BORE-OUT – AUCH UNTERFORDERUNG IST STRESS

Ulrich Giesekus

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Prof. Dr. Ulrich Giesekus, geboren 1957, ist Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie und Counseling an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL). Er ist außerdem Leiter von BeratungenPlus, einem Beraternetzwerk in Freudenstadt (www.beratungenplus.de), und führt eine Praxis als klinischer Psychologe.

Stress macht krank, unglücklich, leistungsschwach und aggressiv. Da sind sich alle einig. Neu ist die Erkenntnis, dass auch Langeweile und Unterforderung einen Menschen so stressen können, dass er krank wird. Bore-out nennt man dieses Phänomen, das die meisten Symptome mit dem Burn-out teilt. Aber wer möchte schon gern zugeben, dass es schrecklich anstrengend ist, immer so zu tun, als wäre man vollauf beschäftigt?

Die Herausforderungen, denen wir ausgesetzt sind, können eine Stressreaktion erzeugen, müssen es aber nicht. Ein Mangel an sinnvollen Herausforderungen dagegen ist auf Dauer immer Stress. Das Rezept „Weniger ist mehr“ gilt wahrscheinlich nur für eine Minderheit der stressgeplagten Menschen. Für viele gilt vielmehr: Zu wenig ist auch zu viel. Stress entsteht durch Überforderung wie durch Unterforderung, und ob eine Herausforderung über- oder unterfordert, hängt von vielen Faktoren ab. Stressoren können Eustress (positive Energie, Kreativität, Konzentration, Flow-Erfahrungen usw.) oder Disstress auslösen (das, was man landläufig Stress nennt). Ein Beispiel für Eustress gibt Martin Luther: „Denn wenn ich gut schreiben, beten und predigen will, dann muss ich zornig sein; da erfrischt sich mein ganz Geblüt, mein Verstand wird geschärft, und alle Anfechtungen weichen.“

Der gestresste Pförtner

Für das Thema Beruf und Stress gibt es Zahlen der Berufsgenossenschaften und Krankenkassen. Und die halten eine große Überraschung bereit: Die Berufstätigen mit der höchsten Gefährdung für stressbedingte Erkrankung sind nicht etwa Lehrerinnen, Manager, Rechtsanwältinnen oder Mediziner. Die kommen zwar auch viel zu häufig vor, aber auf Platz Eins findet sich der Beruf des – Pförtners! Gefolgt von Hausmeister, Reinigungskraft und Altenpfleger. Pförtner? Was ist denn daran stressig?

Der stressigste Beruf ist wahrscheinlich in Wirklichkeit, langzeitarbeitslos zu sein. Diese Tätigkeit kommt aber in den Statistiken der Berufsgenossenschaften nicht vor. Doch stressbedingte Suchtstörungen und Depressionen gehören bei Langzeitarbeitslosen zu den häufigsten Erkrankungen.

Beim zweiten Hinsehen versteht man den Pförtner. Und den ausgebrannten Langzeitarbeitslosen. Was aus Stressoren Stress macht, ist nämlich nicht in erster Linie die Quantität, sondern die Qualität der Arbeit. Vier Faktoren sorgen dafür, dass Druck einen Menschen beflügelt:

Beantworten Sie diese Fragen einmal für den Hochrisikoberuf Pförtner oder Arbeitsloser: Welche Begabungen werden gefördert? Wie kann man diese Tätigkeit kreativ gestalten? Wie erlebt ein Arbeitsloser die Wichtigkeit des eigenen Tuns? Welche Beziehungen bieten sich an, wenn man als Pförtner nicht mehr als ein menschlicher Toröffner ist, und außerhalb, wenn man am Stammtisch mit beruflichen Erfahrungen prahlt, oder in der Familie, wenn die Kinder erzählen, dass sie sich für den Beruf bzw. die Arbeitslosigkeit des Vaters schämen, wenn in der Schule die Sprache darauf kommt?

