„G’SCHWIND SELBST G’MACHT“

Schwester Inge Kimmerle

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Schwester Inge Kimmerle, geb. 1939, leitet seit drei Jahren das Trödelcafé im Zentrum der Berliner Stadtmission am Berliner Hauptbahnhof.

„Schalt doch einfach mal ab!“

Leichter gesagt als getan. Die Hektik des Alltags zu stoppen und einfach auszuschalten, das hörte sich verlockend an. Aber den „Schalter“ dafür fand ich nicht.

Ich war 14 Jahre als Gemeindediakonin mit religionspädagogischem Auftrag in einer traditionell landeskirchlich geprägten Innenstadtgemeinde tätig, als ich in eine „fette Krise“ rutschte. Wenn ich heute versuche, meinen damaligen Zustand in einem Bild auszudrücken, so sehe ich vor meinem inneren Auge ein entleertes, ausgebranntes Haus. Die Grundmauern stehen noch. Die Fassade ist sogar beeindruckend farbig bemalt, aber dahinter ist nichts mehr vorhanden. Ein Haus, immer noch in einem geordneten Garten stehend, aber eben leer. Das Leben als Diakonisse in dieser Aufgabe hatte mich anfangs beflügelt, begeistert. Jetzt war der Schwung einer großen Müdigkeit und Routine gewichen. Nur die Außenseite stimmte noch; ich trug schließlich die Diakonissentracht.

Wenn ich heute, zwanzig Jahre danach, auf diese Zeit zurückschaue und sie reflektiere, dann kann ich nur sagen: Danke, Vater im Himmel, für diesen Tiefpunkt. Er wurde zu einem wichtigen Wendepunkt in meinem Leben.

Schleichend in die Krise

Ich bleibe bei dem eingangs erwähnten Bild des Hauses und nehme es zur Verdeutlichung meiner damaligen Lebenssituation. In meinem Lebenshaus hatte sich zu viel „Müll“ angesammelt. Da war der Sog des Erfolgs, dann der immense Leistungsdruck: Ich baute Kinder- und Teenagerkreise auf, ich organisierte Gemeindeveranstaltungen, ich führte viele Seelsorgegespräche und gab Religionsunterricht. Dazu kam ein Junge-Erwachsenen-Kreis, der mich besonders forderte. Für die etwa sechzig Personen, meist Studierende, mussten erst noch Räume geschaffen und eingerichtet werden. Dafür wie überhaupt für alles und jedes meinte ich Verantwortung übernehmen zu sollen. Anstatt zu delegieren, machte ich die Dinge lieber „g’schwind selbst“. Es mag verrückt klingen, aber wenn ich ahnte, dass die Sonntagspredigt schwach ausfallen würde, versuchte ich die fehlende Leistung des Pfarrers durch einen besonders üppigen Blumenschmuck auszugleichen.

Vor allem aber hatten sich in meinem Lebenshaus nach und nach falsche Antreiber einquartiert, die sich zu gefährlichen Fallen entwickelten.

Antreiber 1 brachte mich in die Stressfalle: Es war der stets überbordende Terminkalender im Zusammenwirken mit einer zu großen Portion Ehrgeiz.

Antreiber 2 schickte mich in die Gefälligkeitsfalle: Es war der Kernsatz, den ich nach und nach verinnerlicht hatte: Du musst es immer allen – den Frommen wie den „Randsiedlern“ – recht machen! Das dahinter sich versteckende Motiv (Dann bekommst du Anerkennung!) verdrängte ich.

Durch Antreiber 3 landete ich in der Perfektionsfalle: Als eine Person mit dem „Sahnehäubchen“ (der Schwesternhaube) darfst du keine Fehler machen. Hinzu kam, dass ich mich grenzenlos verausgabte und meine eigenen Bedürfnisse ignorierte, also immer mehr bei den Bedürfnissen anderer Menschen war als bei mir selbst. Freiräume, um auf die Bedürfnisse meines Körpers und meiner Seele zu achten, gestand ich mir nicht zu.

Antreiber 4 lockte mich in die emotionale Falle: Negative Gefühle wie Ärger, Ängste, Frust, Enttäuschungen, peinliche Erinnerungen und so weiter – für all das ist im Leben einer Christin kein Raum. Also drückte ich sie einfach weg oder kompensierte sie. Aufkeimende Konflikte wurden gleich unter den Teppich gekehrt.

Lange Zeit hatten der Dienst und das Leben so richtig Freude gemacht. Es war ja so viel Segen und Lebensqualität darin, und ich durfte erleben, dass sehr viele junge und ältere Menschen sich auf ein Leben mit Jesus Christus einließen. Aber zwischen dem, was ich im Kopf über Gott und ein von seiner Liebe geprägtes Leben wusste, was ich an theoretischem Bibel- und Bücherwissen abgespeichert, auch mit Begeisterung aufgenommen und, wie ich meinte, umgesetzt hatte, und dem was ich praktisch lebte, tat sich ein Abgrund auf.

