den Arbeitsplatz, die Wohnung und die Gemeinde. Vor uns lag eine ungewisse Zukunft. Im ERF hatte ich gesagt: „Bitte betet für mich. Ich weiß noch nicht, ob ich hierher zurückkomme.“ Freunde hatten uns geholfen, das Ziel unserer Expedition auszumachen: ein Jugendcamp in der Nähe von Dallas. Jetzt im Herbst würden dort keine Freizeiten sein, ein Trailer, ein Wohnwagen im wahrsten Sinne des Wortes, in dem sonst die Mitarbeiter des Camps wohnten, würde für die kommenden acht Wochen unsere Heimat sein. Freunde hatten uns mit ein paar Adressen versorgt, besonders mit einer. Hier erwarteten sie nachhaltige Hilfe für mich: bei einem Theologieprofessor, der lange Jahre selbst dieses Camp geleitet hatte.
Freunde braucht man dringend in solchen Zeiten. Ich hätte nicht genug Kraft gehabt, das alles selbst zu organisieren.
In Dallas kam es tatsächlich zu vielen guten und tiefen Gesprächen mit „meinem“ Theologieprofessor. Unter anderem empfahl er mir das Buch eines amerikanischen Psychologen. Keith Miller ist sein Name. Dieses Buch beschreibt das Zwölf-Punkte-Programm, das die anonymen Alkoholiker als Therapie benutzen. Ich bin damals bei Punkt 1 hängengeblieben. Denn der ist schon schwer genug. „Wir haben erkannt und bekennen, dass wir nichts unter Kontrolle haben, nicht einmal uns selbst.“
Vielleicht war das ja die tiefste Ursache für mein Burn-out: ständig zu meinen, ich müsste alles im Griff haben. Verantwortlich sein. Schließlich bin ich der Chef. Gott halte ich zuweilen für überbeschäftigt oder gar für überfordert. Ich bilde mir ein, ich wüsste am Ende doch besser, was gut ist für mich und für die anderen. „Lass mal, Gott, ich kümmere mich da lieber selbst drum.“ Die Folge ist ein Leben, das mich mehr strapaziert, als nötig wäre. Klar, ich betete. Aber ich behielt dabei die Fäden doch eher selbst in der Hand. Neue Mitarbeiter finden – das war schließlich mein Job. Mich von alten trennen, auch. Für die nötigen Spenden sorgen, mit denen wir unsere Medienarbeit finanzieren – dafür musste ich mir immer wieder neu etwas einfallen lassen. Gott konnte sicherlich helfen. Aber die Ideen musste wohl doch eher ich haben. Die Folge war der tägliche Kampf und Krampf. Die Folge waren schlaflose Nächte. Die Folge war dieses eigenartige Burn-out. Hatte ich nun einfach nur nachzusitzen, mühsam zu lernen, was ich bis dahin nicht gelernt hatte?
Ich liebe es „in control“ zu sein, Freund und Feind einschätzen zu können, Lösungen zu finden auf die tausendfachen Fragen des Lebens, anderen Menschen Steine aus dem Weg zu räumen. Ich weiß, dass das etwas mit meiner persönlichen Geschichte zu tun hat, auch mit den Verhaltensmustern, die ich in der Familie gelernt habe. Immer fühlte ich mich verantwortlich. Schließlich war ich der Erstgeborene. Und ein Einzelkind dazu, denn mein Bruder wagte sich erst in unsere Familie, als ich schon elf war. Immer war ich der Vermittler, wenn’s zischte und krachte zwischen meinen Eltern. Ich hatte den einen zu schützen und den anderen zu bändigen.
Ich weiß, dass sich das nicht so einfach ändern lässt. Ich weiß aber auch, dass dahinter oft mangelnder Glaube steckt und mangelndes Vertrauen. Mein Selbstvertrauen ist größer als mein Gottvertrauen. Das aber geht nur so lange gut, so lange es gut geht.