Chris

Dass „weniger arbeiten“ für die meisten Menschen nicht das Patentrezept ist, mit dem sie ihren Stress abbauen, bzw. dass „weniger arbeiten“ eben nicht gelingt, illustriert das folgende Beispiel: Chris ist 37, seit 15 Jahren verheiratet, er hat zwei Kinder von 10 und 12 Jahren. Chris ist ein warmherziger, kontaktfreudiger Mann, hilft gerne und ist bei Nachbarn, Freunden und in der Kirchengemeinde für seine freundliche Art bekannt. Nach dem Abschluss der mittleren Reife hatten seine Eltern sich für ihn einen „soliden und sicheren“ Beruf gewünscht und ihn deshalb in eine Ausbildung in der Finanzverwaltung gedrängt. So wurde Chris Beamter in der mittleren Laufbahn und arbeitet nun beim Finanzamt. Diese Tätigkeit langweilt ihn, und eigentlich interessiert ihn der ganze Job nicht. Sein Schreibtisch und der Computerbildschirm widern ihn zunehmend an. Immer häufiger muss er sich überwinden, am Morgen überhaupt zur Arbeit zu gehen. Chris schläft schlecht, wird depressiv, hat Mühe, sich zu konzentrieren, und schließlich gesteht er sich ein: Er hasst seinen Beruf! Aber Chris steckt in der Falle: Er muss die Familie versorgen. Aussteigen und etwas Neues anfangen? Fehlanzeige. Mit knapp vierzig hat er ohnehin keine Chance, auf dem Arbeitsmarkt von vorn zu beginnen.

Als seine Frau wieder eine Teilzeittätigkeit in ihrem Beruf aufnimmt, ist Chris glücklich, dass er nun seine Stelle um 25 Prozent reduzieren kann. Doch die erwartete Erleichterung ist nur von kurzer Dauer, denn die wenigen interessanten Steuerprüfungen, die vorher noch ein wenig Abwechslung boten, machen nun die Vollzeitkollegen. Seine Tätigkeit besteht nur noch aus Routineaufgaben und ödet ihn noch mehr an.

Chris entschließt sich, zu einer Beratung zu gehen. Dort wird ihm klar, dass er zwar einerseits über-, gleichzeitig aber unterfordert ist. Er kann seine Begabungen nicht entfalten, und die Tätigkeit passt nicht zu seiner Persönlichkeit. Um seine beruflichen Kompetenzen in einem Bereich zu nutzen, der seinen Interessen eher entspricht, beginnt Chris ehrenamtlich, bei einer Schuldnerberatungsstelle zu helfen. Zum ersten Mal kommt er aus seiner anonymen Verwaltungsarbeit heraus und macht die Erfahrung, dass er mit seinen Finanz- und Steuerkompetenzen Menschen in Not konkret und schnell helfen kann. Nach einiger Zeit beginnt auch sein Beruf wieder sinnvoll zu werden – immer häufiger kommt es nämlich vor, dass er bei der Arbeit wichtige Informationen für seine ehrenamtliche Tätigkeit sammeln kann. Inzwischen hat er wieder auf hundert Prozent aufgestockt und arbeitet, wenn man das Ehrenamt dazurechnet, deutlich mehr als früher. Aber Chris ist weniger gestresst. In der Schuldnerberatung entfaltet er seine zwischenmenschliche Begabung. Er kann selbst steuern, wann er was wie macht. Er erlebt, dass seine Arbeit sinnvoll ist. Er entwickelt Beziehungen, hat interessante Begegnungen und genießt die anregende Kommunikation.

Die ehrenamtliche Tätigkeit entpuppt sich als eine Art Katalysator, die ihm hilft, seinen Beruf immer mehr als Berufung zu erleben.

Tunnelblick

Wie Chris geht es der Mehrheit der Menschen, die am Bore-out „entlangschrammen“ oder längst daran erkrankt sind. Die Quantität ist gar nicht das Problem – die Arbeit müsste nicht mehr oder weniger, sondern anders sein.