Im Blick auf diese meist fromm daherkommenden Antreiber in meinem Lebenshaus hatte ich einen blinden Fleck, und um ihn zu entlarven, war ich viel zu beschäftigt. Aber welch ein Glück: Der Gott, dem ich mit Leidenschaft dienen wollte, er war ja da und machte mich Stück um Stück ganz zart und behutsam durch seinen Heiligen Geist sehend für die ungebetenen Hausbesetzer und die eigenen Abgründe. Ich hatte die wichtigste Quelle der Energie, der Erfrischung und Lebensfreude, meine persönliche Gottesbeziehung, vernachlässigt. Etwas überspitzt ausgedrückt: Mein Haus war voll, und den Heiligen Geist hatte ich in die Obdachlosigkeit geschickt.

Ein Blick zurück

In meiner Verkündigung stand Jesus Christus immer an zentraler Stelle. Ich durfte in meinem bisherigen Leben dreimal am Aufbau von Jugend- und Gemeindearbeit beteiligt sein. In Köln, im Bezirk Geislingen und schließlich in Freiburg. Weil Gott treu und zuverlässig ist, war mein Leben immer voller Dynamik, ja geradezu abenteuerlich.

Dennoch war mein Gottesbild irgendwie in Schieflage geraten. Gott war, was ich später erst verstand, in dieser Phase der Krise, als ich den Boden unter den Füßen verlor, für mich wie ein kontrollierender Vorgesetzter, der distanziert, aber mit wachem Blick an seinem Schreibtisch sitzt. Wenn ich funktioniere, aktiv bei der Sache bin, schmunzelt er mir zu und signalisiert mir sozusagen mit hochgezogenen Augenbrauen Zustimmung; ist also zufrieden. Wenn ich aber seine Interessen nicht gewissenhaft vertrete, sündige, keine Stille Zeit mache, zu wenig bete, mich unangemessen verhalte, dann steht er auf, wendet sich ab, kehrt mir den Rücken zu und straft mich mit Liebesentzug – so lange, bis ich wieder auf dem richtigen Pfad bin. Man kann sich vorstellen, dass man bei so einem Gottesbild Probleme mit der Echtheit hat. Fehler und Schwächen werden kaschiert, Sünde muss bagatellisiert werden, als Versager fühlte ich mich dennoch – diese Sicht trennte mich von Gott. Für die korrigierenden Impulse seines Geistes war kein Raum; alles, was ich fühlte, war Erwartungsdruck. Die Krise war unausweichlich.

Rutschbahn – und Landung in der völligen Erschöpfung

Eines Tages bin ich voller Wut, Erschöpfung, Traurigkeit, Zweifel, Selbstanklage. Außerdem leide ich an Kopfschmerzen und Heiserkeit, und so lande ich schließlich bei meinem Hausarzt. „So, jetzt sind Sie selbst mal dran“, ist sein kurzer Kommentar. Ich wehre mich nur kurz und sehe dann ein, dass er recht hat. Mit einer Krankschreibung für zwei Wochen stehe ich wieder in meiner Wohnung. Mein Schreibtisch grinst mich an: Vierzehn Tage krank, das geht doch gar nicht!

Das habe ich nun davon, nach 25 Jahren Dienst für Gott und die Menschen, denke ich. Nirgendwo sehe ich einen Haltegriff, ich rutsche immer tiefer in einen Zustand der Verzweiflung. Alle Grenzen werden fließend. Das Fundament wankt. Ich fühle mich wie ein Mensch, der seine Wohnung leer räumt, weil er einen neuen Teppichboden legen will. Als die Möbel ausgeräumt sind und er den alten Teppichboden zusammenrollt, stellt er mit Schrecken fest: Da sind ja gar keine Dielen drunter. Es gibt keinen festen Boden!

Sätze purzeln in meinem Kopf durcheinander: Was ist bei dir denn eigentlich Eigenes, was ist Übernommenes oder einfach nur Nachgeplappertes? Was ist überhaupt deine Identität, dein Wert? Bist du nicht nur dann etwas wert und wirst du nicht nur dann geliebt, wenn du ordentlich Leistung bringst?

Tagelang sitze ich weinend, manchmal auch schmollend und mit Gott schimpfend da und schiebe mehr oder weniger bewusst die Verantwortung für meinen Zustand auf Gott ab. Und was tut er? Er zieht sich nicht zurück. Er ist da, hält mein Geschimpfe und Geplärre aus und kommt mir entgegen – ohne Anklage, ohne Forderung, ohne Zurechtweisung. Mit wohltuend zarter Zuwendung kommt er zu mir; und so ganz nebenbei werde ich sehend, weichen die blinden Flecken. Und dann weiß ich ganz sicher: Gott, der Vater, sucht nicht meine Leistungen, meine Überstunden – nein, er sucht mein Herz.