Und so beginnt jede Therapie mit Loslassen.
Bilder von sich selbst loslassen. Erwartungsdruck loslassen. Rollen loslassen. Verhaltensmuster loslassen. Menschen loslassen. Sie aus der Hand geben. Sie in die Hand Gottes geben. Sie ihm anvertrauen. Schließlich weiß er besser, was gut ist für sie. Und er kann zudem erheblich besser dafür sorgen, dass auch passiert, was er für gut befindet.
Und sonst? In Texas habe ich ein Buch des amerikanischen Arztes Frank Minirth gelesen, Leiter der Minirth-Meier-Klinik: „How to Beat Burn-out“. Er berichtet darin von einer seiner Patientinnen. Was hat sie getan? Antwort: „Ich habe erst akzeptiert, dass ich im Burn-out stecke. Dann habe ich angefangen, etwas dagegen zu tun.
Ich habe gelernt, dass ich mich um meine körperlichen Bedürfnisse kümmern muss. Ich habe mein geistliches Leben kultiviert. Ich habe Interessen außerhalb meines bisherigen Lebens entwickelt – und vielleicht das Wichtigste von allem: Ich habe gelernt, nicht zu hart zu mir selbst zu sein, mir selbst zu erlauben, gelegentlich Fehler zu machen, und mir selbst zu vergeben, wenn ich etwas falsch gemacht habe.“
Vor allem dieser Gedanke hat mich damals geradezu überfallen: barmherzig sein mit mir selbst. Wir Christen haben es gelernt, barmherzig zu anderen zu sein – mit uns selbst gehen wir häufig genug sehr unbarmherzig um. Wir Christen haben es gelernt, anderen zu vergeben – uns selbst vergeben wir sehr häufig nicht. Wenn ich mir Gottes Vergebung gefallen lasse, dann will, dann muss ich mir auch selbst vergeben. Wenn Gott meine Schuld nimmt und sie im Meer versenkt, dann darf ich sie nicht immer wieder herausfischen und mir vorhalten.
Und wenn sie wieder auftaucht? Wieder versenken! Immer wieder versenken! Vielleicht sogar einmal im Angesicht eines anderen Menschen. Denn es hinterlässt in der Regel einen viel nachhaltigeren Eindruck, wenn mir ein anderer Mensch im Namen von Jesus sagt: Dir sind deine Sünden vergeben.
Der Leiter eines großen Unternehmens hat einmal, nachdem er sein Burn-out durchgestanden hatte, ein paar wichtige Punkte zu Papier gebracht.
1. Erkenne, dass du nicht perfekt sein musst, um „Jemand“ zu sein. Du bist schon jemand in Christus, weil er das sagt.
2. Erkenne, dass du nicht perfekt sein musst, damit andere dich anerkennen.
3. Betrachte dein Leben aus der Ewigkeitsperspektive. Was wirst du mitnehmen?
4. Lerne dich mit Aktivitäten zu entspannen, die zu dir passen.
5. Entdecke den verborgenen Zorn in dir. Dann vergib anderen für ihren Anteil daran, und vergib dir selbst dafür, dass du diesen Zorn gehabt hast.
An diesem Fünf-Punkte-Programm arbeite ich seitdem. Halte mir die einzelnen Punkte immer wieder einmal vor Augen. Denn auch, wenn ich etwas noch so schnell gelernt habe – ich vergesse es noch viel schneller. Ich weiß ja: Die Gefahr, in ein erneutes Burn-out zu schlittern, ist seit der elementaren Erfahrung von damals nicht ein für alle Mal gebannt. Aber ich bin hellhöriger geworden. Höre auf meine Seele. Und auf meinen Körper. Und nehme ihre Warnsignale sensibler wahr. Getreu dem Satz: „Sagt die Seele zum Körper: Sprich du mal mit ihm. Vielleicht hört er auf dich.“
Gern würde ich wieder nach Texas fliegen. Aber ohne Burn-out.