Je stärker die Stressreaktion, desto enger wird der Blickwinkel: Ein Symptom sowohl des beginnenden Burn-out als auch des beginnenden Bore-out ist, das man sich zunehmend ausgeliefert fühlt. Die subjektiv erlebten Möglichkeiten, das eigene Leben zu steuern, werden immer geringer. Das Gefühl, ein fast bedeutungsloses Rädchen im Getriebe zu sein, lähmt die Kreativität.

Mir liegt es fern, angesichts der schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und des wachsenden wirtschaftlichen Drucks, dem sich viele Unternehmen ausgesetzt sehen, eine einfache Lösung vorzuschlagen. Doch der Teufelskreis sieht leider so aus: Bore-out durch ständige Unterforderung verursacht einen Tunnelblick und lähmt die Kreativität. Das führt zu erlebter Hilflosigkeit, zu einseitigen Lösungsversuchen, zu Resignation, zu seelischen Störungen. Diese Einengung der Wahrnehmung führt zu mehr Stress, mehr Stress führt zu Depression. In anderen Worten: Wenn das Leben nur noch nervt, kann der Kopf schlecht Visionen entwickeln. Das macht das Leben noch nerviger. Was hilft?

Eigene Begabungen entfalten

Um aus dieser Schleife herauszukommen oder besser: um gar nicht erst hineinzugeraten, ist ein gutes Gespür für die eigenen Begabungen, Stärken und Schwächen unerlässlich. Was tue ich gerne? Wovor graut mir? Was fällt mir leicht? Was kostet viel Kraft?

So einfach es klingt – es ist gar nicht selbstverständlich, dass Menschen ein gutes Gefühl für ihre eigenen Stärken, Neigungen und Begabungen haben. Oft gibt es ein Aha-Erlebnis, wenn man eine Zeit lang ein tägliches Journal führt und systematisch beobachtet, was heute Freude gemacht hat und wo man sich überwinden musste. Manchmal sind alte Zuschreibungen („Du kannst kein Mathe“) sehr zäh und versperren Wege, die gut zu gehen wären. Manchmal gibt es auch die unbewusste Einstellung: Nur was mühsam ist, ist richtige Arbeit. Also hat man Schuldgefühle, wenn man für etwas bezahlt wird, was einem Spaß macht … Die Liste ließe sich verlängern.

Testverfahren zur Beschreibung von Stärken und Schwächen können helfen, sich selbst besser kennenzulernen. Natürlich auch professionelle Beratung, Supervision oder Coaching – am besten nicht erst dann, wenn es nicht mehr anders geht.

Das Steuer selbst in die Hand nehmen

Es gibt sie, die unglücklichen Menschen, die ein Zahnrädchen im Getriebe sind und tatsächlich nichts bis wenig verändern können. Die meisten, die ihr Leben nicht selbst leben, sondern sich fremdgesteuert leben lassen, tun das aber aus Angst. Angst vor Fehlern aufgrund von Perfektionismus oder weil sie gelernt haben, andere machen zu lassen. Sie gehen auf Nummer sicher, weil sie unsicher sind, oder haben ihr kreatives Potential nicht entfaltet, weil sie dabei nie gefördert wurden. Es sind also die inneren Einstellungen, die aus Herausforderungen schnell eine Überforderung machen. Wer keine Fehler riskiert, wird jeder neuen Situation mit Ängsten begegnen. Von Henry Ford wird berichtet, dass man ihn gefragt habe, wie man ein so erfolgreicher Unternehmer würde. Seine Antwort: „Verdoppeln Sie Ihre Fehlerquote!“ – Ob Martin Luther mit seinem „Pecca fortiter!“ („Sündige tapfer!“) etwas Ähnliches gemeint hat, nämlich, dass durch das Evangelium befreite Menschen lieber die Gefahr eingehen sollten, etwas Falsches zu tun als gar nichts?

Selbststeuerungsmöglichkeiten zu entdecken, heißt, einen eigenen Weg zu finden und nicht immer den ausgetretenen Trampelpfaden zu folgen.