Mein Lebenshaus wird saniert

Mit Haut und Haaren, vom großen Zeh bis zur letzten Haarspitze – geliebt. Das Leben unter seiner Regie nicht mehr nur Pflicht und Anstrengung, sondern wieder Lust und Leidenschaft. Dieser Veränderungsprozess kam dadurch in Gang, dass ich mit meinen Zweifeln und meiner Verzweiflung und all der Erschöpfung an einem denkwürdigen Vormittag in Gottes spürbare Gegenwart gestellt wurde. Nicht nur ein paar Tropfen seiner Liebe spürte ich, es war wie ein Vollbad oder wie ein wärmender Mantel, der mich umhüllte. Gottes Liebe, das war mir jetzt sonnenklar, ist absolut unabhängig von meinem Verhalten. Sie berührte mich so stark, dass ich eine Kraft wie einen ermutigenden Schub in den weiten Raum von Gottes Gegenwart empfand. Ich hatte plötzlich eine neue Lebensperspektive. Der Satz: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“, wurde zur Gewissheit. Er richtete mich auf und hatte heilende Wirkung.

Was war hilfreich?

Die Vaterliebe Gottes und der Heilige Geist bekamen einen neuen Stellenwert in meinem Leben. Liebevolle Mitschwestern und Freunde waren hilfreich, auch das Buch von Henry Nouwen „Nimm sein Bild in dein Herz“. Dazu machte mir die Badische Landeskirche ein Geschenk und finanzierte mir die Anfangskurse einer Seelsorgeausbildung. Die Krise wurde in meinem Leben ein Werk der zurechtbringenden und wiederherstellenden Liebe Gottes und mein Weg in die Freiheit, in die Wahrhaftigkeit – letztlich ein Durchgang zu lebendigerem und authentischem Leben. Und sie beinhaltete und eröffnete den Weg in eine neue Berufung: die Gründung eines Ladenprojekts in Freiburg mit dem Namen „S’einlädele“.

Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als eben dieser Tiefpunkt vorausging und eine Diakonisse ja über kein Eigenkapital verfügt. Aber Gott hatte wohl vor, mir eine ganz neue Seite seines Wesens zu zeigen, nämlich seine verschwenderische Großzügigkeit. Nachdem ich nur noch Trümmer gesehen hatte, durfte ich nun eine ganz neue Sicht auf mein Leben gewinnen. Jeder Tag bot ein neues Lernfeld: Um dieses Projekt zu realisieren, musste ich meine Zeit gut strukturieren, aber ohne meine eigenen Bedürfnisse zu überfahren. Was bedeutet mir Erholung und Entspannung? Das musste ich erst einmal erkennen und dann kultivieren. Ich spürte, dass ich zu einem ganz neuen Selbstwertgefühl gefunden hatte: Was immer ist oder nicht ist, Gottes Liebe zu mir steht und ist das Größte.

18 Jahre leitete ich das Ladenprojekt, zu dem nicht nur Verkauf, sondern auch Seelsorge und die Unterstützung einer Arbeit in Kiew gehörten. Als ich siebzig wurde, konnte ich die Arbeit in die Verantwortung der Freiburger Stadtmission übergeben. Seit der Krise kann ich alles, was ich tue, ob am Sonntag oder am Werktag, als Gottesdienst verstehen (Römer12,1). Tun oder Lassen sind für mich nicht mehr so zentral, wesentlich geworden ist mir das Sein. Diese Haltung zu leben, habe ich nun noch einmal an einem neuen Ort die Gelegenheit: bei der Berliner Stadtmission, die sich an vielen sozialen Brennpunkten der Hauptstadt engagiert. Seit drei Jahren arbeite ich an einem besonderen Ort, diesmal in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs, sozusagen zwischen Knast und Kanzleramt. Das Café, das ich mit aufgebaut habe, heißt „inneHalt“, und auch hier gehören neben einem Lädchen mit schönen Dingen Gespräche und Seelsorge zum Angebot.

Manchmal spüre ich noch die Antreiber, an die ich zu viele Rechte abgegeben hatte und die mich damals in die Krise geführt haben. Aber sie sind entmachtet und dürfen höchstens mal in einer Nebenrolle auftreten. Es gelingt mir trotz eines bewegten Alltags und einer nur geringen Zahl an Mitarbeitern, Zeiten des Rückzugs und Freiräume für die eigene Seele zu schaffen. Das kulturelle Angebot der Stadt hilft mir, ohne schlechtes Gewissen zu genießen und von der Arbeit abzuschalten.

So hat mich die Krise in eine an Christus und seine Liebe gebundene Freiheit geführt, die wohltuend, aber nicht unverbindlich ist. Ich stelle mich gerne der täglichen Herausforderung, diese Liebe in meinen bunten Alltag zu integrieren und weiterfließen zu lassen.