Sinn finden

Ein Stressor, der bei sinnvollen Aufgaben unvermeidlich ist, wirkt viel weniger stressig als ein sinnloser, nerviger Reiz. Vergleichen Sie den inneren Stress, der sich bei Ihnen entwickelt, wenn

a) nachts um zwei aus der Garage des Nachbarn lautes Rrrrennn-ten-ten-ten-ten erschallt, weil der 15-jährige Sohn die Umwelt wissen lässt, dass er ein neues Mofa besitzt, mit dem Stress, den Sie innerlich erleben, wenn Sie

b) nachts um zwei Ihr fieberkrankes, weinendes Kind durch die Wohnung tragen, um es zu beruhigen.

Wobei geht Ihr Puls höher? Wenn der Frust sinnvoll ist, halten wir ihn viel besser aus. Die Hochspannung, wenn das Ergebnis eines wichtigen Projektes kurz bevorsteht, ist nun mal besser auszuhalten als das gelangweilte Stehen in einer Warteschlange im Arbeits- oder Sozialamt. Was sinnvoll ist, macht zufrieden. Allerdings streben sehr viele Menschen nicht nach Zielen, die sinnvoll sind, sondern reiben sich für Ziele auf, die – so zeigt die Forschung – nicht zufrieden und glücklich machen. Und, ganz überraschend: Das, was wir uns am häufigsten wünschen, macht auch nicht zufrieden: Gesundheit. Studien mit an Krebs, Rheuma, Aids oder Diabetes schwer erkrankten Menschen zeigen, dass diese Menschen mit ihrer Krankheit ein ebenso zufriedenes Leben führen wie andere. Manche zeigen sogar eine höhere Lebenszufriedenheit – allerdings nicht, weil sie krank sind, sondern weil die Krankheit sie dazu gebracht hat, einige der Dinge zu tun, die wirklich zufrieden machen: anderen helfen, freundschaftliche Kontakte pflegen, in funktionierende Liebesbeziehungen investieren, Dinge tun, die man gut kann. Und vor allem: innere Einstellungen wie Dankbarkeit, Optimismus und Vergebungsbereitschaft entwickeln. Wer nach diesen Zielen strebt, erreicht sie meistens. Es gibt sogar Arbeitslose, denen es gelingt. Was nicht heißt, dass Besitz, Gesundheit oder Bildung nicht auch erstrebenswert wären. Aber sie sollten eher Nebenprodukte des Strebens nach sinnvoller Aktivität, guten Beziehungen und einem „Herz am rechten Fleck“ sein.

Dem Körper Gutes tun

Neben den bereits genannten seelischen Aspekten der Stressbewältigung spielt der Körper eine wichtige Rolle. Ein ungesunder Schlafrhythmus (z. B. „bis in die Puppen“ vor dem Fernseher sitzen und dann in den Morgen hinein schlafen), falsche Ernährung, Bewegungsmangel und fehlende Entspannung sind die Faktoren, die aus Stress Krankheiten machen. Dabei muss man wahrlich kein Gesundheitsfanatiker, Rohköstler, Sportler oder Meditationsmeister sein, um wirksam vorzubeugen. Im Gegenteil: Wer es übertreibt – egal was –, lebt kürzer. In der Regel reicht es aus, wenn man genussvoll und vielseitig isst, dreimal in der Woche den Puls ein halbe Stunde lang auf 130 bringt, den regelmäßigen kurzen Mittagsschlaf oder gute Pausengewohnheiten pflegt – und den Ausschaltknopf des Fernsehers vor Mitternacht findet.

Fazit: Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung sind wahrscheinlich die anstrengendsten „Berufe“, die es gibt. Betroffene brauchen oft Hilfe. Ein bisschen Mitleid oder eine ebenfalls unterfordernde ehrenamtliche Aufgabe helfen nicht. Hoffnung entwickeln, Visionen entfalten, Begabungen fördern, Sinnvolles tun, einen Rhythmus von Arbeit und Entspannung finden, dazu Strukturen für Nähe und Distanz in Beziehungen – das sind Faktoren des Glücks, die für unterforderte Menschen möglich, aber extrem schwierig zu verwirklichen sind.